Produktdetails
- Verlag: Berlin Verlag
- ISBN-13: 9783827005861
- ISBN-10: 3827005868
- Artikelnr.: 13494763
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Vermittler zwischen zwei Welten: Jakob Hessings Familienepos
Eine jüdische Familie, nur ein halbes Dutzend Mitglieder einer ehemals zahlreichen Sippe, hat in Polen unter der Erde versteckt überlebt. Ausgerechnet in Berlin lassen sich die wenigen dem Holocaust Entkommenen 1947 nieder, weil man dort mit Russen wie mit Amerikanern meist gute illegale Geschäfte machen kann. Aber sie wissen: "Die Deutschen mögen uns nicht." So bleiben sie lieber unter sich, sprechen Jiddisch, Polnisch oder Russisch und nur gebrochen Deutsch. Wenn sie sich treffen, trinken sie Tee aus Gläsern und feiern halbherzig die jüdischen Feiertage, die nur noch den Alten viel bedeuten.
Jonas oder Joinale, wie ihn die Mutter nennt, ist noch in dem polnischen Kellerloch geboren. Er ist die Hauptfigur in Jakob Hessings autobiographischem Familienepos "Mir soll's geschehen". Er geht in eine Berliner Schule, der einzige Jude unter sechshundert Mitschülern, wider Willen ein Außenseiter.
"Wenn der Krieg vorüber ist, machen wir wieder ein Gästehaus auf", so wie sie es in der polnischen Kleinstadt besessen haben. Davon hat seine Mutter immer geträumt, und mit erstaunlicher Energie und der Hilfe ihres ältesten Bruders gelingt es ihr tatsächlich, ein Hotel am Rande der amerikanischen Luftwaffenbasis Ramstein zu eröffnen. Doch die neue Existenz ist ohne Glück: die Familie zerbricht daran. Der Vater schließt sich ganz und gar seiner geschäftstüchtigen Schwester an und bleibt wie der Sohn in Berlin. Die Mutter hat keine Zeit, sich um die spät geborene Tochter und schon gar nicht um Jonas zu kümmern.
Jakob Hessing hat die Kapitel seines Romans datiert und mit kurzen Überschriften versehen. Er erleichtert dem Leser auf diese Weise die Orientierung, denn außer den Zeitsprüngen über ein halbes Jahrhundert hinweg gilt es auch den wechselnden Spielplätzen der Handlung zu folgen. Außer Berlin und Ramstein gehört bald auch Israel dazu, wo der junge Jonas Fuß faßt und sich endlich zugehörig fühlen kann.
Der Neueinwanderer beginnt zunächst im Kibbuz zu arbeiten und begegnet dort Gleichaltrigen aus Marokko, Algerien und dem alten Europa, eine Gesellschaft von Fremden, die wie er selbst ihre Vergangenheit abwerfen und neue Wurzeln suchen. Alle wollen ihren Akzent loswerden und so schnell wie möglich Sabres werden. Zum ersten Mal sagt er "wir", wenn er von dieser Gemeinschaft spricht. Und zum ersten Mal findet er Vorbilder, weise Männer, die aus der europäischen Kultur kommen und in Israel heimisch geworden sind. Er findet zum ersten Mal aber auch Freunde und endlich auch Rachel aus Persien, seine spätere Frau.
Jonas studiert Geschichte und verdient sich seinen Lebensunterhalt mit journalistischer Arbeit. Während des Sieben-Tage-Krieges arbeitet er wieder auf den Feldern des Kibbuz. Die aktuellen Ereignisse in Israel erwähnt Jakob Hessing aber immer nur kurz. Die blutigen Konflikte mit den Palästinensern spart er fast ganz aus. Als bei einem Bombenanschlag auf dem Flugplatz fünfundzwanzig Tote zu beklagen sind, werden kommunistische Terroristen aus Japan als Attentäter verdächtigt.
Das familiäre Palaver nimmt dagegen in diesem Roman viel Raum ein. Die Dialoge verlieren sich dabei immer wieder einmal in Banalitäten - wie es der Alltag eben vorgibt. Aus dem Stimmengewirr ist vor allem das Jiddische herauszuhören. Jonas, der sich zögernd dem alten Glauben wieder nähert, holt nach und nach seine engste Familie aus Deutschland zu sich, auch die alt gewordenen Eltern, die sich inzwischen wieder versöhnt haben. Daß er selbst an der Hebräischen Universität eine Professur bekommen hat, gereicht der ganzen Familie zum Stolz.
"Mir soll's geschehen", hat Jakob Hessing als Titel über seinen Roman gesetzt. Die Mutter von Jonas äußert diesen schicksalsergebenen Satz wiederholt und fügt insgeheim hinzu "nicht dir". Jonas, der Sohn, geboren in einem polnischen Versteck, ist tatsächlich ein Davongekommener. Am Schicksal seiner Familie nimmt er nicht mehr als Leidender, sondern als Chronist teil. In Israel, nicht in Deutschland, hat er seine Heimat gefunden.
Die Parallelen sind überdeutlich: auch Jakob Hessing, im Nachkriegsdeutschland aufgewachsen, hat einen Lehrstuhl an der Universität in Jerusalem inne. Er veröffentlichte Bücher über Else Lasker-Schüler und Sigmund Freud, übersetzte israelische Prosa und schreibt Rezensionen, auch für diese Zeitung. Nicht nur in seiner Literatur, sondern auch außerhalb ist Jakob Hessing ein Vermittler zwischen zwei Welten.
MARIA FRISÉ
Jakob Hessing: "Mir soll's geschehen". Roman. Berlin Verlag, Berlin 2005. 469 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Maria Frise sieht im Autor dieser autobiografischen Familiengeschichte Jakob Hessing einen "Vermittler zwischen zwei Welten". Hessing schildert das Schicksal einer jüdischen Familie, die Nazideutschland in einem polnischen Versteck überlebt und sich nach dem Krieg "ausgerechnet" in Berlin niederlässt. Im Mittelpunkt steht aber der Sohn Jonas, der Deutschland später verlässt und in Israel an der Universität Professor wird. Ihr fällt auf, dass Hessing die aktuellen politischen Ereignisse in Israel lediglich "kurz", den Konflikt mit den Palästinensern fast gar nicht erwähnt. Stattdessen widmet sich der Autor eingehend dem "familiären Palaver" und dabei bleibt es nicht aus, dass in den Dialogen auch "Banalitäten" erörtert werden, konstatiert Frise, ohne sich darüber zu beklagen, da es "der Alltag eben vorgibt". Die Parallelen zur Geschichte des Autors sind für die Rezensentin unübersehbar - sie zeigt sich von diesem Familienepos sehr angetan.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH