Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.08.2024Courage zur eigenen Form
Von Stefan Müller-Doohm
Als sich Adorno im Laufe des Jahres 1949 entschloss, nach Deutschland zurückzukehren, um nach zwölf Emigrationsjahren an seine Universität zurückzukehren, hatte er ein abgeschlossenes Manuskript im Reisegepäck, das ihm besonders am Herzen lag. Es waren tagebuchartige Aufzeichnungen, die er ab 1942 im kalifornischen Exil mit einer gewissen Regelmäßigkeit zu Papier gebracht hatte. Der glückliche Zufall wollte es, dass Peter Suhrkamp gerade seinen neuen Verlag in Frankfurt am Main gegründet hatte und dabei war, ein ambitioniertes belletristisches Programm mit Autoren wie Herrmann Hesse und Bertolt Brecht zu entwickeln. Sein Lektor Friedrich Podszus hatte die Kontaktaufnahme von Adorno sogleich freudig aufgegriffen und war Feuer und Flamme, als er dessen Manuskript zu Gesicht bekam.
So geschah es, dass diese "Reflexionen aus dem beschädigten Leben" unter dem exquisiten Titel "Minima Moralia" schon 1951 Teil des ersten Programms des jungen Frankfurter Verlags waren. Das Buch hat, der Aussage seines Autors zufolge, diesen über Nacht so "bekannt wie ein bunter Hund" gemacht. Es sollte sich im Laufe der mehr als siebzig Jahre seit Erscheinen als das erweisen, was die Buchbranche einen Longseller nennt. Bis heute sind mehr als eine Viertelmillion Exemplare allein in deutschsprachigen Ausgaben verkauft worden. Nimmt man die zahlreichen Übersetzungen in fast alle Weltsprachen hinzu, kommt man auf eine geschätzte Gesamtauflage in Millionenhöhe. Ein solcher, auch kommerzieller Erfolg für eine Sammlung sprachlich komplexer und inhaltlich voraussetzungsvoller philosophischer Texte ist ganz ungewöhnlich.
Dass dieses Buch als das persönlichste seines Autors zugleich dessen am meisten verbreitetes wurde, hat eine Vielzahl von Gründen. Die wichtigsten dürfte die Stilgebärde und die aphoristische Kompositionsweise dieser miniaturhaft kompakten Textstücke sein, darüber hinaus die existenzielle Zielrichtung der 153 Reflexionen. Es sind spezifische Betrachtungen des Geschichtsverlaufs, die ganz von den individuellen Erfahrungen des Autors ausgehen: idiosynkratisch registrierte Auflösungstendenzen einer bürgerlichen Welt, in der die antibürgerlichen Intellektuellen, zu denen sich der Verfasser der "Minima Moralia" zählt, "die letzten Feinde der Bürger sind und die letzten Bürger zugleich". Die guten Eigenschaften der bürgerlichen Lebensform wie Bildung und Kultur, Autonomie und Voraussicht hätten, so Adornos Vivisektion, ihre Kehrseite enthüllt und sich als Egozentrik und Sturheit erwiesen. Was könnte aktueller sein als solch ein Satz: "Es ist dahin gekommen, daß Lüge wie Wahrheit klingt, Wahrheit wie Lüge."
Neben ihrem provokativen Bedeutungsüberschuss sind als ein weiteres auffälliges Moment die besondere dialektische Reflexionsweise und damit eigentümlich kontrastierend die literarische Prosaform der Aphorismen zu nennen. Kein Geringerer als Thomas Mann hat den Sprachstil in einem Brief an Adorno anerkannt. Er bekennt nebenbei, in besonderer Weise hätten ihn neben der begrifflichen Schärfe der Zeitdiagnosen die bildhaft entworfenen Szenen über Unscheinbares, Entlegenes berührt. Beispielhaft für diese metaphorischen Züge sind etwa die Deutungen über das Schicksal von Schneewittchen, die Trauer des Froschkönigs oder das Glück der zwei Hasen aus dem bekannten Volkslied. All dies sind Szenen, die der Autor seinem hoch entwickelten visuellen Gedächtnis verdankte, das nicht zuletzt zurückging auf eine mit eindrücklichen Farbbildern von Ludwig von Zumbusch ausgestattete Ausgabe des Liederbuchs. Es hat Adornos Kindheit begleitet, die "verwandelt einzuholen" ein Motiv seines Schreibens sei. Szenen aus diesem Buch mit Kinderliedern, ausgestattet von Friederike Merck und erstmals 1900 bei Schott's Söhne in Mainz erschienen, lässt Adorno in einzelnen Aphorismen motivisch anklingen.
