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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.08.2001

Ach, wäre das mit dem Geist doch so einfach wie mit dem Rest
Jede Menge ungelöster Probleme: John Searle betreibt die große Theorie der Bewußtseinsphilosophie und baut Brücken vom Sessel aus

John Searle, Jahrgang 1932 und Professor an der University of California, Berkeley, gehört zu den bekanntesten zeitgenössischen Philosophen. Es ist das traditionelle Recht solcher Personen, an der Schwelle zum höheren Alter Welterklärungen zu entwerfen. Entsprechend will Searle in dem vorliegenden, knapp zweihundert Seiten umfassenden Büchlein ergründen, "wie gewisse wesentliche Teile des Geistes, der Sprache und der gesellschaftlichen Wirklichkeit funktionieren und ein kohärentes Ganzes bilden".

Um dies leisten zu können, muß Searle selbstverständlich gegen jede Art von Skeptizismus, Relativismus und Konstruktivismus, wie sie derzeit hoch gehandelt werden, die folgende Grundanschauung vertreten: "Wir leben in einer Welt, und diese Welt ist - innerhalb der Beschränkungen unserer evolutionären Ausstattung - verständlich." Entsprechend glaubt er an eine allgemeingültige Rationalität und an eine bewußtseinsunabhängige Welt, die objektiv erkennbar ist. Alle Einwände seitens der Wahrnehmungspsychologie und Neurobiologie gegen einen strikten Erkenntnisrealismus läßt der Philosoph nicht gelten. Wir werden hören, aus welchem tieferen Grund er dies tut.

Zwei Drittel seines Buches widmet Searle dem Problem des Geistes und des Bewußtseins. Dies muß überraschen, denn angesichts der Flut von philosophischen Büchern in den letzten Jahren zu diesem Thema - insbesondere zur Beziehung zwischen Geist beziehungsweise Bewußtsein und Gehirn - kann man kaum glauben, daß hier noch etwas grundsätzlich Neues gesagt werden könnte. Das ist bei Searle auch nicht der Fall. Er geht - wie inzwischen viele Philosophen - davon aus, daß Bewußtsein ein biologisches Phänomen ist, von Hirnprozessen verursacht (wie dies geschieht - darüber wird nichts gesagt), aber doch gleichzeitig ein ganz besonderes biologisches Phänomen, das nicht auf die ihm zugrunde liegenden physikalisch­physiologischen Prozesse reduziert werden kann. Diese keineswegs neuartige Anschauung würde man eigentlich "Emergenz-Philosophie" nennen, sie wird aber von Searle nicht so bezeichnet.

Grund für das Besondere am Bewußtsein ist nach Searle die (nicht neurobiologisch reduzierbare) "Erste-Person-Perspektive", seine Subjektivität - im Gegensatz zur "Dritte-Person-Perspektive" und zur Objektivität der Hirnvorgänge. Hieraus erwächst die wichtigste Eigenschaft des Bewußtseins, nämlich seine Intentionalität: Geist und Bewußtseinszustände repräsentieren Dinge und Sachverhalte in der Welt; sie sind als Aussagen, Aufforderungen, Absichten, Wünsche und so weiter mit "Erfüllungsbedingungen" (wie Searle es nennt) verbunden. Diese Intentionalität des Geistes wird zur Grundlage von Gesellschaft und Sprache. Damit ist klar, warum ein solcher Standpunkt einen ontologischen und erkenntnistheoretischen Realismus voraussetzt.

Im folgenden handelt Searle relativ ausführlich die Eigenschaften des Bewußtseins und seiner Intentionalität ab. Dies geschieht, in traditioneller philosophischer Art, meist weitab von der aktuellen Erforschung von Bewußtseinszuständen und ihren neuronalen Grundlagen. Merkwürdig wird es, wenn Searle ausführt, es gebe neben der für physiologische Gehirnzustände charakteristischen kausalen Verursachung auch eine intentionale Verursachung durch Wünsche, Absichten und Willensakte, die direkt auf unser Verhalten einwirken. Da dies nun sehr nach einem - von Searle verabscheuten - Geist-Gehirn-Dualismus aussieht, beeilt sich der Autor festzustellen, hier liege ein "ungelöstes Problem" vor, das insbesondere beim Phänomen der "Willensfreiheit" manifest werde. Eine solche Feststellung bringt uns allerdings beim Geist-Gehirn-Problem im Vergleich mit den von Searle heftig kritisierten Philosophen-Kollegen keinen Schritt weiter. Erforderlich wäre es, sich als Philosoph mit kritischem Blick auf die Ergebnisse der empirischen Bewußtseinsforschung einzulassen, zum Beispiel in Hinblick auf das in diesem Zusammenhang außerordentlich wichtige Verhältnis von Bewußtseinszuständen zu den vielfältigen Zuständen des Unbewußten. Die Freudsche Theorie des Unbewußten wird von Searle in einem Satz als irrelevant abgetan, die experimentelle Forschung der letzten Jahre zu diesem Thema nicht erwähnt.

