Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.06.2020Bei einem Indizienprozess zählt jedes Detail
Aus der Lebenswelt asiatischer Einwanderer: Angie Kims kunstvoll konstruiertes Debüt "Miracle Creek"
Alles beginnt an einem geradezu märchenhaften Ort. In einem abgelegenen Dorf im amerikanischen Bundesstaat Virginia mit dem klangvollen Namen Miracle Creek, wo Weiden den geschwungenen Flusslauf säumen und Menschen in einem wundersamen Unterseeboot auf Tauchgänge gehen, um ihre Krankheiten heilen zu lassen. Aber sogleich der unsanfte Aufschlag in der Realität: eine Explosion, bei der zwei Menschen sterben, und der anschließende Prozess in einem Gerichtssaal mit dröhnenden Klimaanlagen und einer Mutter auf der Anklagebank, die womöglich ihren Sohn auf dem Gewissen hat. Alle Indizien sprechen dafür.
"Miracle Creek" ist ein Eintrag wie aus einem Lexikon medizinischer Fachbegriffe vorangestellt: Bei der hyperbaren Oxygenierung atmen Patienten in einer Druckkammer hundertprozentigen Sauerstoff ein. Eine umstrittene Therapie für Autismus, Unfruchtbarkeit, Zerebralparese, nicht zuletzt wegen der erhöhten Feuergefahr. Angie Kim hat Erfahrung mit dem Thema, weiß, wovon sie schreibt - einer ihrer Söhne war über mehrere Jahre in Sauerstofftherapie. Als Kind aus Seoul nach Baltimore gekommen, studierte die Autorin zunächst in Stanford und Harvard, arbeitete als Strafverteidigerin und legte 2019 ihren Erstlingsroman vor, der von der amerikanischen Presse gefeiert und kürzlich von den Mystery Writers of America mit einem Edgar für das beste Debüt gekürt wurde.
"Miracle Creek" folgt einer zunächst sauber geordneten Struktur: Einzelne Kapitel je Prozesstag, gegliedert in Unterkapitel, welche die Perspektiven der Hauptfiguren während ihrer Verhöre im Gerichtssaal einnehmen. Neben der Angeklagten Elizabeth ist da etwa die dreiköpfige Familie Cho, die aus Südkorea eingewandert ist und das verunglückte Miracle Submarine betrieb, um Tochter Mary eine Zukunft an einem Elite-College zu ermöglichen. Oder Matt, selbst Arzt und Überlebender der Explosion, der wegen Unfruchtbarkeit an der Sauerstofftherapie teilnahm. Aber kaum etwas ist so sauber, wie es scheint. Mit jeder Seite dreht Angie Kim ausgelassenere Runden auf dem Gerichtsdramenparkett, lässt ihre Figuren taktieren, Partei ergreifen, Fakten verdrehen und verschweigen. Und das nicht nur aus bösen Absichten.
Im Gegenteil, der Blick auf ihre Figuren ist von richtiggehend übermenschlichem Verständnis geprägt. Immerfort kreist ihre Geschichte darum, wie grundverschieden die Leute ein und dieselbe Situation wahrnehmen, beurteilen, wiedergeben. Woran sich der eine die Zähne ausbeißt, ist für den anderen nur eine Randnotiz. Dieses Prinzip gilt für triviale Begebenheiten ebenso wie für grundsätzliche Privilegien. Um die tieferliegenden Schichten des Mysteriums freizulegen, verlässt Kim regelmäßig den Gerichtssaal und folgt den Gedanken und Erinnerungen ihrer Figuren: Präzise beschreibt sie auf diesem Weg die Lebensrealität asiatischer Migranten in den Vereinigten Staaten; die fatalen Folgen von Alltagsrassismus ebenso wie von radikaler Überanpassung bei gleichzeitigem Festhalten an streng patriarchalen Familienstrukturen - "Gänseväter" werden in Südkorea jene Männer genannt, die ihre Familien der besseren Bildungschancen wegen ins Ausland schicken und selbst nur einmal jährlich auf Besuch einfliegen.
