Mit dem Inkrafttreten zweier völkerrechtlicher Schutzinstrumente zu Beginn des Jahres 1998 soll erstmals ein allgemeines Minderheitenschutzsystem Anwendung finden. Das vorliegende Werk bietet eine aktuelle Bestandsaufnahme des bestehenden, neu entstandenen und im Entstehen begriffenen Minderheitenrechts in 36 europäischen Staaten. Es beinhaltet außerdem vergleichende tabellarische Übersichten und Diagramme mit einer aktuellen Rangliste der europäischen Staaten im Bereich des Minderheitenschutzes sowie ein Glossar. Als Band 2 des Handbuchs der europäischen Volksgruppen setzt dieses Werk das von denselben Autoren im Jahr 2000 erschienene Buch "Die Volksgruppen in Europa. Ein Handbuch" fort, in welchem neben der allgemeinen völkerrechtlichen Seite der Minderheitenfrage vor allem deren empirische Dimension dargestellt ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.12.2006Keine Frage der Rangordnung
Der Schutz nationaler Minderheiten in Europa: Historische Wurzeln und Rechtswirklichkeit
Der Schutz nationaler Minderheiten in Europa - in der Zwischenkriegszeit Gegenstand einer Reihe völkervertraglicher Instrumente, die jedoch nicht die ihnen zugedachte befriedende Wirkung entfalteten - führte nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst ein Schattendasein. Die Konzentration auf die Entwicklung und den Ausbau eines Systems effektiven individuellen Menschenrechtsschutzes in Gestalt der Europäischen Menschenrechtskonvention im westlichen und die ideologisch begründete Einheitsdoktrin der Diktaturen im östlichen Teil Europas ließen keinen Raum für die Anerkennung genuiner Minderheitenrechte. Erst die Wende von 1989/90, die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zum Durchbruch verhalf, schuf auch die Voraussetzungen, spezifische Schutzmechanismen für die in den europäischen Nationalstaaten beheimateten Volksgruppen rechtlich anzuerkennen. Der Minderheitenschutz nahm so in Europa seit den neunziger Jahren eine beachtliche Entwicklung und einen bemerkenswerten Aufschwung, der in zwei im Rahmen des Europarats ausgearbeiteten und 1998 in Kraft getretenen Völkerrechtsinstrumenten kulminierte: dem Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten und der Europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen. Daneben konnte der Minderheitenschutz auf nationaler Ebene etabliert beziehungsweise fortentwickelt werden.
Dem Südtiroler Volksgruppeninstitut unter Leitung von Christoph Pan in Bozen kommt das große Verdienst zu, diese Entwicklung wissenschaftlich angestoßen, vorbereitet sowie intensiv begleitet und vertieft zu haben. Die Frucht dieser Bemühungen bündelt das "Handbuch der europäischen Volksgruppen", ein Nachschlagewerk, das seinesgleichen sucht. Der erste 2000 erschienene Band widmete sich der systematischen Einführung in die Minderheitenfrage, entfaltete die empirische Dimension, die Frage, wie viele Minderheiten in welcher Größenordnung in welchen Staaten Europas leben. Schließlich wurden die wichtigsten rechtlichen Erfordernisse und organisatorischen Vorkehrungen des Minderheitenschutzes dargelegt.
Der zweite Band gibt eine vergleichende Übersicht über die Minderheitenrechte in den einzelnen Staaten Europas. Für 36 Staaten Europas wird die Rechtslage der Minderheiten in Länderberichten umfassend dargestellt und analysiert: von Albanien bis Weißrußland. Damit die Ergebnisse miteinander verglichen werden können, erfolgt die Untersuchung standardisiert. Es werden hinsichtlich der überprüften Staaten einheitlich als wesentlich angesehene Minderheitenrechte erfaßt: Rechte auf Identität, Gleichbehandlung, Chancengleichheit und Nichtdiskriminierung, Gebrauch der und Unterricht in der Muttersprache, eigene Organisationen, ungehinderte, grenzüberschreitende Kontakte, Medien in der eigenen Sprache, politische Repräsentation, Autonomie, Mitbestimmung in eigenen Angelegenheiten und spezifischen Rechtsschutz.
