Miroslav Klose war einzigartiger Torjäger und selbstloser Teamspieler. Einen wie ihn wird es im Profifußball nicht mehr geben: Mit 20 spielte er noch in der Bezirksliga und wurde dann Weltmeister und bester Torschütze in der Geschichte der Nationalmannschaft. In enger Kooperation mit Miroslav Klose erzählt Ronald Reng von einem Mann, den jeder aus dem Fernsehen kennt - den aber keiner wirklich kannte: Mit acht kam er aus Polen, lernte Zimmermann und wurde Weltstar. Er spielte als Kopfballspezialist und Techniker in europäischen Topclubs. Mitreißend und berührend bringt uns "Miro" eine Zeit im Fußball nahe, die längst untergegangen ist: die Zeit des Straßenfußballers, der aus einfachsten Verhältnissen den Weg nach ganz oben geschafft hat.
"Lasst ihn endlich mitspielen"
Sein Land sei Frankreich gewesen, schreibt Ronald Reng über Miroslav Klose, den erfolgreichsten Torschützen der deutschen Nationalmannschaft. Lesen Sie im Vorabdruck, wie der Junge trotz Sprachlosigkeit, peinigender Strenge und des Kriegsrechts in Polen zu seinem Spiel fand.
Als Esstisch diente ihnen zunächst ein Supermarktkarton. Die Eltern hatten in den ersten Tagen in Deutschland von ihren Ersparnissen bereits Möbel gekauft und angezahlt, aber es würde dauern, bis die Bestellungen eintrafen. Auch die Küche hatte eine Lieferzeit von zwei Monaten, so dass die Mutter die Mahlzeiten auf einem Campingkocher zubereitete. Über den Supermarktkarton, also den Esstisch, legte Barbara Klose ihre beste Tischdecke. Egal wie widrig die Umstände waren, zum Essen würde bei ihr immer etwas Anständiges auf den Tisch kommen, da ließ sie nichts auf sich kommen.
Außerdem hatten sie etwas zu lachen mit der weißen Tischdecke über dem Karton, so verlor die provisorische Situation ihre Schwere. Still für sich machte sich Barbara Klose unverändert große Sorgen, wie das werden sollte in Deutschland. Aber wichtig war, dass die Kinder davon nichts merkten. Die Kloses lachten gemeinsam, wenn Miroslav ganz aufgeregt und ernsthaft stolz mit einer Lampe nach Hause kam, die er im Sperrmüll gefunden hatte. An Sperrmülltagen war er im Jagdfieber, einmal schleifte er mit den dünnen Armen eines Neunjährigen sogar einen Sessel nach Hause.
Es würde sich alles fügen, wollte der Vater glauben.
Immerhin hatten sie sofort nach ihrer Flucht aus dem kommunistischen Polen im August 1987 eine Wohnung gefunden. Noch aus dem Aufnahmelager Friedland hatte der Vater das mit der Stadtverwaltung Kusel telefonisch geklärt: Es stünden Mietwohnungen zur Verfügung. Dass Kusel, im Pfälzerwald, der richtige Wohnort war, stand außer Zweifel; in die Nähe von Vaters Schwester.
Aus dem Fenster ihres neuen Zuhauses sah die Mutter ihren Kindern nach, wenn sie morgens zur Schule gingen. Sie waren, ohne ein Wort Deutsch zu können, in die entsprechenden Klassen für ihr Alter geschickt worden, Miroslav in die vierte, Marzena in die siebte Klasse. Gesonderter Deutschunterricht oder spezielle Zusatzlehrer waren nicht vorgesehen. Die Kinder würden schon irgendwie Deutsch lernen, unter anderen Kindern. Die Mutter sah, wie Marzena und Miroslav jeden Morgen auf dem Schulweg allein blieben, während sich die anderen Kinder zu Gruppen zusammenschlossen.