***
Für einen Philosophen, der Bildlichkeit ein solches Gewicht beimisst, war es gewiss eine Genugtuung, welche Sorgfalt und Kreativität der Verlag von Peter Suhrkamp bei der äußeren grafischen Gestaltung seiner Bücher walten ließ - obwohl Adorno in einem Brief bemerkt hat, sich in die Präsentation seiner Bücher durch den Verlag grundsätzlich nicht einzumischen. Steuerungen der Wahrnehmung, die von der Eindrücklichkeit des Visuellen ausgehen, waren Adorno generell suspekt. Umso größer war die Verantwortung von Peter Suhrkamp, für diesen Titel des im Nachkriegsdeutschland noch so gut wie unbekannten Autors einen Grafiker mit dem richtigen Gespür zu finden.
Für die Ausstattung des Einbands der Erstauflage der "Minima Moralia" von dreitausend Exemplaren hatte sich Suhrkamp denn auch um einen der seinerzeit renommiertesten Grafiker bemüht, um Georg Alexander Mathéy (1884 bis 1968). Er sollte später durch die Erfindung des Posthornsatzes der Briefmarke der Deutschen Bundespost größere Bekanntheit erreichen, aber seine Leidenschaft galt in erster Linie der Buchkunst und Buchillustrationen. Er hatte selbst eine Schrift über Buchkunst und Grafik veröffentlicht und war zeitweilig Leiter des Klingspor-Museums für Buch- und Schriftkunst in Offenbach. So unkonventionell Mathéy als Künstlerpersönlichkeit auch gewesen sein mag - er hatte nebenbei Liebesverse in einem von ihm illustrierten Privatdruck veröffentlicht und in expressionistischer Manier gemalt -, der erste Bucheinband der "Minima Moralia" wirkt auf den heutigen Betrachter eher konventionell. Damals dürfte das Design freilich anders wahrgenommen worden sein. Grafiker sprechen in Bezug auf den Schrifttypus von einer frühen Form der als exklusiv geltenden Optima, wobei die Buchstaben in Form von Versalien bei der Herstellung manuell auf Papier übertragen wurden. Der Ladenpreis von fünfzehn D-Mark war für damalige Verhältnisse hoch. Immerhin hat dann eine Replik dieser Erstausgabe, die 2001 aus Anlass des fünfzigsten Jahrestags des Erscheinens der "Minima Moralia" zum Preis von 17,80 Euro aufgelegt wurde, noch einmal mehr als fünfundzwanzigtausend vermutlich nostalgisch gestimmte Leser gefunden.
Dieser retrospektiv gesehen unspektakulären Aufmachung der Erstausgabe folgten dann grafisch ambitionierte Entwürfe des der Moderne verpflichteten Grafikers Willy Fleckhaus (1925 bis 1983). Für die haptisch ansprechende Neuedition der Aphorismensammlung im kartonierten Paperback-Format, die 1962 unter der Ägide des mittlerweile den Verlag leitenden Siegfried Unselds verlegt wurde, verwendete Fleckhaus, der fortan das gesamte visuelle Erscheinungsbild von Suhrkamp prägen sollte, eine Grafik von Josef Albers (1888 bis 1976), des ehemaligen Bauhaus-Lehrers und Protagonisten der Minimal Art. Albers war 1933 in die USA emigriert und hatte sich mit seiner Gemäldeserie "Hommage to the Square" sowie als Lehrer von Eva Hesse, Robert Rauschenberg, Donald Judd und Kenneth Noland international einen Namen gemacht. Nach dem Krieg lehrte Albers ein Jahr lang an der Hochschule für Gestaltung in Ulm. Von ihm ist der Satz überliefert: "Nur der Schein trügt nicht", eine Sentenz, die dialektisch gewendet auch in den "Minima Moralia" hätte stehen können.