Die Standardisierung führt allerdings bisweilen zu verzerrten Wahrnehmungen und Bewertungen. So muß sich Deutschland - ebenso wie Weißrußland - vorhalten lassen, daß es keinen minderheitsspezifischen Rechtsschutz vorhält. Angesichts des lückenlosen gerichtlichen Rechtsschutzes in Deutschland, der es den (Angehörigen der) Minderheiten erlaubt, alle ihre materiellen Rechte einzuklagen, entsteht dadurch aber das schiefe Bild einer insoweit angeblich defizitären Lage, die in Wirklichkeit gar nicht besteht. Dagegen fällt derselbe Umstand - das Fehlen minderheitenspezifischen Rechtsschutzes - in Weißrußland angesichts der dort ohnehin bestehenden allgemeinen rechtsstaatlichen Defizite und der für Minderheiten prekären Situation erheblich ins Gewicht.
Im Hinblick auf solche Ungereimtheiten wird man auch die anhand der standardisierten Beurteilung erstellte "Rangordnung 2006" in puncto Minderheitenschutz in Europa mit etwas Vorsicht behandeln müssen, wenngleich sich unter den ersten sieben (Belgien, Dänemark, Finnland, Ungarn, Kroatien, Schweiz und Spanien) bekannte Vorreiter und unter den letzten sieben Staaten (Portugal, Rußland, Ukraine, Frankreich, Weißrußland, Griechenland und Türkei) bekannte Gegner eines ausgeprägten Minderheitenschutzes finden. Frankreich befindet sich hier wahrlich nicht in guter Gesellschaft; aber die "nation une et indivisible" erkennt eben bis heute Minderheiten offiziell schlicht nicht an.
Der dritte Band des Handbuchs spürt querschnittartig den historischen Wurzeln des modernen Minderheitenschutzes nach. Die Spannweite reicht von den Anfängen eines völkerrechtlichen Minderheitenschutzes im 19. Jahrhundert über die Nationalitätenpolitik und das Nationalitätenrecht Österreich-Ungarns, des russischen Zarenreiches und des Osmanischen Reiches, den Minderheitenschutz im Völkerbundsystem, nationale, zumeist erst nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende Sonderentwicklungen in der Schweiz, Belgien, Italien, Spanien, Skandinavien und dem Vereinigten Königreich bis zur Etablierung eines (gesamt-)europäischen Minderheitenschutzes im Rahmen des Europarates, des KSZE/OSZE-Prozesses und dem Stellenwert des Themas in der Europäischen Union. Bei der EU fehlt es nach wie vor an einem kohärenten Ansatz, was aber angesichts des Dissenses zwischen den Mitgliedstaaten in dieser Frage nicht überraschen kann. Man wird daher ungeachtet der Kopenhagener Aufnahmekriterien auch bezweifeln müssen, ob der extreme Nationalismus und die notorische Feindlichkeit gegenüber ethnischen und religiösen Minderheiten für die Türkei tatsächlich ein Hindernis auf dem Weg in die EU bilden werden.
Das "Handbuch der europäischen Volksgruppen" entfaltet die Problematik des Minderheitenschutzes in Europa und mögliche rechtliche Lösungen derselben in ihrer ganzen thematischen Breite und Tiefe: ihrer historischen Entwicklung, ihren verfassungstheoretischen Grundfragen - wieso und wozu bedarf es überhaupt spezifischer Volksgruppenrechte in Staaten, die demokratisch und rechtsstaatlich organisiert sind und individuelle Freiheit und Gleichheit gewährleisten? - und ihrer praktischen Relevanz und Vielfalt. Wer immer sich mit der (Rechts-)Lage von Minderheiten in Europa befaßt, wird in diesem Handbuch alles finden, was er sucht.