Nachmittags lief Miroslav hinaus. Gleich hinter ihrem Haus begann die Natur, eine Wiese zwischen wilden Hecken, dann der Wald. Vom Balkon aus konnte die Mutter die Kinder auf der Wiese sehen. Sie spielten Fußball auf selbstgebastelte Tore. Miroslav stand daneben und wartete. Flog der Ball über das Spielfeld hinaus in die Büsche, rannte er los. Er holte den Ball, warf ihn zu den Kindern zurück und stellte sich wieder wartend an den Rand. "Lasst ihn doch endlich mitspielen!", flehte die Mutter auf dem Balkon innerlich und fühlte ihr Herz schwer werden.
In dieser Anfangszeit sah der Vater eines Tages vom Fenster aus Miroslav den Berg zu ihnen hinauflaufen. Es war mitten am Morgen. "Mirek?", fragte sich der Vater, in der Familie riefen sie ihn nie Miroslav. "Mirek sollte in der Schule sein." Er gehe nie mehr in die Schule, sagte Miroslav unter Tränen. Die Lehrerin der vierten Klasse hatte von ihnen verlangt, dass sie etwas schrieben, Miroslav hatte es nur daraus geschlussfolgert, dass die Mitschüler eine leere Seite ihres Deutschhefts aufschlugen, den Füller zückten und die Worte der Lehrerin nachschrieben. Aber wie konnte er etwas schreiben, wenn er nichts verstand? Er verstand auch nicht, was die Lehrerin zu ihm sagte, er sah nur Frau Schultheiss' zorniges Gesicht und nahm das Beben in ihrer Stimme wahr. Dann war er aus der Klasse gelaufen.
Die Eltern suchten Trost in der Erklärung, dass Kinder nach einem Ortswechsel ihre Zeit zur Eingewöhnung brauchten. Selbst als sie 1984 aus Frankreich nach Polen zurückgekehrt waren, war die Umstellung für Marzena und Miroslav nicht einfach gewesen, und das in Polen, ihrer theoretischen Heimat.
Die Kinder hatten bis dahin praktisch ihr gesamtes Leben in Frankreich verbracht. Miroslav war ein Jahr alt gewesen, Marzena vier, als die Familie 1979 dem Vater nach Auxerre gefolgt war, wo Josef Klose als Profifußballer sein Geld verdiente. Dort lernten die Kinder Französisch, als wäre es ihre Sprache. Die Freunde sprachen Französisch, alle Welt um sie herum sprach Französisch. Selbst wenn die Eltern zu Hause Polnisch redeten, antworteten Miroslav und Marzena auf Französisch. Kinder denken nicht darüber nach, was ist Heimat, für Miroslav und Marzena stand damals einfach fest: Ihr Land war Frankreich.
Als der Vater mit 36 Jahren erkennen musste, dass sich die Fußballkarriere dem Ende zuneigte, war die Familie 1984 nach Polen zurückgekehrt. Die Mutter stellte eine private Polnischlehrerin an, damit die Kinder ihre Muttersprache lernten. Denn auch in Opole sprachen Marzena und Miroslav beharrlich Französisch. Hinter den drei Wohnblöcken in der ulica Chabrów, wo die Kinder zu Dutzenden auf dem Brachland spielten, sagten die anderen zu Marzena und Miroslav: "Kommt, streitet euch noch mal auf Französisch!" Es klang so schön. Rischa, die Sprachlehrerin, sagte zu Barbara Klose: "Ihre Kinder werden nie Polnisch lernen!" Und in den Abgang nach dieser Aussage legte Rischa all ihre Verachtung, all ihren Zorn darüber, dass Marzena und Miroslav den französischen Akzent und die französischen Worte einfach nicht aufgeben wollten.
Mit Strenge würde sie ihnen schon beikommen. Wieder und wieder ließ die Sprachlehrerin die Kinder den Morgenappell der polnischen Schulen aufsagen. Ehe sie ihn nicht auswendig konnten, würden sie nicht in die Schule gehen können, drohte sie. Also, noch einmal, Marzena und Miroslav!
Wer bist du?
Ein kleiner Pole.
Was ist dein Zeichen?
Der weiße Adler.
Wie wurde unser Boden errungen?
Mit Blut und Narben.
Liebst du dein Land?
Ich liebe es innig.
Was bist du Polen schuldig?
Mein Leben.
