Die belarusische Dichterin Julia Cimafiejeva ist seit November letzten Jahres in Österreich. Im Rahmen des Programms "writers in exile" lebt sie zusammen mit ihrem Mann Alhierd Bacharevic in Graz. Sie hat dort ein Tagebuch weitergeführt, das sie seit den Tagen vor den Präsidentschaftswahlen in ihrem Land im August 2020 führt - eine Chronik der Ereignisse in klaren, eindrücklichen Worten, eine Chronik von Hoffnung und Gewalt, Notizen aus einem Land, das von einem absurden autoritären System in eine offene Diktatur abgleitet - weil die Bevölkerung aufgestanden ist und sich mit den Lügen der Machthaber nicht mehr abfinden will.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Kerstin Holm empfiehlt das teils im Grazer Exil der Autorin entstandene Tagebuch der belarussischen Dichterin Julia Cimafiejeva zur Erinnerung an die Ereignisse in Belarus vor einem Jahr. Dass das Engagement der Autorin für ihre Heimat älter ist, kommt dem Buch laut Holm zugute. So lernt der Leser auch die Stimmung vor den Wahlen kennen. Ferner erfährt Holm, dass die Frauen der Revolution wie Popstars gefeiert wurden und wie die Demonstranten einander Mut machten. Darüber hinaus vermittelt das Buch auch die Schuldgefühle der emigrierten Dichterin, meint Holm.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.08.2021Die Geliebte darf selbstredend geprügelt werden
Die exilierten Autoren Julia Cimafiejeva und Alhierd Bacharevi schreiben über Repression und Protest in ihrer belarussischen Heimat
Die Dichterin Julia Cimafiejeva und der Prosaautor Alhierd Bacharevi sind ein Literatenpaar aus Minsk, das sich seit Langem für einen europäischen Entwicklungsweg ihrer belarussischen Heimat engagiert. Kurz vor der Präsidentschaftswahl im August vorigen Jahres schrieb Cimafiejeva das Gedicht "My European Poem" über Unterdrückung und Angst in Belarus bewusst auf Englisch, der Sprache der Menschenrechtsorganisationen, wie es darin heißt, statt auf Belarussisch oder Russisch. Sie und Bacharevi , dessen jüngster Roman "Die Hunde Europas" eine dystopische Zukunft seines Landes als Provinz im Russischen Reich antizipiert, beteiligten sich bis zum Herbst an den Protesten, folgten dann aber einer Einladung nach Graz, wo sie heute wohnen. Ihr Tagebuch und seine Essays über die Ereignisse, die nun erschienen sind, entstanden teils in der Emigration.
Cimafiejevas Aufzeichnungen erinnern an die hoffnungsvolle Stimmung vor den Wahlen, trotz inhaftierter Kandidaten und verbotener Versammlungen. Das Frauentrio Tichanowskaja/Kolesnikowa/Zepkalo wurde von Menschenmengen gefeiert wie Popstars, zum Wählen zogen die Menschen sich festlich an, wie um sich durch Schönheit zu schützen. Doch die "Kosmonauten" - gepanzerte Polizisten der Sondereinheit Omon - erschienen schon vor der Abstimmung wie finstere Außerirdische und verhafteten willkürlich vorzugsweise jüngere männliche Passanten. Dennoch lag nach der Empörung über die offensichtlichen Wahlfälschungen vorigen August die Initiative zunächst bei den friedlichen Demonstranten, die mit Fotoserien von durch Hämatome entstellten Körpern die "Kunst des Regimes" auf die Straße brachten und einander durch gemeinsames Singen Mut machten.
Noch im Oktober besuchte die Dichterin eine konspirative Vorstellung der Truppe des Kupala-Theaters, die fast geschlossen gekündigt hatte und jetzt in schwarzen Sweatshirts spielte - um für den Fall, dass sie verhaftet würden, gefängnistaugliche Kleidung am Leib zu haben. Kurz vor ihrer Ausreise geriet Cimafiejevas Bruder in Haft, der glücklicherweise nicht zusammengeschlagen wurde und mit einer Geldstrafe davonkam. Umso mehr fühlt die Dichterin sich in der Sicherheit des österreichischen Exils vor ihren Landsleuten schuldig. Aus Solidarität mit den politischen Gefangenen schert sie sich den Kopf kahl, wie es zuvor belarussische Studentinnen taten. Und sie schreibt Briefe an belarussische Häftlinge, die sie nicht kennt, und ohne zu wissen, ob ihre Post bei den Adressaten überhaupt ankommt.
