Seit Jahren wächst in Deutschland die Zahl der Unternehmen. Noch schneller wächst die Zahl der Insolvenzen. Der unsichere Arbeitsmarkt drängt immer mehr Menschen, sich selbst anzustellen, trotz ungenügender Finanzierung. Wer scheitert, hat es wenigstens versucht. Eine Zeitlang darf man handeln, als würden dann die Träume wahr. Wenn nicht, verspricht nur ein neues Unternehmen den baldigen Ausgleich der Verluste. Doch wie oft läßt sich der Neuanfang wiederholen?
Ingo Niemann befragt fünfzehn Wagemutige, die bereits ein oder mehrere Unternehmen hinter sich haben: ob Sägewerk, panpazifische Küche, Anlagebetrug oder Pornodreh. Mit dem Hauptaugenmerk auf Berlin seit der Wiedervereinigung, fügen sich die verschiedenen Schicksale zu einer neuen deutschen Wirtschaftsgeschichte zwischen Soll und Sollen.
Ingo Niemann befragt fünfzehn Wagemutige, die bereits ein oder mehrere Unternehmen hinter sich haben: ob Sägewerk, panpazifische Küche, Anlagebetrug oder Pornodreh. Mit dem Hauptaugenmerk auf Berlin seit der Wiedervereinigung, fügen sich die verschiedenen Schicksale zu einer neuen deutschen Wirtschaftsgeschichte zwischen Soll und Sollen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.12.2003Wie ich mein Kunde war
Ingo Niermann beschreibt den süßen Wahn einer Gründerzeit
Nichts ist langweiliger, als sich über die geplatzten Träume und Hoffnungen der Generation Dotcom Gedanken zu machen, deren Start ups mit dem Zusammenbruch der New Economy von der Bildfläche verschwanden. Sowohl aus der Perspektive des um den Erfolg betrogenen Mitmischers, der lamentiert, hier sei seine Generation um ihre Gründerzeit gebracht worden; als auch aus der Perspektive dessen, der den Aufsprung auf den davonrasenden Zug nicht schaffte und zeitweise befürchten musste, als Modernisierungsverlierer von seinen prosperierenden Altersgenossen stehen gelassen zu werde. Da mag er jetzt noch so befriedigt resümieren, bei nüchternem Verstande sei der Seifenblasencharakter des Neuen Marktes schon immer absehbar gewesen. Die vornehmste Aufgabe der Seifenblase ist es, bunt zu schillern und dann zu platzen – sie findet darin geradezu ihre Erfüllung. Ohne das Moment der Selbstverausgabung gäbe es nur business as usual in der muckerhaften Zange zwischen Soll und Haben.
Ingo Niermann hat fünfzehn junge Menschen befragt, die mehrheitlich in Berlin und in den neunziger Jahren ein eigenes Unternehmen gründeten, damit scheiterten und auf den ersten Blick vor allem Schulden hinterließen. Es sind Protokolle, in denen die Interviewten in weit ausholenden Bögen ihre Lebensgeschichte erzählen. „Minusvisionen – Unternehmer ohne Geld” nennt Niermann sein Buch. Es scheint perfekt hineinzupassen in die Zeit der Rezession – als Illustration für die verlorenen Illusionen einer Generation. Aber damit würde man dem Reichtum, der Kraft, der Zartheit und auch dem vitalistischen Elan dieser Protokolle nicht gerecht werden. Die zudem zum größten Teil im Frühjahr 2000 geführt wurden, also vor (oder während) des großen Börsencrashs. Insofern thematisieren sie ein Scheitern, das sich nicht im Nachhinein unter Verweis auf die allgemeine Wirtschaftslage selbstbagatellisiert. Diese Helden der Insolvenz kosten ihre Niederlagen bis zuletzt selbstverantwortlich aus.
Berliner Ökonomie
„Minusvisionen” ist nicht weniger als ein erster Baustein zu einer fröhlichen Kultur der Niederlage. Was Christoph Schlingensief seinerzeit mit seiner dadaistisch-ernsthaften Parteigründung „Chance 2000” als „Scheitern als Chance” proklamierte, bekommt hier seine empirische Basis. Auch Projekte, die im Konkurs enden, sind volkswirtschaftliche Aktivposten einer Gesellschaft, weil sie Möglichkeitsräume eröffnen, die auch dann weiterbestehen, wenn die Wirklichkeit sie noch nicht ausgefüllt hat. Andersherum gesagt: Die Welt ließe sich überhaupt nicht variieren und modellieren, wenn sie sich nur durch solche Anstrengungen prägen ließe, deren Business-Plan am Ende positiv aufgeht. Um aber auch ohne kontinuierlichen Kapitalzufluss die Dinge in Bewegung zu halten, ist eine Infrastruktur ideal, die keine hohen Fixkosten fordert. Es ist deshalb kein Zufall, dass die meisten von Ingo Niermann versammelten Unternehmungen in Berlin entstanden sind – diese Stadt, deren Innovationspotential gerade in ihrer maroden Wirtschaftlichkeit beruht: „Berliner Ökonomie” eben, wie seit Jahren der treffliche Titel einer taz-Kolumne heißt.
