Produktdetails
  • Verlag: Berlin Verlag
  • ISBN-13: 9783827005861
  • ISBN-10: 3827005868
  • Artikelnr.: 13494763
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.11.2005

Die Wunde am Oberschenkel
Sparsam mit Metaphern, reich an Geschichten: Jakob Hessings untypischer Familienroman „Mir soll’s geschehen”
Von Polen sind sie nach Kriegsende in den Westen geflüchtet. Den Holocaust haben sie nur knapp überlebt. Hersch Kagans Frau wurde von den Deutschen umgebracht, seine Tochter, eine Kommunistin, schon vor dem Krieg von polnischen Sicherheitskräften verschleppt; sie kehrte nie mehr zurück. Judko Frankfurter, der Mann von Herschs jüngerer Schwester Le’itsche, musste erleben, wie sein Bruder erschlagen wurde, als sie sich nachts aus dem Erdloch, in dem ein Bauer sie versteckt hielt, wagten. Munjo Kowalski, der Mann von Judkos Schwester Chaje, hat nicht nur Vater und Brüder, sondern auch seine erste Frau und seine Kinder verloren. Alle hoffen sie nun darauf, sich eine neue Existenz aufbauen zu können - und sie versuchen dies ausgerechnet in der früheren Hauptstadt des Großdeutschen Reiches, in Berlin.
Die Menschen, deren Leben zwischen 1947 und 1996 Jakob Hessing schildert, sind durch die Hölle gegangen. Dennoch geht es in „Mir soll’s geschehen” mehr um die Bewältigung der jeweiligen Gegenwart als um die Traumata der Vergangenheit. Dass diese stets präsent und unauslöschlich sind, wird nur beiläufig erwähnt. Die einzige Ausnahme bildet ein in schnellem Wechsel der Bilder erzähltes Kapitel, in dem Le’itsche eines Morgens von der Erinnerung an die Zeit im Versteck überfallen wird. Sie holt ihren kleinen Sohn Jonas ins Bett. Als sie sich zu ihm schmiegt, reißt sie mit einem Zehennagel eine Wunde in seinen Oberschenkel, die nicht aufhören will zu bluten. Ebenso wenig werden sich die seelischen Wunden Le’itsches und ihrer Verwandten schließen: Nur an dieser zentralen Stelle gestattet der Autor sich die Verwendung einer Metapher.
„Mir soll’s geschehen” ist ein Familienroman, aber das Pralle und Saftige, das kulinarische Vergnügen, das von dieser Gattung gerne erwartet wird, ist hier nirgendwo zu finden. Hessing erweist sich als ein Meister des literarischen Understatements. Der Brand des Hotels, das Hersch in Ramstein gekauft hat, die Trennung und Versöhnung Judkos und Le’itsches - so etwas wird in einigen Sätzen resümiert. Wenn Jonas im Jahr 1972 Zeuge eines Terrorüberfalls auf den Tel Aviver Flughafen wird, erlebt er das Geschehen nur aus der Ferne, und die Affäre seines Vaters mit dem deutschen Dienstmädchen Gretel ist so diskret geschildert, dass sie sich lange nur erahnen lässt. Alle Ereignisse, die zu dramatischen Höhepunkten taugten, spielt Hessing konsequent herunter; ihn interessiert, was vorher oder nachher passiert. Wie manche Regisseure des modernen Autorenkinos versteht er es, gerade die vermeintlich schwachen Momente der Handlung als bedeutungsvoll darzustellen. Zu dieser Strategie des Ausweichens, der Andeutung gehört auch, dass der Autor es mitunter großartig versteht, innere Vorgänge zu beschreiben, indem er scheinbar dem Äußerlichen verhaftet bleibt. Wie Figuren sich bewegen, welche Konstellationen sie in einem Raum bilden - das ist in einigen Gruppenszenen wichtiger als der Dialog oder der Gedankenbericht.
Je weiter „Mir soll’s geschehen” voranschreitet, desto mehr rückt Jonas in den Mittelpunkt. Er ist 1944, noch zur Zeit der Verfolgung, geboren. Die Begeisterung, die er als junger Mann für Camus’ „L’Étranger” empfindet, verweist darauf, dass er sich selbst fremd fühlt: in seiner Familie, vor allem aber in Deutschland. Warum seine Eltern hierher gegangen sind, kann er nicht verstehen. Als Jonas volljährig ist, wandert er nach Israel aus. Er beginnt ein neues Leben, sein Geschichtsstudium lehrt ihn aber auch, wie er einer Freundin resigniert mitteilt, „daß es Freiheit eigentlich gar nicht gibt”, nur die „Sehnsucht”, den „Wunsch nach Freiheit”. Um zu verstehen, wie geschehen konnte, was geschehen ist, schreibt er seine Dissertation über die Rolle der Parteien in der Weimarer Republik.
Die Altersbosheit in Aktion
Jakob Hessing ist ein Schriftsteller, der seinen Weg jenseits der ausgetretenen erzählerischen Pfade sucht. Das macht seinen Roman auf den ersten 180 Seiten zu einer faszinierenden Lektüre. Die nächsten 240 Seiten, in denen nicht mehr die gesamte Familie, sondern nur noch Jonas auftritt, sind leider viel schwächer. Statt der breiten Schilderung von Selbstsuche, Familiengründung und akademischer Karriere wäre es interessant gewesen, mehr über die anderen, wesentlich farbigeren Figuren zu erfahren: über Judko etwa und seine stets etwas undurchsichtigen Geschäfte, die ihn, ohne dass er wirklich vorankommt, pausenlos in Atem halten. Auf den letzten dreißig Seiten fängt sich „Mir soll’s geschehen” allerdings wieder. Wenn Chaje, die immer schon eine unangenehme Person war, zum 80. Geburtstag ihrer Schwägerin anreist, gelingt Hessing eine glänzende Skizze entfalteter Altersbosheit.
Das letzte Kapitel gehört Le’itsche. Nach einem Besuch von Jonas liegt sie nachts wach, und noch einmal vermischen sich Vergangenheit und Gegenwart, Traum und Wirklichkeit, bis am frühen Morgen mit demselben Satz ihr Leben und der Roman enden: „Das Licht, fragt Le’itsche, woher kommt das Licht, und wendet den Blick, im Fenster sieht sie den neuen Tag. Dann bleiben die Bilder stehen.” CHRISTOPH HAAS
JAKOB HESSING: Mir soll’s geschehen. Roman. Berlin Verlag, Berlin 2005. 470 Seiten, 24,90 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.09.2005

