In diesem großen Roman, der über mehrere Generationen und Kontinente hinweg die Geschichte einer ukrainischen Familie erzählt, treffen wir auf Zenon Zabobon und seine Frau Natalka, die an dem Tag heiraten, an dem der österreichische Thronfolger erschossen wird; auf ihre Tochter Slava, die auf der Flucht der Familie vor den Nazis ihren späteren Ehemann Arkady kennen lernt und schließlich in einer amerikanischen Vorstadt ihren Sohn Bohdan zur Welt bringt - und nicht zuletzt spielen auch "mindestens tausend Verwandte" eine tragende Rolle. Doch die Neue Welt ist kaum friedlicher als die Alte, und wieder stellen sich die ewig gleichen Fragen. Eine tief ernste Geschichte und gleichzeitig voll von Komik.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.12.2006Karpaten-Paten
Lebensfülle: Askold Melnyczuk erzählt eine kurze Geschichte des Brühwürfels auf ukrainisch / Von Wolfgang Schneider
Ukrainische Literatur - das ist neuerdings ein Gütesiegel. Was der Türkei ein Orhan Pamuk, ist der Ukraine ein Juri Andruchowytsch: eine höchst westkompatible, charmant-kluge Vermittlerfigur. Dann gibt es junge Autoren wie Ljubko Deresch, die so frisch und radikal wirken, daß die auf wohltemperiertes Mittelmaß geschulten Abkömmlinge deutscher Schreibakademien dagegen alt aussehen. Und selbst mancher Bestseller hat einen ukrainischen Migrationshintergrund: Die Engländerin Marina Lewycka begeistert mit ihrer "Kurzen Geschichte des Traktors auf ukrainisch" inzwischen auch deutsche Leser; international erfolgreich war auch Oksana Sabuschkos Roman "Feldstudien über ukrainischen Sex". Fast scheint es, als hätte der Deuticke-Verlag einen Marketing-Fehler begangen, als er dem Roman von Askold Melnyczuk, der im Original "What is told" heißt, einen anderen Titel gab, dabei aber ein zugkräftiges Beiwort vergaß: "Mindestens tausend ukrainische Verwandte", das wäre es gewesen.
Wir schreiben das krisenträchtige Jahr 1914. Zenon Zabobon, Gymnasialprofessor für Kunstgeschichte in einem Kaff namens Rozdorizha, lehnt es ab, Kurator im Londoner Archäologiemuseum zu werden, weil er sich in eine Bäckereigehilfin verliebt hat und befürchtet, ohne seinen beherzten Zugriff würde das Mädchen vielleicht als Bardame enden. Zenons Bruder Stefan, ein routinierter Erotomane, der gerade ein bißchen in Wien herumstudiert und diverse literarische Plänen hegt, kann es nicht fassen. So beginnt eine ukrainische Familiengeschichte, die drei Generationen umspannt und in deren Zentrum zwei sehr verschiedene Brüder stehen.
"Wer immer eines Tages unsere Geschichte erzählt, der muß die Jagd aus der Perspektive der Feldhasen erzählen", so faßt Stefan Zabobon das historisch begründete Lebensgefühl der Ukrainer zusammen. Von den gierigen Großmächten wurde das Land schikaniert und vor allem als ergiebiges Beutestück betrachtet. Nach dem Ersten Weltkrieg verleibte die Sowjetunion es sich ein, die dann bei der Kollektivierung der Landwirtschaft sieben Millionen Ukrainer planmäßig verhungern ließ. Dann kamen die Deutschen auf der Suche nach Lebensraum - für die angestammte Bevölkerung wurde er zum Todesraum. Weil man sich aber zunächst die Befreiung vom Sowjetjoch versprochen hatte, wurde es den Ukrainern ab 1944 wieder mit besonderer Bedrückungskraft auferlegt. So ist die Ukraine zum Land geworden, aus dem bis heute die Menschen auswandern, wenn sich nur die Gelegenheit bietet.
Die Kapitel der Familienhistorie illustrieren und begleiten diese ukrainische Leidensgeschichte. Stefans Ausschweifungen in Paris werden im Wechsel mit gräßlichen Episoden der Hungerkatastrophe erzählt. Zenons Neigung zum politischem Idealismus - er versteckt eine jüdische Familie vor den Deutschen - bringt ihm einen frühen, gewaltsamen Tod. Seine Frau Natalka (die Bäckereigehilfin) kann sich mit der gemeinsamen Tochter Slava in ein Lager für "Displaced Persons" retten. Dort lernt Slava ihren künftigen Mann kennen, und bald besteigt die Restfamilie das Auswandererschiff nach Amerika.