Die mit Linien und Flächen experimentierende geometrische Abstraktion, die Fleckhaus für eine neue Covergestaltung nicht nur der "Minima Moralia", sondern auch für die Neuauflage von Adornos Buch "Kierkegaard - Konstruktion des Ästhetischen" verwendet, ist im Stil einer Art optischen Täuschung gearbeitet. Der Betrachter wird angehalten, die irritierende Form der verschachtelten Quader als Allegorie zu dechiffrieren. So wie das Optische der von George Steiner im "Times Literary Supplement" ausgerufenen "Suhrkamp Kultur" ein Bekenntnis zur Moderne sein sollte, hat Fleckhaus für die zweite Auflage von Adornos Buch ein unorthodoxes buchgestalterisches Design entwickelt. Es bezeugt, dass der ungewöhnliche Grafiker, der jahrzehntelang das progressive Jugendmagazin "twen" gestaltet hat, ein Sensorium für den Inhalt der "Minima Moralia" und darüber hinaus für Adornos Dialektik hatte. Wollte die Umschlaggestaltung eine Botschaft über den Buchinhalt, gar eine Rezeptionsanweisung sein? So animierend die Präsentation mit der grafischen Konstruktion des weltbekannten Künstlers Albers als Medium für den Buchinhalt auch war, diese Edition mit ihrer Auflage von circa neuntausend Exemplaren hat trotz des niedrigen Preises von 9,80 D-Mark nicht die Verbreitung gefunden, die sie angesichts des ästhetischen Aufwandes verdient hätte.
***
Eine enorme, kontinuierliche Auflagensteigerung erreichte der Titel erst durch die dem fortschrittlichen Zeitgeschmack adäquate Typographie der letzten Ausgabe, die noch zu Lebzeiten Adornos herauskam. Dabei spielte das ästhetische Sendungsbewusstsein von Fleckhaus eine Rolle, das hervorragend zum Avantgardeanspruch des Verlagsprogramms unter der Leitung von Unseld passte. Durch formale Verknappung hatte Fleckhaus mittlerweile buchgestalterisch ein neuartiges Design entwickelt. Diese Botschaft über die ästhetische Präsentation kam auch für die 1969 gestartete neue Auflage der "Minima Moralia" zum Zuge, die nunmehr im Programm der "Bibliothek Suhrkamp - Klassiker der Moderne" erschien.
Die Nüchternheit der Aufmachung, das Format und die Typographie ohne dekoratives Beiwerk suggerieren Sachlichkeit und Intellektualität - ein Minimalismus, der ganz zum Titel beziehungsweise zur "Redundanzfreiheit" (Michael Schwarz) von Adornos Miniaturen passt. Dieses dezente Erscheinungsbild hat dem Buch im festen Einband und Schutzumschlag zum Preis von 7,80 D-Mark (heute kostet diese unverändert fortgeführte Ausgabe 23 Euro) die höchsten Auflagen beschert; aktuell sind es zweiunddreißig. Demgegenüber fiel die im Preis teurere Ausgabe innerhalb der zwanzigbändigen Adorno-Werkausgabe, die auch wieder Fleckhaus gestaltet hat, kaum ins Gewicht. Wesentlich stärkere Aufmerksamkeit und mehr Käufer fanden dann die "Minima Moralia" als Ausgabe der preiswerten Reihe "Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft". Von 2001 an sind davon fünfzigtausend Exemplare für jeweils 17,80 Euro verkauft worden - allerdings in einem Format, dem Adorno selbst höchst ambivalent gegenüberstand.
Adornos Verdikt gegen das Taschenbuch ist bekannt: Als schnell produzierte Massenware gehöre es zur Kulturindustrie. Als er anlässlich seines Besuchs der Buchmesse 1959 in der F.A.Z. unter dem Titel "Bibliographische Grillen" seine Beobachtungen über den Buchmarkt beschrieb, beklagte er bei zeitgenössischen Büchern den Mangel an "Courage zur eignen Form" und die Tendenz zum streamlining der Aufmachung; so büßten die Bücher überhaupt die "Würde des in sich Gehaltenen, Dauernden" ein. Dieses Kriterium für das richtige Buch im falschen Kommerz hätte er zugunsten der vorerst letzten Edition seiner "Minima Moralia" vermutlich gelten lassen. Denn in einem Aphorismus daraus hatte der Dialektiker "Nähe an Distanz" als Ideal postuliert.
Stefan Müller-Doohm lehrte bis zur Emeritierung Soziologie in Oldenburg. Er erarbeitet derzeit zusammen mit Helena Esther Grass ein Sonderheft der "Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft" unter dem Titel: "Adornos Minima Moralia - Poetik und Philosophie".
