Stalins Politik gegenüber den nichtrussischen Nationalitäten gehört zu den zentralen Problemen der sowjetischen Geschichte. Im Mittelpunkt des Buches steht eine Gruppe der von Stalin als fluktuierende nationale Gruppen bezeichneten Streuminoritäten, die über keine eigenen Territorien verfügten, und zwar die nationalen Minderheiten des Westens (Deutsche, Polen, Letten, Litauer, Esten, Finnen u. a.). Der zeitliche Rahmen der Untersuchung umfasst die Periode von 1917 bis 1938 eine Zeit der Transformation der traditionellen Gesellschaft und der Schaffung eines administrativen Kommandosystems stalinistischen Typs. Anhand von umfangreichem Quellenmaterial aus russischen Archiven werden die Grundlinien, Entscheidungsmechanismen und Funktionsweisen der sowjetischen Politik gegenüber den nationalen Minderheiten des Westens (in erster Linie gegenüber den Deutschen) auf den höchsten Ebenen untersucht.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.03.2010Zum Todfeind erklärt
Nationale Minderheiten im Fadenkreuz des sowjetischen Sicherheitsapparates
Mehrere Millionen Deutsche, Tschetschenen und Tataren wurden während des Zweiten Weltkrieges aus ihrer Heimat vertrieben und nach Zentralasien deportiert, weil Stalin gegen sie den Vorwurf erhoben hatte, mit dem Kriegsgegner gemeinsame Sache zu machen. Wie aber war es möglich, dass Nationen kollektiv Verrat übten? Und warum glaubten ausgerechnet Kommunisten, die die Welt doch einst in Kategorien des Sozialen wahrgenommen hatten, dass nicht nur Klassen, sondern auch Nationen zu Feinden werden konnten? Und warum wurden Menschen, die ihnen angehören mussten, nicht nur deportiert, sondern auch getötet? Darauf versucht Victor Dönninghaus eine Antwort zu geben.
Von Anbeginn waren die Bolschewiki davon überzeugt, dass Menschen nicht nur einer Klasse, sondern auch einer Nation angehörten. In ihrem Verständnis war die Nation eine Abstammungsgemeinschaft, deren Stabilität überhaupt nicht davon abhing, ob sich jemand zu ihr bekannte. Sie wollten die Nation vielmehr in den Dienst des sozialistischen Staatsbildungsprojekts stellen. Ohne die Indigenisierung der Herrschaft hätten sich die neuen Machthaber im Vielvölkerreich nicht bemerkbar machen können. Deshalb verwandelten sie die Sowjetunion in den zwanziger Jahren in ein Imperium von Nationen, in dem nicht nur Klassen, sondern auch Völker zu Hause waren. Der sowjetische Staatsbildungsprozess war aber nicht nur ein nationales Projekt, das dem Zentrum eine Stimme an der Peripherie verlieh. Er war auch eine Mitteilung an das europäische Ausland. Wer verglich, konnte erkennen, dass die Rechte nationaler Minderheiten in der Sowjetunion respektiert und geschützt wurden, während man sie überall sonst auf der Welt mit Füßen trat.
In diesem Verständnis war die Sowjetunion das Mutterland der nationalen Emanzipation und das Nachbarland Polen ein Ort nationaler Knechtung. Diese Inszenierung kehrte sich jedoch Ende der zwanziger Jahre gegen ihre Urheber. Warum? Darauf gibt Dönninghaus eine einleuchtende und faktisch gut begründete Antwort: weil mit dem Beginn der Kollektivierung und des Terrors gegen die Bauern das Ausland zu einem Modell der Emanzipation wurde. Im Jahr 1929 brachen mehr als 10 000 deutsche Mennoniten nach Moskau auf, um die sowjetischen Behörden dazu zu bewegen, ihnen die Ausreise nach Deutschland oder Kanada zu gestatten. Sie belagerten die deutsche Botschaft oder versuchten, einen Zugang zu ranghohen sowjetischen Funktionären zu erhalten. Allein im November 1929 hielten sich mehr als 12 000 deutsche Kolonisten in Moskau auf. Jedermann konnte nun sehen und hören, was in den Regionen geschah, nicht nur in Moskau. Denn die Flüchtlinge brachten Gerüchte in Umlauf und versorgten die Botschaften Deutschlands und Polens mit Informationen über den bolschewistischen Terror in den Dörfern.
Das Regime geriet unter einen Rechtfertigungsdruck. Es musste vor sich selbst und dem Ausland erklären, warum deutsche und polnische Bauern die Sowjetunion verlassen und nicht in ihre Dörfer zurückkehren wollten. Und es musste verhindern, dass die Sowjetunion im Ausland als Ort nationaler Knechtung diskreditiert wurde. Denn deutsche Zeitungen hatten das Thema aufgegriffen und über die Verschickung der Kulaken und die Hungersnot der Jahre 1932 und 1933 ausführlich berichtet. Nun verwandelten sich die nationalen Minderheiten, so Dönninghaus, in Feinde, die das Vertrauen nicht länger verdienten, das das Regime ihnen entgegengebracht hatte. Protestantische und katholische Geistliche wurden als Regimegegner und Konkurrenten um die Macht verfolgt, Rädelsführer verhaftet und Bauern in ihre Heimatdörfer zurückgebracht. In der Ukraine riegelten die Sicherheitsorgane Dörfer ab und ließen umliegende Bahnhöfe überwachen.
