Wer zum erstenmal nach Minsk kommt, ist irritiert und überwältigt von den riesigen Boulevards, den endlosen Parks mitten im Zentrum, den vielen mit sonderbarem Dekor reich verzierten Palästen.Von den Sowjets als ideale Stadt, als Verwirklichung der kommunistischen Utopie entworfen, hat Minsk sich in einen Raum des Absurden verwandelt: architektonisches Monument einer Stadt des Glücks und Ausdruck der Unmöglichkeit, es zu erlangen. Hier findet der Kampf um die Zukunft statt, die Demokratie drängt hinein, die die Errichtung einer idealen Stadt schon immer torpediert hat. Der weißrussische Künstler, Architekt und Publizist Artur Klinau porträtiert die »Sonnenstadt der Träume«, erzählt vom Widerstand gegen die Diktatur Lukaschenkos und konstatiert das Verschwinden Europas in der Dämmerzone Weißrussland.Artur Klina , geboren 1965, ist Herausgeber des einzigen Magazins für zeitgenössische Kunst in Weißrussland pARTisan. Er lebt in Minsk.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.09.2008In giftigen Dämpfen
Der schöne Wahnsinn der weißrussischen Literatur
Man hat ja schon gehört, dass die ausgebuffte weißrussische Autokratie mit den perfidesten Methoden gegen die Kulturbewegung in ihrem Land vorgeht. Aber die Maßnahme, von der Artur Klinau in der Heinrich Böll-Stiftung an diesem Berliner Septemberabend berichtet, übertrifft denn doch alle Vorstellungskraft. „Bei uns gibt es drei Sorten von Getränken”, setzt der Künstler und Schriftsteller an, um die etwas ungewöhnliche Frage eines Herren aus dem Publikum nach dem richtigen Gastgeschenk für einen Besuch in Minsk zu beantworten. Schließlich ging es bei der Veranstaltung nicht etwa um die Tücken des interkulturellen Schenkens, sondern um das Thema „Weißrussland – Literatur aus der ,Retro-Utopie‘”. „Es gibt, wie Sie sicher wissen, den Wodka, dann den üblen Wein aus Kartoffeln oder Autoreifen und dann den trockenen Wein für unsere Intellektuellen. Letztens war ich mal wieder im Supermarkt und habe festgestellt, dass selbst der billigste trockene Wein mittlerweile zehn US-Dollar kostet. Da habe ich mir gedacht: Wieder so ein Versuch unseres Staates, unsere Intellektuellen zu vernichten. Wenn Sie also etwas Gutes tun wollen, bringen Sie trockenen Wein nach Minsk.”
Dieser ätzende, aber nicht unattraktive Zynismus ist durchaus typisch für die Generation der Intellektuellen, für die der 43-jährige Klinau steht. Geboren, ausgebildet wurden sie in der Sowjetunion und mit einer kurzen Phase einer demokratischen, aber wild-nationalen Orientierung ihres Landes landeten sie im Staat des Aleksandr Lukaschenko, der mittlerweile im fünfzehnten Jahr regiert. Mit solch einem Lebensweg hat man wohl kaum noch Illusionen und Utopien – es sei denn, man schafft sie sich selbst. Wie es eben Klinau in seinem wunderbaren Buch „Minsk. Sonnenstadt der Träume” getan hat, in dem er seine architektonisch ziemlich verhunzte Heimatstadt zu einem Mythos verklärt (SZ vom 2. Februar 2007). „Wenn man schon kein Glück kennt”, sagt Klinau, „kann man sich wenigstens eine Ästhetik des Glücks schaffen.” Tatsächlich trifft man häufig auf Traumwelten und Märchenländer in der zeitgenössischen weißrussischen Literatur, die an diesem Abend durch zwei ihrer Vertreter vorgestellt wurde.