In dieses kleine Buch geht viel hinein - nicht weniger als siebenhundert Jahre ukrainische Geschichte. Was vor den Schrecken des zwanzigsten Jahrhunderts geschah, wird mythologisch integriert, durch phantastische Szenen aus dem Leben von König Toor, einem mit den Bäumen verwandten Kampfriesen, der die Tataren abwehrt und die Christianisierung der Ukraine nicht aufhalten kann. Immer wieder spukt diese Sagengestalt in den Gedanken und Träumen der Zabobons herum, die sich in direkter, wenn auch sehr langer Linie von Toor herleiten.
Askold Melnyczuk wurde als Sohn ukrainischer Auswanderer 1954 in den Vereinigten Staaten geboren. Zum ersten Mal reiste er 1991 ins Land der Vorfahren. Mit diesem Roman eignet er sich den familienbiographischen Hintergrund in literarisch verfremdeter Form an. Manche eingeschaltete Belehrung klingt dabei ein wenig schulbuchmäßig, und einige Pointen wirken nach kurzer Lustigkeitsverpuffung ein bißchen schal: "Im Krieg waren es die Generäle, an die man sich hielt; in Friedenszeiten regierten die Genitalien." Trotzdem: Man bewundert dieses Buch für seine lakonische Lebensfülle. Zumindest bis zur Auswanderung sind die Kapitel über die Familie Zabobon komprimiert wie Brühwürfel, aus denen man lange Geschichten kochen könnte.
Bis zur Hälfte liest man das Buch mit dem Gefühl, es könnte sich vielleicht zum großen Wurf auswachsen. Die Amerika-Kapitel wirken dann jedoch verwässert und leiden an faden Dialogstrecken. Während die Figuren in der ersten Hälfte sehr plastisch geschildert werden, bleiben die hinzukommenden "tausend Verwandten" im Exil blaß und unergiebig. Zwar gibt es interessante Ausführungen über die Schrecken der amerikanischen Arbeitswelt, zwar erfährt man einiges über die Art und Weise, wie Ukrainer fern der Heimat derselben gedenken. Sie treffen sich einmal im Jahr in den "Karpaten" - gemeint ist ein "ukrainisches Resort in den Catskills" -, frönen dort ausgiebig dem "Emigrantentratsch" und der Folklore. Bohdan, Sohn von Slava und Arkady, Vertreter der jüngsten Generation und in manchen Zügen wohl das Alter ego des Autors, geht brav zu den ukrainischen Pfadfindern von New Jersey.
Nur leider kommt das alles nicht mehr in Zusammenhang mit einer schlüssigen Romanhandlung daher. Jahre vergehen, und wir erleben Slava Zabobon noch als Avon-Beraterin und ihren Schwager, den einstigen Hardcore-Don-Juan als Woolworth-Rentner beim Entenfüttern. Allerhand phantasmagorische Szenen - Sterbe- und Fieberdelirien - springen vor und zurück in der Familiengeschichte. Die letzten vierzig Seiten dauern schier endlos.
Ganz am Ende hat König Toor noch einen Auftritt. Obwohl das Leben in Amerika kein Zuckerschlecken ist, setzt er in New Jersey langsam Borke an und verwandelt sich zurück in einen Baum. Wer jetzt keine Wurzeln schlägt, hat keine mehr. Der Leser aber ist nicht gerührt, sondern froh, daß es vorbei ist. Schade um ein Buch, das so vielversprechend begonnen hat.
Askold Melnyczuk: "Mindestens tausend Verwandte". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Martin Amanshauser. Deuticke Verlag, Wien 2006. 208 S., geb., 19,90 [Euro].