Zur fröhlichen Überlebensfähigkeit der Berliner Ökonomie gehört auch die selbstreferentielle Schließung ihrer Wirtschaftskreisläufe. Erst das emphatisch bejahte Paradox, selbst sein bester Kunde zu sein, ermöglicht originelle Produktentwicklungen, die sich vom Phlegma der Marktforschung, von der Trägheit der Nachfrage loskoppelt. „Wir haben”, heißt es einmal in „Minusvisionen, „unsere Sachen selbst am liebsten gemocht. Wir waren selbst unsere besten Kunden. Und das war auch die Idee.”
Jens Thiel, der noch als Jugendlicher in der DDR Halogenlampen bastelt und verkauft, der nach der Wende erst mit Ost- und Westmark, dann mit gebrauchten Autos handelt und schließlich 1997 die Sandwichkette „Jens & Friends” gründet, die zwei Jahre später Konkurs anmelden muss, fasst das so zusammen: „Wer soll diese ganze Kultur oder diese ganzen Exotika, die dabei entstehen, denn nachfragen? Na ja, die Branche ernährt sich auch so ein bisschen selbst. Ich kaufe dann irgendwelche Bücher, die von anderen Lebenskünstlern geschrieben worden sind, und gehe in irgendwelche Bars, die von anderen Lebenskünstlern betrieben werden (. . .), und am Ende kriegen wir vielleicht tatsächlich so eine Second Economy hin als geschlossenen Kreislauf, der sich so hier und da öffnet.”
Natürlich ist Ingo Niermanns Statement aus seiner Einleitung von bestechender Logik: „Wer etwas um jeden Preis verkaufen will, muss eben selber zahlen.” Aber hin und wieder öffnet sich der Kreislauf eben doch. Denn je inniger an der eigenen Idiosynkrasie festgehalten wird, desto stärker bildet sich auch ein klar profilierter brand name heraus, der dann irgendwann tatsächlich echte Nachfrage generiert. Ohnehin scheitern die meisten Ideen nicht an der Güte des Produkts. Norbert B. zum Beispiel verwirklicht seine filmkünstlerischen Visionen zum Beispiel, indem er schwule Pornofilme dreht. Sie sind auch auf dem Markt ein großer Erfolg – denn Norbert B. arbeitet mit Jugendlichen, die den Set als erotische Spielwiese betrachten, und unverbraucht-munter aufspielende Darsteller sind ein unique selling point. Am Ende allerdings greift die Polizei ein und Norbert B. wandert für zwei Jahre hinter Gitter.
„Minusvisionen” ist ein euphorisches Buch, weil es einen wilden Kapitalismus vorstellt, in dessen Herzen die Freiheit schlägt. Falsche Romantik schleicht sich in keines der Protokolle, dazu sind die Folgelasten meist zu real. Aber Katzenjammer wird man noch viel weniger heraushören. Voller Faszination kann man hier verfolgen, wie diese fünfzehn Unternehmer alle ihre Größenphantasien, Wunschträume und fixen Ideen, die wir anderen uns nur privat, innerpsychisch leisten, sofort entäußern, materialisieren und äußere Gestalt annehmen lassen. Es ist eine Art manischer Hegelianismus, in dem die Idee immerfort zur Wirklichkeit drängt und sich das Wahre verbittet, nicht auch das Wirkliche zu sein. Ingo Niermann, Jahrgang 1969, hat vor zwei Jahren einen Roman, „Der Effekt”, vorgelegt, ein nervig-unlesbares Buch, das alles daran setzte, als ästhetisch radikales zu scheitern. Mit „Minusvisionen” ist Niermann nun, in überaus fruchtbarer Nachfolge der „Bottroper Protokolle”, ein aufregender Mitschnitt aus jener Welt gelungen, in der die Wirklichkeit noch nicht zur Statik versteinert ist.