Der Schmerz und die Kunst
Es ist nicht verwunderlich, dass der Suhrkamp Verlag mit Klinaus Bändchen einen ersten Schritt getan hat, dem hiesigen Publikum ein Stück moderne weißrussische Literatur zu präsentieren. Denn es ist zugänglich, amüsant und aufgeladen mit Erkenntnis-Drang. Eine ganz andere Literatur betreibt dagegen Alhierd Bacharevic, der hierzulande noch unbekannt ist, aber in seiner Heimat als großes Talent gilt. Mit ihm konnte man eine Spezies bewundern, die in unseren Breiten fast ausgestorben scheint: den avantgardistischen Literaten, der mit einer unterschwellig arrogant-aggressiven Haltung das hohe Lied des Kunstwollens singt. „Ich bin überzeugt davon, dass Kunst aus Schmerz entsteht”, sagte der 33-Jährige, der zurzeit in Hamburg lebt, mal in einem Interview ernsthaft.
Bacharevic, der auch Enzensberger-Gedichte ins Weißrussische übersetzt hat, ist Vertreter einer selbstbewussten jungen Generation, die beweist, dass sich in Weißrussland mehr bewegt, als im Westen registriert wird. „Heute liest die Jugend in meinem Land moderne junge Autoren”, sagte er. „Das wäre Anfang der Neunziger undenkbar gewesen, weil es sie nicht gab.” Entsprechend optimistisch äußerten sich er und auch Klinau über die Entwicklung der Kultur in ihrem Land.
Zwar wurde an diesem Abend dann noch an den üblichen weißrussischen Themen (Demokratie, Europa etc.) herumgekratzt, aber originelle Aussagen waren leider nicht zu hören. Bis zum Schluss, als die unvermeidliche Frage nach der „großen demokratischen Veränderung in Weißrussland” kam und Klinau von kosmischen Schwingungen, blauen Algen und giftigen Dämpfen zu fabulieren begann. Hier wurde klar: Weißrussische Literatur hat ein höchst attraktives Potential – das für den schönen Wahnsinn. INGO PETZ
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Der schöne Wahnsinn der weißrussischen Literatur
Man hat ja schon gehört, dass die ausgebuffte weißrussische Autokratie mit den perfidesten Methoden gegen die Kulturbewegung in ihrem Land vorgeht. Aber die Maßnahme, von der Artur Klinau in der Heinrich Böll-Stiftung an diesem Berliner Septemberabend berichtet, übertrifft denn doch alle Vorstellungskraft. „Bei uns gibt es drei Sorten von Getränken”, setzt der Künstler und Schriftsteller an, um die etwas ungewöhnliche Frage eines Herren aus dem Publikum nach dem richtigen Gastgeschenk für einen Besuch in Minsk zu beantworten. Schließlich ging es bei der Veranstaltung nicht etwa um die Tücken des interkulturellen Schenkens, sondern um das Thema „Weißrussland – Literatur aus der ,Retro-Utopie‘”. „Es gibt, wie Sie sicher wissen, den Wodka, dann den üblen Wein aus Kartoffeln oder Autoreifen und dann den trockenen Wein für unsere Intellektuellen. Letztens war ich mal wieder im Supermarkt und habe festgestellt, dass selbst der billigste trockene Wein mittlerweile zehn US-Dollar kostet. Da habe ich mir gedacht: Wieder so ein Versuch unseres Staates, unsere Intellektuellen zu vernichten. Wenn Sie also etwas Gutes tun wollen, bringen Sie trockenen Wein nach Minsk.”
Dieser ätzende, aber nicht unattraktive Zynismus ist durchaus typisch für die Generation der Intellektuellen, für die der 43-jährige Klinau steht. Geboren, ausgebildet wurden sie in der Sowjetunion und mit einer kurzen Phase einer demokratischen, aber wild-nationalen Orientierung ihres Landes landeten sie im Staat des Aleksandr Lukaschenko, der mittlerweile im fünfzehnten Jahr regiert. Mit solch einem Lebensweg hat man wohl kaum noch Illusionen und Utopien – es sei denn, man schafft sie sich selbst. Wie es eben Klinau in seinem wunderbaren Buch „Minsk. Sonnenstadt der Träume” getan hat, in dem er seine architektonisch ziemlich verhunzte Heimatstadt zu einem Mythos verklärt (SZ vom 2. Februar 2007). „Wenn man schon kein Glück kennt”, sagt Klinau, „kann man sich wenigstens eine Ästhetik des Glücks schaffen.” Tatsächlich trifft man häufig auf Traumwelten und Märchenländer in der zeitgenössischen weißrussischen Literatur, die an diesem Abend durch zwei ihrer Vertreter vorgestellt wurde.