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Lebensfülle: Askold Melnyczuk erzählt eine kurze Geschichte des Brühwürfels auf ukrainisch / Von Wolfgang Schneider
Ukrainische Literatur - das ist neuerdings ein Gütesiegel. Was der Türkei ein Orhan Pamuk, ist der Ukraine ein Juri Andruchowytsch: eine höchst westkompatible, charmant-kluge Vermittlerfigur. Dann gibt es junge Autoren wie Ljubko Deresch, die so frisch und radikal wirken, daß die auf wohltemperiertes Mittelmaß geschulten Abkömmlinge deutscher Schreibakademien dagegen alt aussehen. Und selbst mancher Bestseller hat einen ukrainischen Migrationshintergrund: Die Engländerin Marina Lewycka begeistert mit ihrer "Kurzen Geschichte des Traktors auf ukrainisch" inzwischen auch deutsche Leser; international erfolgreich war auch Oksana Sabuschkos Roman "Feldstudien über ukrainischen Sex". Fast scheint es, als hätte der Deuticke-Verlag einen Marketing-Fehler begangen, als er dem Roman von Askold Melnyczuk, der im Original "What is told" heißt, einen anderen Titel gab, dabei aber ein zugkräftiges Beiwort vergaß: "Mindestens tausend ukrainische Verwandte", das wäre es gewesen.
Wir schreiben das krisenträchtige Jahr 1914. Zenon Zabobon, Gymnasialprofessor für Kunstgeschichte in einem Kaff namens Rozdorizha, lehnt es ab, Kurator im Londoner Archäologiemuseum zu werden, weil er sich in eine Bäckereigehilfin verliebt hat und befürchtet, ohne seinen beherzten Zugriff würde das Mädchen vielleicht als Bardame enden. Zenons Bruder Stefan, ein routinierter Erotomane, der gerade ein bißchen in Wien herumstudiert und diverse literarische Plänen hegt, kann es nicht fassen. So beginnt eine ukrainische Familiengeschichte, die drei Generationen umspannt und in deren Zentrum zwei sehr verschiedene Brüder stehen.
"Wer immer eines Tages unsere Geschichte erzählt, der muß die Jagd aus der Perspektive der Feldhasen erzählen", so faßt Stefan Zabobon das historisch begründete Lebensgefühl der Ukrainer zusammen. Von den gierigen Großmächten wurde das Land schikaniert und vor allem als ergiebiges Beutestück betrachtet. Nach dem Ersten Weltkrieg verleibte die Sowjetunion es sich ein, die dann bei der Kollektivierung der Landwirtschaft sieben Millionen Ukrainer planmäßig verhungern ließ. Dann kamen die Deutschen auf der Suche nach Lebensraum - für die angestammte Bevölkerung wurde er zum Todesraum. Weil man sich aber zunächst die Befreiung vom Sowjetjoch versprochen hatte, wurde es den Ukrainern ab 1944 wieder mit besonderer Bedrückungskraft auferlegt. So ist die Ukraine zum Land geworden, aus dem bis heute die Menschen auswandern, wenn sich nur die Gelegenheit bietet.
Die Kapitel der Familienhistorie illustrieren und begleiten diese ukrainische Leidensgeschichte. Stefans Ausschweifungen in Paris werden im Wechsel mit gräßlichen Episoden der Hungerkatastrophe erzählt. Zenons Neigung zum politischem Idealismus - er versteckt eine jüdische Familie vor den Deutschen - bringt ihm einen frühen, gewaltsamen Tod. Seine Frau Natalka (die Bäckereigehilfin) kann sich mit der gemeinsamen Tochter Slava in ein Lager für "Displaced Persons" retten. Dort lernt Slava ihren künftigen Mann kennen, und bald besteigt die Restfamilie das Auswandererschiff nach Amerika.
In dieses kleine Buch geht viel hinein - nicht weniger als siebenhundert Jahre ukrainische Geschichte. Was vor den Schrecken des zwanzigsten Jahrhunderts geschah, wird mythologisch integriert, durch phantastische Szenen aus dem Leben von König Toor, einem mit den Bäumen verwandten Kampfriesen, der die Tataren abwehrt und die Christianisierung der Ukraine nicht aufhalten kann. Immer wieder spukt diese Sagengestalt in den Gedanken und Träumen der Zabobons herum, die sich in direkter, wenn auch sehr langer Linie von Toor herleiten.