Auf den Feldern des Kibbuz
Vermittler zwischen zwei Welten: Jakob Hessings Familienepos

Eine jüdische Familie, nur ein halbes Dutzend Mitglieder einer ehemals zahlreichen Sippe, hat in Polen unter der Erde versteckt überlebt. Ausgerechnet in Berlin lassen sich die wenigen dem Holocaust Entkommenen 1947 nieder, weil man dort mit Russen wie mit Amerikanern meist gute illegale Geschäfte machen kann. Aber sie wissen: "Die Deutschen mögen uns nicht." So bleiben sie lieber unter sich, sprechen Jiddisch, Polnisch oder Russisch und nur gebrochen Deutsch. Wenn sie sich treffen, trinken sie Tee aus Gläsern und feiern halbherzig die jüdischen Feiertage, die nur noch den Alten viel bedeuten.

Jonas oder Joinale, wie ihn die Mutter nennt, ist noch in dem polnischen Kellerloch geboren. Er ist die Hauptfigur in Jakob Hessings autobiographischem Familienepos "Mir soll's geschehen". Er geht in eine Berliner Schule, der einzige Jude unter sechshundert Mitschülern, wider Willen ein Außenseiter.

"Wenn der Krieg vorüber ist, machen wir wieder ein Gästehaus auf", so wie sie es in der polnischen Kleinstadt besessen haben. Davon hat seine Mutter immer geträumt, und mit erstaunlicher Energie und der Hilfe ihres ältesten Bruders gelingt es ihr tatsächlich, ein Hotel am Rande der amerikanischen Luftwaffenbasis Ramstein zu eröffnen. Doch die neue Existenz ist ohne Glück: die Familie zerbricht daran. Der Vater schließt sich ganz und gar seiner geschäftstüchtigen Schwester an und bleibt wie der Sohn in Berlin. Die Mutter hat keine Zeit, sich um die spät geborene Tochter und schon gar nicht um Jonas zu kümmern.

Jakob Hessing hat die Kapitel seines Romans datiert und mit kurzen Überschriften versehen. Er erleichtert dem Leser auf diese Weise die Orientierung, denn außer den Zeitsprüngen über ein halbes Jahrhundert hinweg gilt es auch den wechselnden Spielplätzen der Handlung zu folgen. Außer Berlin und Ramstein gehört bald auch Israel dazu, wo der junge Jonas Fuß faßt und sich endlich zugehörig fühlen kann.