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Von Stefan Müller-Doohm
Als sich Adorno im Laufe des Jahres 1949 entschloss, nach Deutschland zurückzukehren, um nach zwölf Emigrationsjahren an seine Universität zurückzukehren, hatte er ein abgeschlossenes Manuskript im Reisegepäck, das ihm besonders am Herzen lag. Es waren tagebuchartige Aufzeichnungen, die er ab 1942 im kalifornischen Exil mit einer gewissen Regelmäßigkeit zu Papier gebracht hatte. Der glückliche Zufall wollte es, dass Peter Suhrkamp gerade seinen neuen Verlag in Frankfurt am Main gegründet hatte und dabei war, ein ambitioniertes belletristisches Programm mit Autoren wie Herrmann Hesse und Bertolt Brecht zu entwickeln. Sein Lektor Friedrich Podszus hatte die Kontaktaufnahme von Adorno sogleich freudig aufgegriffen und war Feuer und Flamme, als er dessen Manuskript zu Gesicht bekam.
So geschah es, dass diese "Reflexionen aus dem beschädigten Leben" unter dem exquisiten Titel "Minima Moralia" schon 1951 Teil des ersten Programms des jungen Frankfurter Verlags waren. Das Buch hat, der Aussage seines Autors zufolge, diesen über Nacht so "bekannt wie ein bunter Hund" gemacht. Es sollte sich im Laufe der mehr als siebzig Jahre seit Erscheinen als das erweisen, was die Buchbranche einen Longseller nennt. Bis heute sind mehr als eine Viertelmillion Exemplare allein in deutschsprachigen Ausgaben verkauft worden. Nimmt man die zahlreichen Übersetzungen in fast alle Weltsprachen hinzu, kommt man auf eine geschätzte Gesamtauflage in Millionenhöhe. Ein solcher, auch kommerzieller Erfolg für eine Sammlung sprachlich komplexer und inhaltlich voraussetzungsvoller philosophischer Texte ist ganz ungewöhnlich.
Dass dieses Buch als das persönlichste seines Autors zugleich dessen am meisten verbreitetes wurde, hat eine Vielzahl von Gründen. Die wichtigsten dürfte die Stilgebärde und die aphoristische Kompositionsweise dieser miniaturhaft kompakten Textstücke sein, darüber hinaus die existenzielle Zielrichtung der 153 Reflexionen. Es sind spezifische Betrachtungen des Geschichtsverlaufs, die ganz von den individuellen Erfahrungen des Autors ausgehen: idiosynkratisch registrierte Auflösungstendenzen einer bürgerlichen Welt, in der die antibürgerlichen Intellektuellen, zu denen sich der Verfasser der "Minima Moralia" zählt, "die letzten Feinde der Bürger sind und die letzten Bürger zugleich". Die guten Eigenschaften der bürgerlichen Lebensform wie Bildung und Kultur, Autonomie und Voraussicht hätten, so Adornos Vivisektion, ihre Kehrseite enthüllt und sich als Egozentrik und Sturheit erwiesen. Was könnte aktueller sein als solch ein Satz: "Es ist dahin gekommen, daß Lüge wie Wahrheit klingt, Wahrheit wie Lüge."
Neben ihrem provokativen Bedeutungsüberschuss sind als ein weiteres auffälliges Moment die besondere dialektische Reflexionsweise und damit eigentümlich kontrastierend die literarische Prosaform der Aphorismen zu nennen. Kein Geringerer als Thomas Mann hat den Sprachstil in einem Brief an Adorno anerkannt. Er bekennt nebenbei, in besonderer Weise hätten ihn neben der begrifflichen Schärfe der Zeitdiagnosen die bildhaft entworfenen Szenen über Unscheinbares, Entlegenes berührt. Beispielhaft für diese metaphorischen Züge sind etwa die Deutungen über das Schicksal von Schneewittchen, die Trauer des Froschkönigs oder das Glück der zwei Hasen aus dem bekannten Volkslied. All dies sind Szenen, die der Autor seinem hoch entwickelten visuellen Gedächtnis verdankte, das nicht zuletzt zurückging auf eine mit eindrücklichen Farbbildern von Ludwig von Zumbusch ausgestattete Ausgabe des Liederbuchs. Es hat Adornos Kindheit begleitet, die "verwandelt einzuholen" ein Motiv seines Schreibens sei. Szenen aus diesem Buch mit Kinderliedern, ausgestattet von Friederike Merck und erstmals 1900 bei Schott's Söhne in Mainz erschienen, lässt Adorno in einzelnen Aphorismen motivisch anklingen.