Der Schmerz und die Kunst
Es ist nicht verwunderlich, dass der Suhrkamp Verlag mit Klinaus Bändchen einen ersten Schritt getan hat, dem hiesigen Publikum ein Stück moderne weißrussische Literatur zu präsentieren. Denn es ist zugänglich, amüsant und aufgeladen mit Erkenntnis-Drang. Eine ganz andere Literatur betreibt dagegen Alhierd Bacharevic, der hierzulande noch unbekannt ist, aber in seiner Heimat als großes Talent gilt. Mit ihm konnte man eine Spezies bewundern, die in unseren Breiten fast ausgestorben scheint: den avantgardistischen Literaten, der mit einer unterschwellig arrogant-aggressiven Haltung das hohe Lied des Kunstwollens singt. „Ich bin überzeugt davon, dass Kunst aus Schmerz entsteht”, sagte der 33-Jährige, der zurzeit in Hamburg lebt, mal in einem Interview ernsthaft.
Bacharevic, der auch Enzensberger-Gedichte ins Weißrussische übersetzt hat, ist Vertreter einer selbstbewussten jungen Generation, die beweist, dass sich in Weißrussland mehr bewegt, als im Westen registriert wird. „Heute liest die Jugend in meinem Land moderne junge Autoren”, sagte er. „Das wäre Anfang der Neunziger undenkbar gewesen, weil es sie nicht gab.” Entsprechend optimistisch äußerten sich er und auch Klinau über die Entwicklung der Kultur in ihrem Land.
Zwar wurde an diesem Abend dann noch an den üblichen weißrussischen Themen (Demokratie, Europa etc.) herumgekratzt, aber originelle Aussagen waren leider nicht zu hören. Bis zum Schluss, als die unvermeidliche Frage nach der „großen demokratischen Veränderung in Weißrussland” kam und Klinau von kosmischen Schwingungen, blauen Algen und giftigen Dämpfen zu fabulieren begann. Hier wurde klar: Weißrussische Literatur hat ein höchst attraktives Potential – das für den schönen Wahnsinn. INGO PETZ
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.08.2011Unter der Fuchtel des kleinen Imperators
Anfang vom Ende: Artur Klinau über die Proteste in seiner weißrussischen Heimat
Übernächtigt wirkt Artur Klinau, als er aus der U-Bahn-Station Warschauer Straße stapft. Hier, zwischen den jungen Selbstverwirklichern, die es in die Zwischenwelt des Berliner Viertels Friedrichshain zieht, fällt dieser Zustand nicht sonderlich auf. Klinau war am Abend zuvor im Tacheles, der bekannten Kunst- und Freak-Oase in Mitte. Dort hat er einen Freund besucht, den Maler Aleksandr Rodin. Wie Klinau stammt er aus Weißrussland. Die Republik Belarus kennt man meist nicht wegen ihrer Künstler, sondern wegen ihres autokratischen Präsidenten Aleksandr Lukaschenka.
Klinau ist so etwas wie ein Kunst-Partisan. In der repressiven Kulturlandschaft seines Landes versteht er es, seine funkelnden Ideen mit subversiven Mitteln auszudrücken, als Performance- und Foto-Künstler, als Maler und als Schriftsteller. Er spielt mit den sowjetischen und nationalen Mythen seines Landes und dem kulturellen Erbe anderer Länder. Außerdem ist er Herausgeber der Zeitschrift "pARTizsan", der einzigen Publikation Weißrusslands, die sich auf hohem Niveau mit zeitgenössischer Kunst beschäftigt. "Artur Klinau ist ein lokaler Andy Warhol in der Zeit eines staatlich-regulierten Marktes", sagt der Kulturwissenschaftler Maksim Zhbankow. "Er ist ein belarussischer Lennon, der unter dem Einfluss von im eigenen Land gezogenen Magic Mushrooms steht. Er ist der Soundtrack der tanzwütigsten und komischsten Baracken in unserem Gefangenenlager." Für eines seiner Projekte etwa hat Klinau einen alten Koffer genommen und ihn mit einigen Gläsern gefüllt, in denen Sauerkraut eingemacht war. Auf dem Deckel des Koffers stand: "Karl Marx. Das Kapital." Einen anderen Koffer hat er "Lenins Werke" genannt. Darin: Molotow-Cocktails. Klinaus aus Stroh nachgebaute Architekturdenkmäler wie das "Tor von Sluzk" sind legendär.