Bacharevi schreibt vom "kyrillischen", also wohl ostslawischen Faschismus des 21. Jahrhunderts, bei dem die Obrigkeit gegenüber der eigenen Bevölkerung Unterdrückungsmethoden anwendet, von denen diese aus Schulbüchern über den deutschen und europäischen Faschismus gelesen hat. Für ein gutes Gehalt und sichere Sozialbezüge machen Bewaffnete gezielt Jagd auf unbewaffnete Landsleute. Dabei kehrt das belarussische Regime rhetorisch den Spieß um und bezeichnet diejenigen, die ihr das vorwerfen, als die eigentlichen Faschisten, nach dem Prinzip der kindlichen Retourkutsche. Brave Babuschkas wiederholen die Slogans bereitwillig. Dabei weiß Bacharevi aus der eigenen Kindheit und eigenen Sadomaso-Fantasien, dass der Genuss an uneingeschränkter, amoralischer Machtausübung, die berauscht und das Bestialische im Menschen weckt, das Wesen des Faschismus ausmacht.
Für seinen Machtanspruch hat Präsident Lukaschenko den Slogan geprägt, die Geliebte - also Belarus - dürfe man nicht hergeben. Da er aber keine Entwicklungspläne für die "Geliebte" hat, sondern nur seine Macht erhalten will, versucht er ihr das Bestreben, seinem Unterdrückungsregime zu entwachsen, mit Gewalt auszutreiben. Ein Staatspropagandist, der Hassjournalist Andrej Mukowostschik, ruft, ganz im Stil der nationalsozialistischen Presse, dazu auf, Oppositionelle öffentlich aufzuhängen, was mit dem offensichtlichen Mord an dem Exilanten Vitali Schischow in Kiew eine schrecklich buchstäbliche Bedeutung erhalten hat.
Bacharevi stellt fest, dass die belarussische Gesellschaft als Folge ihrer katastrophenreichen Geschichte von einem Ultrapazifismus geprägt ist, den er spießbürgerlich nennt, weil er sich früher oder später mit jeglichem Unrecht arrangiert. Auf ihn scheint das Regime zu rechnen. Falls diese Rechnung aufgeht, werde auch die traurige Fiktion seines erwähnten Romans von den "Hunden Europas" wahr werden, glaubt Bacharevi . In einer solchen Provinz des russischen Reichs, die dann auch ihre Sprache preisgeben werde, habe er, bekennt der Exilant, nicht vor zu leben. KERSTIN HOLM.
Julia Cimafiejeva: "Minsk". Tagebuch.
Aus dem Englischen von Andreas Rostek Edition.fotoTAPETA, Berlin 2021. 123 S., br., 13,- Euro.
Alhierd Bacharevi : "Sie haben schon verloren". Repression und Revolte in Belarus.
Edition.fotoTAPETA, Berlin 2021. 91 S., br., 9,50 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die exilierten Autoren Julia Cimafiejeva und Alhierd Bacharevi schreiben über Repression und Protest in ihrer belarussischen Heimat
Die Dichterin Julia Cimafiejeva und der Prosaautor Alhierd Bacharevi sind ein Literatenpaar aus Minsk, das sich seit Langem für einen europäischen Entwicklungsweg ihrer belarussischen Heimat engagiert. Kurz vor der Präsidentschaftswahl im August vorigen Jahres schrieb Cimafiejeva das Gedicht "My European Poem" über Unterdrückung und Angst in Belarus bewusst auf Englisch, der Sprache der Menschenrechtsorganisationen, wie es darin heißt, statt auf Belarussisch oder Russisch. Sie und Bacharevi , dessen jüngster Roman "Die Hunde Europas" eine dystopische Zukunft seines Landes als Provinz im Russischen Reich antizipiert, beteiligten sich bis zum Herbst an den Protesten, folgten dann aber einer Einladung nach Graz, wo sie heute wohnen. Ihr Tagebuch und seine Essays über die Ereignisse, die nun erschienen sind, entstanden teils in der Emigration.