IJOMA MANGOLD
INGO NIERMANN: Minusvisionen. Unternehmer ohne Geld. Protokolle. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 299 Seiten, 12 Euro.
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Ingo Niermann beschreibt den süßen Wahn einer Gründerzeit
Nichts ist langweiliger, als sich über die geplatzten Träume und Hoffnungen der Generation Dotcom Gedanken zu machen, deren Start ups mit dem Zusammenbruch der New Economy von der Bildfläche verschwanden. Sowohl aus der Perspektive des um den Erfolg betrogenen Mitmischers, der lamentiert, hier sei seine Generation um ihre Gründerzeit gebracht worden; als auch aus der Perspektive dessen, der den Aufsprung auf den davonrasenden Zug nicht schaffte und zeitweise befürchten musste, als Modernisierungsverlierer von seinen prosperierenden Altersgenossen stehen gelassen zu werde. Da mag er jetzt noch so befriedigt resümieren, bei nüchternem Verstande sei der Seifenblasencharakter des Neuen Marktes schon immer absehbar gewesen. Die vornehmste Aufgabe der Seifenblase ist es, bunt zu schillern und dann zu platzen – sie findet darin geradezu ihre Erfüllung. Ohne das Moment der Selbstverausgabung gäbe es nur business as usual in der muckerhaften Zange zwischen Soll und Haben.
Ingo Niermann hat fünfzehn junge Menschen befragt, die mehrheitlich in Berlin und in den neunziger Jahren ein eigenes Unternehmen gründeten, damit scheiterten und auf den ersten Blick vor allem Schulden hinterließen. Es sind Protokolle, in denen die Interviewten in weit ausholenden Bögen ihre Lebensgeschichte erzählen. „Minusvisionen – Unternehmer ohne Geld” nennt Niermann sein Buch. Es scheint perfekt hineinzupassen in die Zeit der Rezession – als Illustration für die verlorenen Illusionen einer Generation. Aber damit würde man dem Reichtum, der Kraft, der Zartheit und auch dem vitalistischen Elan dieser Protokolle nicht gerecht werden. Die zudem zum größten Teil im Frühjahr 2000 geführt wurden, also vor (oder während) des großen Börsencrashs. Insofern thematisieren sie ein Scheitern, das sich nicht im Nachhinein unter Verweis auf die allgemeine Wirtschaftslage selbstbagatellisiert. Diese Helden der Insolvenz kosten ihre Niederlagen bis zuletzt selbstverantwortlich aus.
Berliner Ökonomie
„Minusvisionen” ist nicht weniger als ein erster Baustein zu einer fröhlichen Kultur der Niederlage. Was Christoph Schlingensief seinerzeit mit seiner dadaistisch-ernsthaften Parteigründung „Chance 2000” als „Scheitern als Chance” proklamierte, bekommt hier seine empirische Basis. Auch Projekte, die im Konkurs enden, sind volkswirtschaftliche Aktivposten einer Gesellschaft, weil sie Möglichkeitsräume eröffnen, die auch dann weiterbestehen, wenn die Wirklichkeit sie noch nicht ausgefüllt hat. Andersherum gesagt: Die Welt ließe sich überhaupt nicht variieren und modellieren, wenn sie sich nur durch solche Anstrengungen prägen ließe, deren Business-Plan am Ende positiv aufgeht. Um aber auch ohne kontinuierlichen Kapitalzufluss die Dinge in Bewegung zu halten, ist eine Infrastruktur ideal, die keine hohen Fixkosten fordert. Es ist deshalb kein Zufall, dass die meisten von Ingo Niermann versammelten Unternehmungen in Berlin entstanden sind – diese Stadt, deren Innovationspotential gerade in ihrer maroden Wirtschaftlichkeit beruht: „Berliner Ökonomie” eben, wie seit Jahren der treffliche Titel einer taz-Kolumne heißt.
Zur fröhlichen Überlebensfähigkeit der Berliner Ökonomie gehört auch die selbstreferentielle Schließung ihrer Wirtschaftskreisläufe. Erst das emphatisch bejahte Paradox, selbst sein bester Kunde zu sein, ermöglicht originelle Produktentwicklungen, die sich vom Phlegma der Marktforschung, von der Trägheit der Nachfrage loskoppelt. „Wir haben”, heißt es einmal in „Minusvisionen, „unsere Sachen selbst am liebsten gemocht. Wir waren selbst unsere besten Kunden. Und das war auch die Idee.”