Seit ein paar Jahren versucht sich Klinau auch als Schriftsteller. Im Suhrkamp Verlag erschien sein Buch "Minsk. Sonnenstadt der Träume". Es war seit mehr als zehn Jahren das erste Buch eines belarussischen Autors, das ins Deutsche übersetzt worden ist. In dem schmalen essayartigen Band spinnt Klinau für seine Heimatstadt die Utopie einer Stadt des Glücks. Er verquickt den Stoff mit autobiographischen Anekdoten, literarischen Beobachtungen, politischen, architektonischen und historischen Einwürfen. Für Weißrussland-Reisende und -Interessierte ist das Büchlein unentbehrlich. In Weißrussland ist Anfang des Jahres sein erster Roman erschienen: "Schalom", auf Deutsch "Der Helm". Er arbeite aber bereits an einem neuen Roman, erzählt er während eines Spaziergangs durch Kreuzberg. Klinau gefällt das Leben in der Stadt Berlin, in der er auf Einladung einer Stiftung vier Wochen zu Gast ist. Über seinen Aufenthalt schreibt er einen Blog unter "literaturraum.de". Es sei ganz gut, sagt er, wenn man ab und zu ein wenig Freiheit atmen kann.
Freiheit, auch die künstlerische, ist in Weißrussland ein rares Gut. Seit Ende vorigen Jahres scheint sich das Regime Lukaschenka wieder auf seine sowjetischen Unterdrückungsmethoden zu besinnen. Zudem droht dem Land der wirtschaftliche Kollaps. Die Gesellschaft, auch die Kultur stünden unter großem Druck, sagt Klinau. Als Anfang Juni die Weißrussen auf die Straße gingen, ließ das Regime mehr als zweitausend Demonstranten verhaften. Das harte Vorgehen zeigte Wirkung. Ende Juli waren die Proteste versiegt. "Sicher war es trotzdem richtig", sagt Klinau. "Es zeigt, dass es Menschen gibt, die bereit sind, etwas zu unternehmen, um ihr Leben zu verändern." Dennoch hätten die Proteste nicht die Kraft gehabt, einen politischen Wechsel herbeizuführen. "In den vielen Jahren bin ich Realist geworden", sagt Klinau. "Man hat schon so oft gesagt, dass es zum Wechsel kommt. Und dann? Sie sehen ja selbst, in was für einem Land wir leben." Dennoch glaubt Klinau, dass der Zerfallsprozess des Regimes begonnen hat.
"Wahn" nennt Klinau das, was in seinem Land vorgeht. "Das ist alles absurd, wie man versucht, die Macht aufrechtzuerhalten." Den Namen Lukaschenka nimmt Klinau nicht in den Mund, er nennt ihn nur "der kleine Imperator". Er sei längst nicht mehr Herr seines Schicksals. dabei tue er all das, was er als kleiner Imperator tun müsse. Aber es habe keine Bedeutung mehr für seine Macht. Die sei ihm längst entglitten. Niemand hat mehr die Macht, davon ist Klinau überzeugt, nicht einmal der russische Geheimdienst.
Man sollte Artur Klinaus Aussagen nicht als politische Analyse verstehen. Sie sind viel mehr sein Weg, sich den Ereignissen künstlerisch zu nähern. Dabei stößt man immer wieder auf einen tiefen, nahezu verstörenden Fatalismus. Dieser ist ein bedeutender Bestandteil der weißrussischen Mentalität. Schließlich waren die Weißrussen selten die Herren ihrer eigenen Geschichte. Sie waren stets Spielball von größeren Mächten und Reichen.