Der Neueinwanderer beginnt zunächst im Kibbuz zu arbeiten und begegnet dort Gleichaltrigen aus Marokko, Algerien und dem alten Europa, eine Gesellschaft von Fremden, die wie er selbst ihre Vergangenheit abwerfen und neue Wurzeln suchen. Alle wollen ihren Akzent loswerden und so schnell wie möglich Sabres werden. Zum ersten Mal sagt er "wir", wenn er von dieser Gemeinschaft spricht. Und zum ersten Mal findet er Vorbilder, weise Männer, die aus der europäischen Kultur kommen und in Israel heimisch geworden sind. Er findet zum ersten Mal aber auch Freunde und endlich auch Rachel aus Persien, seine spätere Frau.

Jonas studiert Geschichte und verdient sich seinen Lebensunterhalt mit journalistischer Arbeit. Während des Sieben-Tage-Krieges arbeitet er wieder auf den Feldern des Kibbuz. Die aktuellen Ereignisse in Israel erwähnt Jakob Hessing aber immer nur kurz. Die blutigen Konflikte mit den Palästinensern spart er fast ganz aus. Als bei einem Bombenanschlag auf dem Flugplatz fünfundzwanzig Tote zu beklagen sind, werden kommunistische Terroristen aus Japan als Attentäter verdächtigt.

Das familiäre Palaver nimmt dagegen in diesem Roman viel Raum ein. Die Dialoge verlieren sich dabei immer wieder einmal in Banalitäten - wie es der Alltag eben vorgibt. Aus dem Stimmengewirr ist vor allem das Jiddische herauszuhören. Jonas, der sich zögernd dem alten Glauben wieder nähert, holt nach und nach seine engste Familie aus Deutschland zu sich, auch die alt gewordenen Eltern, die sich inzwischen wieder versöhnt haben. Daß er selbst an der Hebräischen Universität eine Professur bekommen hat, gereicht der ganzen Familie zum Stolz.

"Mir soll's geschehen", hat Jakob Hessing als Titel über seinen Roman gesetzt. Die Mutter von Jonas äußert diesen schicksalsergebenen Satz wiederholt und fügt insgeheim hinzu "nicht dir". Jonas, der Sohn, geboren in einem polnischen Versteck, ist tatsächlich ein Davongekommener. Am Schicksal seiner Familie nimmt er nicht mehr als Leidender, sondern als Chronist teil. In Israel, nicht in Deutschland, hat er seine Heimat gefunden.

Die Parallelen sind überdeutlich: auch Jakob Hessing, im Nachkriegsdeutschland aufgewachsen, hat einen Lehrstuhl an der Universität in Jerusalem inne. Er veröffentlichte Bücher über Else Lasker-Schüler und Sigmund Freud, übersetzte israelische Prosa und schreibt Rezensionen, auch für diese Zeitung. Nicht nur in seiner Literatur, sondern auch außerhalb ist Jakob Hessing ein Vermittler zwischen zwei Welten.

MARIA FRISÉ

Jakob Hessing: "Mir soll's geschehen". Roman. Berlin Verlag, Berlin 2005. 469 S., geb., 24,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Maria Frise sieht im Autor dieser autobiografischen Familiengeschichte Jakob Hessing einen "Vermittler zwischen zwei Welten". Hessing schildert das Schicksal einer jüdischen Familie, die Nazideutschland in einem polnischen Versteck überlebt und sich nach dem Krieg "ausgerechnet" in Berlin niederlässt. Im Mittelpunkt steht aber der Sohn Jonas, der Deutschland später verlässt und in Israel an der Universität Professor wird. Ihr fällt auf, dass Hessing die aktuellen politischen Ereignisse in Israel lediglich "kurz", den Konflikt mit den Palästinensern fast gar nicht erwähnt. Stattdessen widmet sich der Autor eingehend dem "familiären Palaver" und dabei bleibt es nicht aus, dass in den Dialogen auch "Banalitäten" erörtert werden, konstatiert Frise, ohne sich darüber zu beklagen, da es "der Alltag eben vorgibt". Die Parallelen zur Geschichte des Autors sind für die Rezensentin unübersehbar -  sie zeigt sich von diesem Familienepos sehr angetan.

© Perlentaucher Medien GmbH