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Für einen Philosophen, der Bildlichkeit ein solches Gewicht beimisst, war es gewiss eine Genugtuung, welche Sorgfalt und Kreativität der Verlag von Peter Suhrkamp bei der äußeren grafischen Gestaltung seiner Bücher walten ließ - obwohl Adorno in einem Brief bemerkt hat, sich in die Präsentation seiner Bücher durch den Verlag grundsätzlich nicht einzumischen. Steuerungen der Wahrnehmung, die von der Eindrücklichkeit des Visuellen ausgehen, waren Adorno generell suspekt. Umso größer war die Verantwortung von Peter Suhrkamp, für diesen Titel des im Nachkriegsdeutschland noch so gut wie unbekannten Autors einen Grafiker mit dem richtigen Gespür zu finden.
Für die Ausstattung des Einbands der Erstauflage der "Minima Moralia" von dreitausend Exemplaren hatte sich Suhrkamp denn auch um einen der seinerzeit renommiertesten Grafiker bemüht, um Georg Alexander Mathéy (1884 bis 1968). Er sollte später durch die Erfindung des Posthornsatzes der Briefmarke der Deutschen Bundespost größere Bekanntheit erreichen, aber seine Leidenschaft galt in erster Linie der Buchkunst und Buchillustrationen. Er hatte selbst eine Schrift über Buchkunst und Grafik veröffentlicht und war zeitweilig Leiter des Klingspor-Museums für Buch- und Schriftkunst in Offenbach. So unkonventionell Mathéy als Künstlerpersönlichkeit auch gewesen sein mag - er hatte nebenbei Liebesverse in einem von ihm illustrierten Privatdruck veröffentlicht und in expressionistischer Manier gemalt -, der erste Bucheinband der "Minima Moralia" wirkt auf den heutigen Betrachter eher konventionell. Damals dürfte das Design freilich anders wahrgenommen worden sein. Grafiker sprechen in Bezug auf den Schrifttypus von einer frühen Form der als exklusiv geltenden Optima, wobei die Buchstaben in Form von Versalien bei der Herstellung manuell auf Papier übertragen wurden. Der Ladenpreis von fünfzehn D-Mark war für damalige Verhältnisse hoch. Immerhin hat dann eine Replik dieser Erstausgabe, die 2001 aus Anlass des fünfzigsten Jahrestags des Erscheinens der "Minima Moralia" zum Preis von 17,80 Euro aufgelegt wurde, noch einmal mehr als fünfundzwanzigtausend vermutlich nostalgisch gestimmte Leser gefunden.
Dieser retrospektiv gesehen unspektakulären Aufmachung der Erstausgabe folgten dann grafisch ambitionierte Entwürfe des der Moderne verpflichteten Grafikers Willy Fleckhaus (1925 bis 1983). Für die haptisch ansprechende Neuedition der Aphorismensammlung im kartonierten Paperback-Format, die 1962 unter der Ägide des mittlerweile den Verlag leitenden Siegfried Unselds verlegt wurde, verwendete Fleckhaus, der fortan das gesamte visuelle Erscheinungsbild von Suhrkamp prägen sollte, eine Grafik von Josef Albers (1888 bis 1976), des ehemaligen Bauhaus-Lehrers und Protagonisten der Minimal Art. Albers war 1933 in die USA emigriert und hatte sich mit seiner Gemäldeserie "Hommage to the Square" sowie als Lehrer von Eva Hesse, Robert Rauschenberg, Donald Judd und Kenneth Noland international einen Namen gemacht. Nach dem Krieg lehrte Albers ein Jahr lang an der Hochschule für Gestaltung in Ulm. Von ihm ist der Satz überliefert: "Nur der Schein trügt nicht", eine Sentenz, die dialektisch gewendet auch in den "Minima Moralia" hätte stehen können.