CHRISTIAN HILLGRUBER
Christoph Pan/Beate Sibylle Pfeil (Herausgeber): Minderheitenrechte in Europa. Handbuch der europäischen Volksgruppen, Band 2 (2. Auflage). Springer Verlag, Wien/New York 2006. 722 S., 99,90 [Euro].
Christoph Pan/Beate Sibylle Pfeil (Herausgeber): Zur Entstehung des modernen Minderheitenschutzes in Europa. Wissenschaftliche Leitung: Peter Pernthaler. Handbuch der europäischen Volksgruppen, Band 3. Springer Verlag, Wien/New York 2006. 561 S., 78,- [Euro].
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Der Schutz nationaler Minderheiten in Europa: Historische Wurzeln und Rechtswirklichkeit
Der Schutz nationaler Minderheiten in Europa - in der Zwischenkriegszeit Gegenstand einer Reihe völkervertraglicher Instrumente, die jedoch nicht die ihnen zugedachte befriedende Wirkung entfalteten - führte nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst ein Schattendasein. Die Konzentration auf die Entwicklung und den Ausbau eines Systems effektiven individuellen Menschenrechtsschutzes in Gestalt der Europäischen Menschenrechtskonvention im westlichen und die ideologisch begründete Einheitsdoktrin der Diktaturen im östlichen Teil Europas ließen keinen Raum für die Anerkennung genuiner Minderheitenrechte. Erst die Wende von 1989/90, die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zum Durchbruch verhalf, schuf auch die Voraussetzungen, spezifische Schutzmechanismen für die in den europäischen Nationalstaaten beheimateten Volksgruppen rechtlich anzuerkennen. Der Minderheitenschutz nahm so in Europa seit den neunziger Jahren eine beachtliche Entwicklung und einen bemerkenswerten Aufschwung, der in zwei im Rahmen des Europarats ausgearbeiteten und 1998 in Kraft getretenen Völkerrechtsinstrumenten kulminierte: dem Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten und der Europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen. Daneben konnte der Minderheitenschutz auf nationaler Ebene etabliert beziehungsweise fortentwickelt werden.
Dem Südtiroler Volksgruppeninstitut unter Leitung von Christoph Pan in Bozen kommt das große Verdienst zu, diese Entwicklung wissenschaftlich angestoßen, vorbereitet sowie intensiv begleitet und vertieft zu haben. Die Frucht dieser Bemühungen bündelt das "Handbuch der europäischen Volksgruppen", ein Nachschlagewerk, das seinesgleichen sucht. Der erste 2000 erschienene Band widmete sich der systematischen Einführung in die Minderheitenfrage, entfaltete die empirische Dimension, die Frage, wie viele Minderheiten in welcher Größenordnung in welchen Staaten Europas leben. Schließlich wurden die wichtigsten rechtlichen Erfordernisse und organisatorischen Vorkehrungen des Minderheitenschutzes dargelegt.
Der zweite Band gibt eine vergleichende Übersicht über die Minderheitenrechte in den einzelnen Staaten Europas. Für 36 Staaten Europas wird die Rechtslage der Minderheiten in Länderberichten umfassend dargestellt und analysiert: von Albanien bis Weißrußland. Damit die Ergebnisse miteinander verglichen werden können, erfolgt die Untersuchung standardisiert. Es werden hinsichtlich der überprüften Staaten einheitlich als wesentlich angesehene Minderheitenrechte erfaßt: Rechte auf Identität, Gleichbehandlung, Chancengleichheit und Nichtdiskriminierung, Gebrauch der und Unterricht in der Muttersprache, eigene Organisationen, ungehinderte, grenzüberschreitende Kontakte, Medien in der eigenen Sprache, politische Repräsentation, Autonomie, Mitbestimmung in eigenen Angelegenheiten und spezifischen Rechtsschutz.