In der Wahrnehmung des Stalinschen Führungszirkels lag die eigentliche Heimat der Deutschen, Polen und Finnen nunmehr jenseits der sowjetischen Grenzen, sie waren zu Trojanischen Pferden ausländischer Mächte geworden. Aber erst mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland und dem Sieg autoritärer und antisowjetischer Regime in Ostmitteleuropa und in den baltischen Republiken empfanden Stalin und seine Freunde nationale Minderheiten als Bedrohung ihrer Herrschaft. Schon 1935 wurden Angehörige nationaler Minderheiten, vor allem Polen, Deutsche und Finnen, aus den Grenzregionen deportiert und ins Landesinnere gebracht. Als Stalin 1937 den Entschluss fasste, die Sowjetunion von ihren Feinden zu befreien, gerieten auch die nationalen Minderheiten ins Fadenkreuz des Sicherheitsapparates. So gesehen, war der Befehl Stalins, Minderheiten zu deportieren und nach Quoten zu töten, eine Konsequenz der bolschewistischen Verschwörungstheorien, in denen Klassen und Nationen am Untergang der Sowjetunion arbeiteten. Mit ihm beendet Dönninghaus seine Darstellung. Aber das Ende des Großen Terrors im Jahr 1939 war nicht das Ende der Gewalt gegen nationale Minderheiten. Die schlimmsten Exzesse ereigneten sich im Zweiten Weltkrieg, als die Xenophobie des Regimes alle Grenzen überschritt. Darüber erfährt man hier nichts.
Das Buch imitiert leider den blutleeren Stil der sowjetischen Dokumente, aus denen es berichtet. Sein eigentliches Thema gewinnt der Autor erst im letzten Drittel. Im Bestreben, alles zu erzählen, verbirgt das Buch mehr, als es enthüllt. Das ist schade, weil Dönninghaus eine gute Idee mit einer überzeugenden Interpretation verbindet.
JÖRG BABEROWSKI
Victor Dönninghaus: Minderheiten in Bedrängnis. Sowjetische Politik gegenüber Deutschen, Polen und anderen Diaspora-Nationalitäten 1917-1938. Oldenbourg Verlag, München 2009. 693 S., 54,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nationale Minderheiten im Fadenkreuz des sowjetischen Sicherheitsapparates
Mehrere Millionen Deutsche, Tschetschenen und Tataren wurden während des Zweiten Weltkrieges aus ihrer Heimat vertrieben und nach Zentralasien deportiert, weil Stalin gegen sie den Vorwurf erhoben hatte, mit dem Kriegsgegner gemeinsame Sache zu machen. Wie aber war es möglich, dass Nationen kollektiv Verrat übten? Und warum glaubten ausgerechnet Kommunisten, die die Welt doch einst in Kategorien des Sozialen wahrgenommen hatten, dass nicht nur Klassen, sondern auch Nationen zu Feinden werden konnten? Und warum wurden Menschen, die ihnen angehören mussten, nicht nur deportiert, sondern auch getötet? Darauf versucht Victor Dönninghaus eine Antwort zu geben.
Von Anbeginn waren die Bolschewiki davon überzeugt, dass Menschen nicht nur einer Klasse, sondern auch einer Nation angehörten. In ihrem Verständnis war die Nation eine Abstammungsgemeinschaft, deren Stabilität überhaupt nicht davon abhing, ob sich jemand zu ihr bekannte. Sie wollten die Nation vielmehr in den Dienst des sozialistischen Staatsbildungsprojekts stellen. Ohne die Indigenisierung der Herrschaft hätten sich die neuen Machthaber im Vielvölkerreich nicht bemerkbar machen können. Deshalb verwandelten sie die Sowjetunion in den zwanziger Jahren in ein Imperium von Nationen, in dem nicht nur Klassen, sondern auch Völker zu Hause waren. Der sowjetische Staatsbildungsprozess war aber nicht nur ein nationales Projekt, das dem Zentrum eine Stimme an der Peripherie verlieh. Er war auch eine Mitteilung an das europäische Ausland. Wer verglich, konnte erkennen, dass die Rechte nationaler Minderheiten in der Sowjetunion respektiert und geschützt wurden, während man sie überall sonst auf der Welt mit Füßen trat.