Daneben ein anderes Paralleluniversum: jenes durchgetakteter Therapiestundenpläne und Spezialdiäten, in dem sich viele Mütter behinderter Kinder bewegen und die vertrackten Hierarchien und Wettbewerbe, die daraus entstehen können: Wer hat es schwerer? Wer hat es nötig, therapiert zu werden? Und wer ist es wert? Jeder hat in "Miracle Creek" irgendeine Schuld auf sich geladen, und um hinter das Geheimnis dieses ganz auf der Höhe der Zeit angesiedelten Whodunnits zu kommen, ist ausnahmslos jedes Detail wichtig.
Es ist zweifelsohne preiswürdig, wie Angie Kim diese Fülle an Informationen, diese monströse vielarmige Spiralgalaxie von Einzelschicksalen handzuhaben weiß. Und das so souverän, dass ihr Konstrukt in den richtigen Momenten zusammenzuschrumpfen scheint auf die Größe eines wohlsortierten Aktenschranks, aus dem die Autorin ebenso wie die ausgefuchsten Anwälte stets die richtige Schautafel zu ziehen wissen, um die gezogenen Schlüsse wieder in geordnete Bahnen zu lenken.
Angesichts dieses gewaltigen Kraftaktes fällt es leicht, darüber hinwegzusehen, dass sie sprachlich keine großen Risiken eingeht: Kims Sätze fließen geschmeidig dahin. Für sich allein genommen mögen sie nicht lang in Erinnerung bleiben, doch ihr ausgeklügeltes Zusammenspiel verschafft einem am Ende ein ähnlich befriedigendes Gefühl wie beim Einsetzen des letzten Teils in ein kompliziertes Puzzle.
KATRIN DOERKSEN
Angie Kim: "Miracle Creek". Roman.
Aus dem Englischen von Marieke Heimburger.
Hanser Verlag, München 2020.
516 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aus der Lebenswelt asiatischer Einwanderer: Angie Kims kunstvoll konstruiertes Debüt "Miracle Creek"
Alles beginnt an einem geradezu märchenhaften Ort. In einem abgelegenen Dorf im amerikanischen Bundesstaat Virginia mit dem klangvollen Namen Miracle Creek, wo Weiden den geschwungenen Flusslauf säumen und Menschen in einem wundersamen Unterseeboot auf Tauchgänge gehen, um ihre Krankheiten heilen zu lassen. Aber sogleich der unsanfte Aufschlag in der Realität: eine Explosion, bei der zwei Menschen sterben, und der anschließende Prozess in einem Gerichtssaal mit dröhnenden Klimaanlagen und einer Mutter auf der Anklagebank, die womöglich ihren Sohn auf dem Gewissen hat. Alle Indizien sprechen dafür.
"Miracle Creek" ist ein Eintrag wie aus einem Lexikon medizinischer Fachbegriffe vorangestellt: Bei der hyperbaren Oxygenierung atmen Patienten in einer Druckkammer hundertprozentigen Sauerstoff ein. Eine umstrittene Therapie für Autismus, Unfruchtbarkeit, Zerebralparese, nicht zuletzt wegen der erhöhten Feuergefahr. Angie Kim hat Erfahrung mit dem Thema, weiß, wovon sie schreibt - einer ihrer Söhne war über mehrere Jahre in Sauerstofftherapie. Als Kind aus Seoul nach Baltimore gekommen, studierte die Autorin zunächst in Stanford und Harvard, arbeitete als Strafverteidigerin und legte 2019 ihren Erstlingsroman vor, der von der amerikanischen Presse gefeiert und kürzlich von den Mystery Writers of America mit einem Edgar für das beste Debüt gekürt wurde.