Askold Melnyczuk wurde als Sohn ukrainischer Auswanderer 1954 in den Vereinigten Staaten geboren. Zum ersten Mal reiste er 1991 ins Land der Vorfahren. Mit diesem Roman eignet er sich den familienbiographischen Hintergrund in literarisch verfremdeter Form an. Manche eingeschaltete Belehrung klingt dabei ein wenig schulbuchmäßig, und einige Pointen wirken nach kurzer Lustigkeitsverpuffung ein bißchen schal: "Im Krieg waren es die Generäle, an die man sich hielt; in Friedenszeiten regierten die Genitalien." Trotzdem: Man bewundert dieses Buch für seine lakonische Lebensfülle. Zumindest bis zur Auswanderung sind die Kapitel über die Familie Zabobon komprimiert wie Brühwürfel, aus denen man lange Geschichten kochen könnte.
Bis zur Hälfte liest man das Buch mit dem Gefühl, es könnte sich vielleicht zum großen Wurf auswachsen. Die Amerika-Kapitel wirken dann jedoch verwässert und leiden an faden Dialogstrecken. Während die Figuren in der ersten Hälfte sehr plastisch geschildert werden, bleiben die hinzukommenden "tausend Verwandten" im Exil blaß und unergiebig. Zwar gibt es interessante Ausführungen über die Schrecken der amerikanischen Arbeitswelt, zwar erfährt man einiges über die Art und Weise, wie Ukrainer fern der Heimat derselben gedenken. Sie treffen sich einmal im Jahr in den "Karpaten" - gemeint ist ein "ukrainisches Resort in den Catskills" -, frönen dort ausgiebig dem "Emigrantentratsch" und der Folklore. Bohdan, Sohn von Slava und Arkady, Vertreter der jüngsten Generation und in manchen Zügen wohl das Alter ego des Autors, geht brav zu den ukrainischen Pfadfindern von New Jersey.
Nur leider kommt das alles nicht mehr in Zusammenhang mit einer schlüssigen Romanhandlung daher. Jahre vergehen, und wir erleben Slava Zabobon noch als Avon-Beraterin und ihren Schwager, den einstigen Hardcore-Don-Juan als Woolworth-Rentner beim Entenfüttern. Allerhand phantasmagorische Szenen - Sterbe- und Fieberdelirien - springen vor und zurück in der Familiengeschichte. Die letzten vierzig Seiten dauern schier endlos.
Ganz am Ende hat König Toor noch einen Auftritt. Obwohl das Leben in Amerika kein Zuckerschlecken ist, setzt er in New Jersey langsam Borke an und verwandelt sich zurück in einen Baum. Wer jetzt keine Wurzeln schlägt, hat keine mehr. Der Leser aber ist nicht gerührt, sondern froh, daß es vorbei ist. Schade um ein Buch, das so vielversprechend begonnen hat.
Askold Melnyczuk: "Mindestens tausend Verwandte". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Martin Amanshauser. Deuticke Verlag, Wien 2006. 208 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Juri Andruchowytsch hat sich nicht nur prächtig amüsiert mit dem Roman des Kollegen Askold Melnyczuk, sondern zeigt sich auch berührt von der mythologischen Geschichte der Zobobons und ihrer nach Amerika auswandernden Abkömmlinge. Die jüngste Vergangenheit erscheint Andruchowytsch dabei als völlig verfremdet und "grotesk" überzeichnet, was den Roman in die Gefilde des magischen Realismus rückt. Melnyczuks Roman sei auch eine Parodie der traditionellen Familiensaga und des klassischen Emigranten-Schicksals, konstatiert der Rezensent noch, der immer wieder Originalität und Witz des Romans preist, ohne dabei aber zu verraten, worin diese bestehen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Daß das Leben ein 'Idiotenspiel' ist, wie es einmal heisst, ahnte man schon vorher, aber nichts geht darüber, diese alte Erkenntnis unterhaltsam aufs Neue präsentiert zu bekommen...Askold Melnyczuk versteht es wunderbar, mit viel Humor und feinem Gespür für absurden Witz noch von düstersten Kapiteln der Historie zu erzählen." Knut Cordsen, BR 2 Kulturwelt, 06.11.2006 "Der Roman ist einfallsreich und zugleich einfach geschrieben, lustig und ernst, phantastisch und wahrhaftig, unbarmherzig und rührend." Juri Andruchowytsch, Süddeutsche Zeitung, 22.11.2006 "Wer sich auf dieses sehr ungewöhnliche Buch und seinen ganz eigenen Ton einlässt, unternimmt eine faszinierende Reise quer durch die Welt, die Alte und die Neue, durch Kontinente und Jahrhunderte." Radek Knapp, Der Standard, 21.10.2006