In diesem Verständnis war die Sowjetunion das Mutterland der nationalen Emanzipation und das Nachbarland Polen ein Ort nationaler Knechtung. Diese Inszenierung kehrte sich jedoch Ende der zwanziger Jahre gegen ihre Urheber. Warum? Darauf gibt Dönninghaus eine einleuchtende und faktisch gut begründete Antwort: weil mit dem Beginn der Kollektivierung und des Terrors gegen die Bauern das Ausland zu einem Modell der Emanzipation wurde. Im Jahr 1929 brachen mehr als 10 000 deutsche Mennoniten nach Moskau auf, um die sowjetischen Behörden dazu zu bewegen, ihnen die Ausreise nach Deutschland oder Kanada zu gestatten. Sie belagerten die deutsche Botschaft oder versuchten, einen Zugang zu ranghohen sowjetischen Funktionären zu erhalten. Allein im November 1929 hielten sich mehr als 12 000 deutsche Kolonisten in Moskau auf. Jedermann konnte nun sehen und hören, was in den Regionen geschah, nicht nur in Moskau. Denn die Flüchtlinge brachten Gerüchte in Umlauf und versorgten die Botschaften Deutschlands und Polens mit Informationen über den bolschewistischen Terror in den Dörfern.
Das Regime geriet unter einen Rechtfertigungsdruck. Es musste vor sich selbst und dem Ausland erklären, warum deutsche und polnische Bauern die Sowjetunion verlassen und nicht in ihre Dörfer zurückkehren wollten. Und es musste verhindern, dass die Sowjetunion im Ausland als Ort nationaler Knechtung diskreditiert wurde. Denn deutsche Zeitungen hatten das Thema aufgegriffen und über die Verschickung der Kulaken und die Hungersnot der Jahre 1932 und 1933 ausführlich berichtet. Nun verwandelten sich die nationalen Minderheiten, so Dönninghaus, in Feinde, die das Vertrauen nicht länger verdienten, das das Regime ihnen entgegengebracht hatte. Protestantische und katholische Geistliche wurden als Regimegegner und Konkurrenten um die Macht verfolgt, Rädelsführer verhaftet und Bauern in ihre Heimatdörfer zurückgebracht. In der Ukraine riegelten die Sicherheitsorgane Dörfer ab und ließen umliegende Bahnhöfe überwachen.
In der Wahrnehmung des Stalinschen Führungszirkels lag die eigentliche Heimat der Deutschen, Polen und Finnen nunmehr jenseits der sowjetischen Grenzen, sie waren zu Trojanischen Pferden ausländischer Mächte geworden. Aber erst mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland und dem Sieg autoritärer und antisowjetischer Regime in Ostmitteleuropa und in den baltischen Republiken empfanden Stalin und seine Freunde nationale Minderheiten als Bedrohung ihrer Herrschaft. Schon 1935 wurden Angehörige nationaler Minderheiten, vor allem Polen, Deutsche und Finnen, aus den Grenzregionen deportiert und ins Landesinnere gebracht. Als Stalin 1937 den Entschluss fasste, die Sowjetunion von ihren Feinden zu befreien, gerieten auch die nationalen Minderheiten ins Fadenkreuz des Sicherheitsapparates. So gesehen, war der Befehl Stalins, Minderheiten zu deportieren und nach Quoten zu töten, eine Konsequenz der bolschewistischen Verschwörungstheorien, in denen Klassen und Nationen am Untergang der Sowjetunion arbeiteten. Mit ihm beendet Dönninghaus seine Darstellung. Aber das Ende des Großen Terrors im Jahr 1939 war nicht das Ende der Gewalt gegen nationale Minderheiten. Die schlimmsten Exzesse ereigneten sich im Zweiten Weltkrieg, als die Xenophobie des Regimes alle Grenzen überschritt. Darüber erfährt man hier nichts.
Das Buch imitiert leider den blutleeren Stil der sowjetischen Dokumente, aus denen es berichtet. Sein eigentliches Thema gewinnt der Autor erst im letzten Drittel. Im Bestreben, alles zu erzählen, verbirgt das Buch mehr, als es enthüllt. Das ist schade, weil Dönninghaus eine gute Idee mit einer überzeugenden Interpretation verbindet.
JÖRG BABEROWSKI
Victor Dönninghaus: Minderheiten in Bedrängnis. Sowjetische Politik gegenüber Deutschen, Polen und anderen Diaspora-Nationalitäten 1917-1938. Oldenbourg Verlag, München 2009. 693 S., 54,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Durchaus interessant findet Rezensent Jörg Baberowski, wie sich Victor Dönninghaus in diesem Buch der Verfolgung nationaler Minderheiten in der Sowjetunion nähert. Besonders scheinen ihm die theoretischen Überlegungen einzuleuchten, mit denen der Autor erklärt, wie in der kommunistischen Sowjetunion nicht nur Klassen, sondern Nationen zu Feinden werden konnten. Zumindest geht Baberowski ausführlich auf die ideologischen Rechtfertigungen oder Verbrämungen der Moskauer Politik ein, über die Deportation der deutschen, finnischen und polnischen Minderheiten selbst und was Dönninghaus in seinem Buch darüber schreibt, erfahren wir nichts. Abschließend bemängelt er den "blutleeren Stil" des Buchs, das seine interessanten Aspekte in einer Überfülle von trockenen Informationen verberge.
© Perlentaucher Medien GmbH
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