Die mit Linien und Flächen experimentierende geometrische Abstraktion, die Fleckhaus für eine neue Covergestaltung nicht nur der "Minima Moralia", sondern auch für die Neuauflage von Adornos Buch "Kierkegaard - Konstruktion des Ästhetischen" verwendet, ist im Stil einer Art optischen Täuschung gearbeitet. Der Betrachter wird angehalten, die irritierende Form der verschachtelten Quader als Allegorie zu dechiffrieren. So wie das Optische der von George Steiner im "Times Literary Supplement" ausgerufenen "Suhrkamp Kultur" ein Bekenntnis zur Moderne sein sollte, hat Fleckhaus für die zweite Auflage von Adornos Buch ein unorthodoxes buchgestalterisches Design entwickelt. Es bezeugt, dass der ungewöhnliche Grafiker, der jahrzehntelang das progressive Jugendmagazin "twen" gestaltet hat, ein Sensorium für den Inhalt der "Minima Moralia" und darüber hinaus für Adornos Dialektik hatte. Wollte die Umschlaggestaltung eine Botschaft über den Buchinhalt, gar eine Rezeptionsanweisung sein? So animierend die Präsentation mit der grafischen Konstruktion des weltbekannten Künstlers Albers als Medium für den Buchinhalt auch war, diese Edition mit ihrer Auflage von circa neuntausend Exemplaren hat trotz des niedrigen Preises von 9,80 D-Mark nicht die Verbreitung gefunden, die sie angesichts des ästhetischen Aufwandes verdient hätte.
***
Eine enorme, kontinuierliche Auflagensteigerung erreichte der Titel erst durch die dem fortschrittlichen Zeitgeschmack adäquate Typographie der letzten Ausgabe, die noch zu Lebzeiten Adornos herauskam. Dabei spielte das ästhetische Sendungsbewusstsein von Fleckhaus eine Rolle, das hervorragend zum Avantgardeanspruch des Verlagsprogramms unter der Leitung von Unseld passte. Durch formale Verknappung hatte Fleckhaus mittlerweile buchgestalterisch ein neuartiges Design entwickelt. Diese Botschaft über die ästhetische Präsentation kam auch für die 1969 gestartete neue Auflage der "Minima Moralia" zum Zuge, die nunmehr im Programm der "Bibliothek Suhrkamp - Klassiker der Moderne" erschien.
Die Nüchternheit der Aufmachung, das Format und die Typographie ohne dekoratives Beiwerk suggerieren Sachlichkeit und Intellektualität - ein Minimalismus, der ganz zum Titel beziehungsweise zur "Redundanzfreiheit" (Michael Schwarz) von Adornos Miniaturen passt. Dieses dezente Erscheinungsbild hat dem Buch im festen Einband und Schutzumschlag zum Preis von 7,80 D-Mark (heute kostet diese unverändert fortgeführte Ausgabe 23 Euro) die höchsten Auflagen beschert; aktuell sind es zweiunddreißig. Demgegenüber fiel die im Preis teurere Ausgabe innerhalb der zwanzigbändigen Adorno-Werkausgabe, die auch wieder Fleckhaus gestaltet hat, kaum ins Gewicht. Wesentlich stärkere Aufmerksamkeit und mehr Käufer fanden dann die "Minima Moralia" als Ausgabe der preiswerten Reihe "Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft". Von 2001 an sind davon fünfzigtausend Exemplare für jeweils 17,80 Euro verkauft worden - allerdings in einem Format, dem Adorno selbst höchst ambivalent gegenüberstand.
Adornos Verdikt gegen das Taschenbuch ist bekannt: Als schnell produzierte Massenware gehöre es zur Kulturindustrie. Als er anlässlich seines Besuchs der Buchmesse 1959 in der F.A.Z. unter dem Titel "Bibliographische Grillen" seine Beobachtungen über den Buchmarkt beschrieb, beklagte er bei zeitgenössischen Büchern den Mangel an "Courage zur eignen Form" und die Tendenz zum streamlining der Aufmachung; so büßten die Bücher überhaupt die "Würde des in sich Gehaltenen, Dauernden" ein. Dieses Kriterium für das richtige Buch im falschen Kommerz hätte er zugunsten der vorerst letzten Edition seiner "Minima Moralia" vermutlich gelten lassen. Denn in einem Aphorismus daraus hatte der Dialektiker "Nähe an Distanz" als Ideal postuliert.
Stefan Müller-Doohm lehrte bis zur Emeritierung Soziologie in Oldenburg. Er erarbeitet derzeit zusammen mit Helena Esther Grass ein Sonderheft der "Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft" unter dem Titel: "Adornos Minima Moralia - Poetik und Philosophie".
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.