Cimafiejevas Aufzeichnungen erinnern an die hoffnungsvolle Stimmung vor den Wahlen, trotz inhaftierter Kandidaten und verbotener Versammlungen. Das Frauentrio Tichanowskaja/Kolesnikowa/Zepkalo wurde von Menschenmengen gefeiert wie Popstars, zum Wählen zogen die Menschen sich festlich an, wie um sich durch Schönheit zu schützen. Doch die "Kosmonauten" - gepanzerte Polizisten der Sondereinheit Omon - erschienen schon vor der Abstimmung wie finstere Außerirdische und verhafteten willkürlich vorzugsweise jüngere männliche Passanten. Dennoch lag nach der Empörung über die offensichtlichen Wahlfälschungen vorigen August die Initiative zunächst bei den friedlichen Demonstranten, die mit Fotoserien von durch Hämatome entstellten Körpern die "Kunst des Regimes" auf die Straße brachten und einander durch gemeinsames Singen Mut machten.
Noch im Oktober besuchte die Dichterin eine konspirative Vorstellung der Truppe des Kupala-Theaters, die fast geschlossen gekündigt hatte und jetzt in schwarzen Sweatshirts spielte - um für den Fall, dass sie verhaftet würden, gefängnistaugliche Kleidung am Leib zu haben. Kurz vor ihrer Ausreise geriet Cimafiejevas Bruder in Haft, der glücklicherweise nicht zusammengeschlagen wurde und mit einer Geldstrafe davonkam. Umso mehr fühlt die Dichterin sich in der Sicherheit des österreichischen Exils vor ihren Landsleuten schuldig. Aus Solidarität mit den politischen Gefangenen schert sie sich den Kopf kahl, wie es zuvor belarussische Studentinnen taten. Und sie schreibt Briefe an belarussische Häftlinge, die sie nicht kennt, und ohne zu wissen, ob ihre Post bei den Adressaten überhaupt ankommt.
Bacharevi schreibt vom "kyrillischen", also wohl ostslawischen Faschismus des 21. Jahrhunderts, bei dem die Obrigkeit gegenüber der eigenen Bevölkerung Unterdrückungsmethoden anwendet, von denen diese aus Schulbüchern über den deutschen und europäischen Faschismus gelesen hat. Für ein gutes Gehalt und sichere Sozialbezüge machen Bewaffnete gezielt Jagd auf unbewaffnete Landsleute. Dabei kehrt das belarussische Regime rhetorisch den Spieß um und bezeichnet diejenigen, die ihr das vorwerfen, als die eigentlichen Faschisten, nach dem Prinzip der kindlichen Retourkutsche. Brave Babuschkas wiederholen die Slogans bereitwillig. Dabei weiß Bacharevi aus der eigenen Kindheit und eigenen Sadomaso-Fantasien, dass der Genuss an uneingeschränkter, amoralischer Machtausübung, die berauscht und das Bestialische im Menschen weckt, das Wesen des Faschismus ausmacht.
Für seinen Machtanspruch hat Präsident Lukaschenko den Slogan geprägt, die Geliebte - also Belarus - dürfe man nicht hergeben. Da er aber keine Entwicklungspläne für die "Geliebte" hat, sondern nur seine Macht erhalten will, versucht er ihr das Bestreben, seinem Unterdrückungsregime zu entwachsen, mit Gewalt auszutreiben. Ein Staatspropagandist, der Hassjournalist Andrej Mukowostschik, ruft, ganz im Stil der nationalsozialistischen Presse, dazu auf, Oppositionelle öffentlich aufzuhängen, was mit dem offensichtlichen Mord an dem Exilanten Vitali Schischow in Kiew eine schrecklich buchstäbliche Bedeutung erhalten hat.
Bacharevi stellt fest, dass die belarussische Gesellschaft als Folge ihrer katastrophenreichen Geschichte von einem Ultrapazifismus geprägt ist, den er spießbürgerlich nennt, weil er sich früher oder später mit jeglichem Unrecht arrangiert. Auf ihn scheint das Regime zu rechnen. Falls diese Rechnung aufgeht, werde auch die traurige Fiktion seines erwähnten Romans von den "Hunden Europas" wahr werden, glaubt Bacharevi . In einer solchen Provinz des russischen Reichs, die dann auch ihre Sprache preisgeben werde, habe er, bekennt der Exilant, nicht vor zu leben. KERSTIN HOLM.
Julia Cimafiejeva: "Minsk". Tagebuch.
Aus dem Englischen von Andreas Rostek Edition.fotoTAPETA, Berlin 2021. 123 S., br., 13,- Euro.
Alhierd Bacharevi : "Sie haben schon verloren". Repression und Revolte in Belarus.
Edition.fotoTAPETA, Berlin 2021. 91 S., br., 9,50 Euro.
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