Jens Thiel, der noch als Jugendlicher in der DDR Halogenlampen bastelt und verkauft, der nach der Wende erst mit Ost- und Westmark, dann mit gebrauchten Autos handelt und schließlich 1997 die Sandwichkette „Jens & Friends” gründet, die zwei Jahre später Konkurs anmelden muss, fasst das so zusammen: „Wer soll diese ganze Kultur oder diese ganzen Exotika, die dabei entstehen, denn nachfragen? Na ja, die Branche ernährt sich auch so ein bisschen selbst. Ich kaufe dann irgendwelche Bücher, die von anderen Lebenskünstlern geschrieben worden sind, und gehe in irgendwelche Bars, die von anderen Lebenskünstlern betrieben werden (. . .), und am Ende kriegen wir vielleicht tatsächlich so eine Second Economy hin als geschlossenen Kreislauf, der sich so hier und da öffnet.”
Natürlich ist Ingo Niermanns Statement aus seiner Einleitung von bestechender Logik: „Wer etwas um jeden Preis verkaufen will, muss eben selber zahlen.” Aber hin und wieder öffnet sich der Kreislauf eben doch. Denn je inniger an der eigenen Idiosynkrasie festgehalten wird, desto stärker bildet sich auch ein klar profilierter brand name heraus, der dann irgendwann tatsächlich echte Nachfrage generiert. Ohnehin scheitern die meisten Ideen nicht an der Güte des Produkts. Norbert B. zum Beispiel verwirklicht seine filmkünstlerischen Visionen zum Beispiel, indem er schwule Pornofilme dreht. Sie sind auch auf dem Markt ein großer Erfolg – denn Norbert B. arbeitet mit Jugendlichen, die den Set als erotische Spielwiese betrachten, und unverbraucht-munter aufspielende Darsteller sind ein unique selling point. Am Ende allerdings greift die Polizei ein und Norbert B. wandert für zwei Jahre hinter Gitter.
„Minusvisionen” ist ein euphorisches Buch, weil es einen wilden Kapitalismus vorstellt, in dessen Herzen die Freiheit schlägt. Falsche Romantik schleicht sich in keines der Protokolle, dazu sind die Folgelasten meist zu real. Aber Katzenjammer wird man noch viel weniger heraushören. Voller Faszination kann man hier verfolgen, wie diese fünfzehn Unternehmer alle ihre Größenphantasien, Wunschträume und fixen Ideen, die wir anderen uns nur privat, innerpsychisch leisten, sofort entäußern, materialisieren und äußere Gestalt annehmen lassen. Es ist eine Art manischer Hegelianismus, in dem die Idee immerfort zur Wirklichkeit drängt und sich das Wahre verbittet, nicht auch das Wirkliche zu sein. Ingo Niermann, Jahrgang 1969, hat vor zwei Jahren einen Roman, „Der Effekt”, vorgelegt, ein nervig-unlesbares Buch, das alles daran setzte, als ästhetisch radikales zu scheitern. Mit „Minusvisionen” ist Niermann nun, in überaus fruchtbarer Nachfolge der „Bottroper Protokolle”, ein aufregender Mitschnitt aus jener Welt gelungen, in der die Wirklichkeit noch nicht zur Statik versteinert ist.
IJOMA MANGOLD
INGO NIERMANN: Minusvisionen. Unternehmer ohne Geld. Protokolle. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 299 Seiten, 12 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Als "ersten Baustein zu einer Kultur der Niederlage" würdigt Ijoma Mangold diese Protokolle, die Ingo Niermann von Gesprächen mit fünfzehn gescheiterten, meist jungen Berliner Unternehmern der New-Economy-Ära angefertigt hat. Ihr Scheitern wertet Mangold dabei nicht schlicht als einen Nicht-Erfolg: denn auch Projekte, die im Konkurs enden, hält er für "volkswirtschaftliche Aktivposten", "weil sie Möglichkeitsräume eröffnen, die auch dann weiterbestehen, wenn die Wirklichkeit sie noch nicht ausgefüllt hat". Überhaupt sieht Mangold in Niermann "Minusvisionen" ein "euphorisches Buch", das einen "wilden Kapitalismus" vorstelle, in dessen Herzen die Freiheit schlage. Der Elan, die Vitalität, mit dem die Unternehmer Größenfantasien, Wunschträume und fixe Ideen in die Tat umsetzten, hat Mangold sichtlich fasziniert. Das Resümee des Rezensenten: ein "aufregender Mitschnitt" aus jener Welt, "in der die Wirklichkeit noch nicht zur Statik versteinert ist".
© Perlentaucher Medien GmbH
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