All dies werde auch in sein neues Buch einfließen, erzählt Klinau. Experten glauben, dass die Proteste in Weißrussland im Herbst wiederaufflammen könnten. "Ich selbst mache keine Prognosen mehr", sagt der Weißrusse. Aber er hält es nicht für sehr beruhigend, in einem Land zu leben, das gerade zerfällt und in dem verschiedene Gruppierungen um die Macht ringen. Dann verschwindet der weißrussische Künstler gelassen lächelnd im schwülen Abend der Hauptstadt.
INGO PETZ
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Anfang vom Ende: Artur Klinau über die Proteste in seiner weißrussischen Heimat
Übernächtigt wirkt Artur Klinau, als er aus der U-Bahn-Station Warschauer Straße stapft. Hier, zwischen den jungen Selbstverwirklichern, die es in die Zwischenwelt des Berliner Viertels Friedrichshain zieht, fällt dieser Zustand nicht sonderlich auf. Klinau war am Abend zuvor im Tacheles, der bekannten Kunst- und Freak-Oase in Mitte. Dort hat er einen Freund besucht, den Maler Aleksandr Rodin. Wie Klinau stammt er aus Weißrussland. Die Republik Belarus kennt man meist nicht wegen ihrer Künstler, sondern wegen ihres autokratischen Präsidenten Aleksandr Lukaschenka.
Klinau ist so etwas wie ein Kunst-Partisan. In der repressiven Kulturlandschaft seines Landes versteht er es, seine funkelnden Ideen mit subversiven Mitteln auszudrücken, als Performance- und Foto-Künstler, als Maler und als Schriftsteller. Er spielt mit den sowjetischen und nationalen Mythen seines Landes und dem kulturellen Erbe anderer Länder. Außerdem ist er Herausgeber der Zeitschrift "pARTizsan", der einzigen Publikation Weißrusslands, die sich auf hohem Niveau mit zeitgenössischer Kunst beschäftigt. "Artur Klinau ist ein lokaler Andy Warhol in der Zeit eines staatlich-regulierten Marktes", sagt der Kulturwissenschaftler Maksim Zhbankow. "Er ist ein belarussischer Lennon, der unter dem Einfluss von im eigenen Land gezogenen Magic Mushrooms steht. Er ist der Soundtrack der tanzwütigsten und komischsten Baracken in unserem Gefangenenlager." Für eines seiner Projekte etwa hat Klinau einen alten Koffer genommen und ihn mit einigen Gläsern gefüllt, in denen Sauerkraut eingemacht war. Auf dem Deckel des Koffers stand: "Karl Marx. Das Kapital." Einen anderen Koffer hat er "Lenins Werke" genannt. Darin: Molotow-Cocktails. Klinaus aus Stroh nachgebaute Architekturdenkmäler wie das "Tor von Sluzk" sind legendär.
Seit ein paar Jahren versucht sich Klinau auch als Schriftsteller. Im Suhrkamp Verlag erschien sein Buch "Minsk. Sonnenstadt der Träume". Es war seit mehr als zehn Jahren das erste Buch eines belarussischen Autors, das ins Deutsche übersetzt worden ist. In dem schmalen essayartigen Band spinnt Klinau für seine Heimatstadt die Utopie einer Stadt des Glücks. Er verquickt den Stoff mit autobiographischen Anekdoten, literarischen Beobachtungen, politischen, architektonischen und historischen Einwürfen. Für Weißrussland-Reisende und -Interessierte ist das Büchlein unentbehrlich. In Weißrussland ist Anfang des Jahres sein erster Roman erschienen: "Schalom", auf Deutsch "Der Helm". Er arbeite aber bereits an einem neuen Roman, erzählt er während eines Spaziergangs durch Kreuzberg. Klinau gefällt das Leben in der Stadt Berlin, in der er auf Einladung einer Stiftung vier Wochen zu Gast ist. Über seinen Aufenthalt schreibt er einen Blog unter "literaturraum.de". Es sei ganz gut, sagt er, wenn man ab und zu ein wenig Freiheit atmen kann.