"Miracle Creek" folgt einer zunächst sauber geordneten Struktur: Einzelne Kapitel je Prozesstag, gegliedert in Unterkapitel, welche die Perspektiven der Hauptfiguren während ihrer Verhöre im Gerichtssaal einnehmen. Neben der Angeklagten Elizabeth ist da etwa die dreiköpfige Familie Cho, die aus Südkorea eingewandert ist und das verunglückte Miracle Submarine betrieb, um Tochter Mary eine Zukunft an einem Elite-College zu ermöglichen. Oder Matt, selbst Arzt und Überlebender der Explosion, der wegen Unfruchtbarkeit an der Sauerstofftherapie teilnahm. Aber kaum etwas ist so sauber, wie es scheint. Mit jeder Seite dreht Angie Kim ausgelassenere Runden auf dem Gerichtsdramenparkett, lässt ihre Figuren taktieren, Partei ergreifen, Fakten verdrehen und verschweigen. Und das nicht nur aus bösen Absichten.
Im Gegenteil, der Blick auf ihre Figuren ist von richtiggehend übermenschlichem Verständnis geprägt. Immerfort kreist ihre Geschichte darum, wie grundverschieden die Leute ein und dieselbe Situation wahrnehmen, beurteilen, wiedergeben. Woran sich der eine die Zähne ausbeißt, ist für den anderen nur eine Randnotiz. Dieses Prinzip gilt für triviale Begebenheiten ebenso wie für grundsätzliche Privilegien. Um die tieferliegenden Schichten des Mysteriums freizulegen, verlässt Kim regelmäßig den Gerichtssaal und folgt den Gedanken und Erinnerungen ihrer Figuren: Präzise beschreibt sie auf diesem Weg die Lebensrealität asiatischer Migranten in den Vereinigten Staaten; die fatalen Folgen von Alltagsrassismus ebenso wie von radikaler Überanpassung bei gleichzeitigem Festhalten an streng patriarchalen Familienstrukturen - "Gänseväter" werden in Südkorea jene Männer genannt, die ihre Familien der besseren Bildungschancen wegen ins Ausland schicken und selbst nur einmal jährlich auf Besuch einfliegen.
Daneben ein anderes Paralleluniversum: jenes durchgetakteter Therapiestundenpläne und Spezialdiäten, in dem sich viele Mütter behinderter Kinder bewegen und die vertrackten Hierarchien und Wettbewerbe, die daraus entstehen können: Wer hat es schwerer? Wer hat es nötig, therapiert zu werden? Und wer ist es wert? Jeder hat in "Miracle Creek" irgendeine Schuld auf sich geladen, und um hinter das Geheimnis dieses ganz auf der Höhe der Zeit angesiedelten Whodunnits zu kommen, ist ausnahmslos jedes Detail wichtig.
Es ist zweifelsohne preiswürdig, wie Angie Kim diese Fülle an Informationen, diese monströse vielarmige Spiralgalaxie von Einzelschicksalen handzuhaben weiß. Und das so souverän, dass ihr Konstrukt in den richtigen Momenten zusammenzuschrumpfen scheint auf die Größe eines wohlsortierten Aktenschranks, aus dem die Autorin ebenso wie die ausgefuchsten Anwälte stets die richtige Schautafel zu ziehen wissen, um die gezogenen Schlüsse wieder in geordnete Bahnen zu lenken.
Angesichts dieses gewaltigen Kraftaktes fällt es leicht, darüber hinwegzusehen, dass sie sprachlich keine großen Risiken eingeht: Kims Sätze fließen geschmeidig dahin. Für sich allein genommen mögen sie nicht lang in Erinnerung bleiben, doch ihr ausgeklügeltes Zusammenspiel verschafft einem am Ende ein ähnlich befriedigendes Gefühl wie beim Einsetzen des letzten Teils in ein kompliziertes Puzzle.
KATRIN DOERKSEN
Angie Kim: "Miracle Creek". Roman.
Aus dem Englischen von Marieke Heimburger.
Hanser Verlag, München 2020.
516 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
I picked up MIRACLE CREEK and literally couldn't put it down. It's that wonderful, brilliant sort of book you want to shove at other people as soon as you've finished so they can experience it for themselves. Erin Morgenstern