Die Brücke zur Gesellschaft und zur Sprache schlägt Searle mit dem Gedanken, aus der grundlegenden Intentionalität von Bewußtseinszuständen erwachse das, was er "kollektive Intentionalität" nennt, nämlich der Umstand, daß Menschen wechselseitige Überzeugungen haben. Diese kollektive Intentionalität mündet in "Funktionszuweisungen" an Gegenstände und Sachverhalte der Welt, die dadurch "Statusfunktionen" erhalten. Searle diskutiert dies anhand des Phänomens "Geld": Geld ist ein Symbol für komplexe gesellschaftliche Operationen. Gesellschaft ist die wiederholte kollektive Zuweisung von Statusfunktionen; dadurch wird sie zu einer objektiven, realen, bewußtseinsunabhängigen Institution, auch wenn sie aus der grundlegenden Intentionalität des subjektiven Bewußtseins erwächst (man fühlt sich hierbei stark an Luhmann erinnert).

Bei der Erklärung von Sprache geht Searle von der von J. L. Austin entwickelten Theorie der Sprechakte, genauer der "illokutionären Akte", aus. Diese Sprechakte wie Befehlen, Behaupten, Warnen, Versprechen sind die kleinsten sprachlichen Verständigungseinheiten und unterscheiden sich durch ihre Wirkungen auf die Kommunikationspartner. Die Bedeutung von Wörtern und Sätzen ist zwar durch Konventionen der Sprachgemeinschaft festgelegt, letztlich resultiert sie aber für Searle aus der Intentionalität von Denken und Bewußtsein. Das Sprechen als Geräuschproduktion schafft die Bedingungen, unter denen die Intentionalität geistiger Akte erfüllt werden kann (es ist - in einer etwas eigenartigen Formulierung - "die Erfüllungsbedingung für die Erfüllungsbedingungen" -, nämlich intentionaler Zustände). Verstehen heißt deshalb für Searle, die Absichten anderer zu erkennen.

Man mag daran zweifeln, daß die hier entwickelte Theorie der Gesellschaft und der Sprache irgend etwas Neues oder zumindest Erhellendes bringt. Sie wird auf nicht einmal sechzig Seiten in großer Ferne von der schier unfaßbaren Fülle vorhandener Theorien über Gesellschaft, Ökonomie und Sprache entwickelt (auch wenn der Autor berichtet, er habe hierzu viele Bücher gelesen). Was in den Kognitions- und Neurowissenschaften zu Sprache, Kommunikation und Verstehen erforscht wurde, ist kaum vereinbar mit den von Searle vertretenen Ansichten. Diese sind zutiefst geprägt von dem Grundgedanken, alles, was wir denken und tun, sei eine Anpassung an reale, objektive Verhältnisse. Die Einsicht, daß jedes Individuum in seiner je eigenen Erlebnis- und Rechtfertigungswelt lebt und daß Verstehen deshalb als eine besonders schwierige soziale Leistung angesehen werden muß, bleibt unberücksichtigt.

Am Ende des verständlich und flüssig geschriebenen (und auch übersetzten) Buches trifft Searle eine bemerkenswerte Feststellung: Es sei ein wichtiges Bestreben der Philosophen, Fragen so zu verbessern, daß aus ihnen Gegenstände der Wissenschaften werden können. Es wäre gut gewesen, wenn Searle sich diese eigene Einsicht zu Herzen genommen hätte.

GERHARD ROTH

John R. Searle: "Geist, Sprache und Gesellschaft". Aus dem Englischen von Harvey P. Gavagai. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 192 S., geb., 39,80 DM.

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