Die Standardisierung führt allerdings bisweilen zu verzerrten Wahrnehmungen und Bewertungen. So muß sich Deutschland - ebenso wie Weißrußland - vorhalten lassen, daß es keinen minderheitsspezifischen Rechtsschutz vorhält. Angesichts des lückenlosen gerichtlichen Rechtsschutzes in Deutschland, der es den (Angehörigen der) Minderheiten erlaubt, alle ihre materiellen Rechte einzuklagen, entsteht dadurch aber das schiefe Bild einer insoweit angeblich defizitären Lage, die in Wirklichkeit gar nicht besteht. Dagegen fällt derselbe Umstand - das Fehlen minderheitenspezifischen Rechtsschutzes - in Weißrußland angesichts der dort ohnehin bestehenden allgemeinen rechtsstaatlichen Defizite und der für Minderheiten prekären Situation erheblich ins Gewicht.
Im Hinblick auf solche Ungereimtheiten wird man auch die anhand der standardisierten Beurteilung erstellte "Rangordnung 2006" in puncto Minderheitenschutz in Europa mit etwas Vorsicht behandeln müssen, wenngleich sich unter den ersten sieben (Belgien, Dänemark, Finnland, Ungarn, Kroatien, Schweiz und Spanien) bekannte Vorreiter und unter den letzten sieben Staaten (Portugal, Rußland, Ukraine, Frankreich, Weißrußland, Griechenland und Türkei) bekannte Gegner eines ausgeprägten Minderheitenschutzes finden. Frankreich befindet sich hier wahrlich nicht in guter Gesellschaft; aber die "nation une et indivisible" erkennt eben bis heute Minderheiten offiziell schlicht nicht an.
Der dritte Band des Handbuchs spürt querschnittartig den historischen Wurzeln des modernen Minderheitenschutzes nach. Die Spannweite reicht von den Anfängen eines völkerrechtlichen Minderheitenschutzes im 19. Jahrhundert über die Nationalitätenpolitik und das Nationalitätenrecht Österreich-Ungarns, des russischen Zarenreiches und des Osmanischen Reiches, den Minderheitenschutz im Völkerbundsystem, nationale, zumeist erst nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende Sonderentwicklungen in der Schweiz, Belgien, Italien, Spanien, Skandinavien und dem Vereinigten Königreich bis zur Etablierung eines (gesamt-)europäischen Minderheitenschutzes im Rahmen des Europarates, des KSZE/OSZE-Prozesses und dem Stellenwert des Themas in der Europäischen Union. Bei der EU fehlt es nach wie vor an einem kohärenten Ansatz, was aber angesichts des Dissenses zwischen den Mitgliedstaaten in dieser Frage nicht überraschen kann. Man wird daher ungeachtet der Kopenhagener Aufnahmekriterien auch bezweifeln müssen, ob der extreme Nationalismus und die notorische Feindlichkeit gegenüber ethnischen und religiösen Minderheiten für die Türkei tatsächlich ein Hindernis auf dem Weg in die EU bilden werden.
Das "Handbuch der europäischen Volksgruppen" entfaltet die Problematik des Minderheitenschutzes in Europa und mögliche rechtliche Lösungen derselben in ihrer ganzen thematischen Breite und Tiefe: ihrer historischen Entwicklung, ihren verfassungstheoretischen Grundfragen - wieso und wozu bedarf es überhaupt spezifischer Volksgruppenrechte in Staaten, die demokratisch und rechtsstaatlich organisiert sind und individuelle Freiheit und Gleichheit gewährleisten? - und ihrer praktischen Relevanz und Vielfalt. Wer immer sich mit der (Rechts-)Lage von Minderheiten in Europa befaßt, wird in diesem Handbuch alles finden, was er sucht.
CHRISTIAN HILLGRUBER
Christoph Pan/Beate Sibylle Pfeil (Herausgeber): Minderheitenrechte in Europa. Handbuch der europäischen Volksgruppen, Band 2 (2. Auflage). Springer Verlag, Wien/New York 2006. 722 S., 99,90 [Euro].
Christoph Pan/Beate Sibylle Pfeil (Herausgeber): Zur Entstehung des modernen Minderheitenschutzes in Europa. Wissenschaftliche Leitung: Peter Pernthaler. Handbuch der europäischen Volksgruppen, Band 3. Springer Verlag, Wien/New York 2006. 561 S., 78,- [Euro].
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