Freiheit, auch die künstlerische, ist in Weißrussland ein rares Gut. Seit Ende vorigen Jahres scheint sich das Regime Lukaschenka wieder auf seine sowjetischen Unterdrückungsmethoden zu besinnen. Zudem droht dem Land der wirtschaftliche Kollaps. Die Gesellschaft, auch die Kultur stünden unter großem Druck, sagt Klinau. Als Anfang Juni die Weißrussen auf die Straße gingen, ließ das Regime mehr als zweitausend Demonstranten verhaften. Das harte Vorgehen zeigte Wirkung. Ende Juli waren die Proteste versiegt. "Sicher war es trotzdem richtig", sagt Klinau. "Es zeigt, dass es Menschen gibt, die bereit sind, etwas zu unternehmen, um ihr Leben zu verändern." Dennoch hätten die Proteste nicht die Kraft gehabt, einen politischen Wechsel herbeizuführen. "In den vielen Jahren bin ich Realist geworden", sagt Klinau. "Man hat schon so oft gesagt, dass es zum Wechsel kommt. Und dann? Sie sehen ja selbst, in was für einem Land wir leben." Dennoch glaubt Klinau, dass der Zerfallsprozess des Regimes begonnen hat.
"Wahn" nennt Klinau das, was in seinem Land vorgeht. "Das ist alles absurd, wie man versucht, die Macht aufrechtzuerhalten." Den Namen Lukaschenka nimmt Klinau nicht in den Mund, er nennt ihn nur "der kleine Imperator". Er sei längst nicht mehr Herr seines Schicksals. dabei tue er all das, was er als kleiner Imperator tun müsse. Aber es habe keine Bedeutung mehr für seine Macht. Die sei ihm längst entglitten. Niemand hat mehr die Macht, davon ist Klinau überzeugt, nicht einmal der russische Geheimdienst.
Man sollte Artur Klinaus Aussagen nicht als politische Analyse verstehen. Sie sind viel mehr sein Weg, sich den Ereignissen künstlerisch zu nähern. Dabei stößt man immer wieder auf einen tiefen, nahezu verstörenden Fatalismus. Dieser ist ein bedeutender Bestandteil der weißrussischen Mentalität. Schließlich waren die Weißrussen selten die Herren ihrer eigenen Geschichte. Sie waren stets Spielball von größeren Mächten und Reichen.
All dies werde auch in sein neues Buch einfließen, erzählt Klinau. Experten glauben, dass die Proteste in Weißrussland im Herbst wiederaufflammen könnten. "Ich selbst mache keine Prognosen mehr", sagt der Weißrusse. Aber er hält es nicht für sehr beruhigend, in einem Land zu leben, das gerade zerfällt und in dem verschiedene Gruppierungen um die Macht ringen. Dann verschwindet der weißrussische Künstler gelassen lächelnd im schwülen Abend der Hauptstadt.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Ingo Petz gerät ins Schwärmen über dieses Buch, das sich einer Stadt widmet, die wenig touristische Reize hat und gemeinhin als "graue Maus" gilt. Wie sich der Autor, Künstler und Architekt Artur Klinau mit seiner Heimatstadt Minsk auseinandersetzt, beeindruckt Petz sehr. Seine Streifzüge durch die Stadt, in der er seine Jugend verbracht hat, beinhalten "historische Ausflüge, philosophische Gedankenspiele, witzige und melancholische Anekdoten". Neben dieser Vielschichtigkeit lobt der Rezensent Klinaus "präzise und poetische Sprache", seine eher künstlerische als wissenschaftliche Herangehensweise. In diesem Zusammenhang findet Petz auch lobende Worte für den Suhrkamp Verlag, der dieses Buch in Auftrag gegeben hat. In dem Buch sieht Petz vor allem eine Hilfestellung, "die Einzigartigkeit dieser surrealen Stadt schätzen zu lernen" - ein Prozess, der nach Meinung des Rezensenten normalerweise sehr lange dauert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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