Die Kinder nahmen es nicht wahr, als die polnischen Worte ihnen allmählich leichter von den Lippen gingen. Es geschah einfach mit der Zeit. Doch sosehr das Leben in der ulica Chabrów auch Alltag wurde, so blieb bei Marzena das Gefühl, in der Heimat nicht richtig heimisch zu werden. Es störte sie nichts Konkretes, es war einfach ein Gefühl: Sie gehörte nach Frankreich. Sie war beim Umzug zehn gewesen. Bei Miroslav war mit sechs das Bewusstsein weit weniger ausgeprägt, wo er hingehörte. Schon bald fand er in Polen einen Ort, an dem er fühlte, dort spielte die wahre Schönheit des Lebens. Bei der Großmutter, den Onkeln und Tanten auf dem Land war er glücklich. Nach Möglichkeit fuhren sie jedes Wochenende die 40 Minuten aus der Stadt hinaus zu den Verwandten. Das alte Tor zur Kleingartenanlage bei der Großmutter in Ozimek quietschte beim Öffnen. Miroslav und die Cousins durften kommen und gehen, wie es ihnen behagte. Sie halfen der Großmutter beim Karottenpflanzen oder Stachelbeerernten, sie durften den Rhabarber für den Tee kleinschneiden oder Gurken in Essig einlegen. Zwischendurch sausten sie auf den riesigen Herrenfahrrädern der Erwachsenen durch die Gegend. Diese Sommertage schienen jedes Mal so lange, dass es eine Enttäuschung war, wenn sie abends doch endeten.
Der Tisch der Großmutter war bei den Besuchen stets voll besetzt, zusätzliche Stühle mussten herangerückt werden. Der Vater wie die Mutter hatte fünf Geschwister. Die vielen Stimmen und das herzliche Lachen am Tisch verwoben sich zu einem angeregten, angenehmen Schwirren.
Manche Geschichten waren derart bewegend, dass sie am Tisch in Ozimek über die Jahre mehrmals wiederholt wurden, ohne dass sich daran jemand offensichtlich störte. So brauchte es oft nur eine zufällige Verbindung im Gespräch, und sie redeten wieder über die Erlebnisse des Winters 81/82, als der Großvater starb und sich die große Politik mit ihrem Leben vermischte.
Am 12. Dezember 1981 hatte der Tod von Barbara Kloses Vater die Familie in Auxerre überrascht. Wir müssen zur Beerdigung, sagte Josef Klose zu seiner Frau und den Kindern, egal, wie weit weg wir leben. Gegen neun am Abend waren sie schon an der polnischen Grenze, der Vater fuhr die fünfzehn Stunden nach Opole stets ohne Übernachtung durch.
Der polnische Zöllner erkundigte sich: "Wo wollen Sie hin?"
"Auf eine Beerdigung nach Ozimek."
"Scheiße!", sagte der Zöllner.
Warum sagte der Grenzbeamte "Scheiße", fragte sich der Vater, auf die Beerdigung schien sich der Ausdruck nicht zu beziehen, so viel Takt besaß der Beamte gewiss. Sie fuhren weiter.
Mitten in der Nacht erreichten sie die ulica Chabrów. Sie trugen die schlafenden Kinder vom Parkplatz zum Wohnblock, der Vater die siebenjährige Marzena, die Mutter den dreijährigen Miroslav, als die Mutter einige Meter vor der Haustür abrupt zurückschreckte.
"Da steht jemand."
"Wie, da steht jemand?" Kaum hatte er die Frage gestellt, sah der Vater den Mann jedoch schon selbst.
"Da habe ich auch Angst bekommen", sagt Josef Klose.
Sie drehten leise um, starteten das Auto erneut und fuhren die gut zwanzig Kilometer nach Ozimek zu einer von Barbaras Schwestern. Sie warfen Schneebälle gegen die Fensterscheibe, um die Schwester zu wecken.
Am nächsten Morgen, bei der Beerdigung, wussten es alle schon: Ministerpräsident Wojciech Jaruzelski hatte das Kriegsrecht ausgerufen. Ab Mitternacht war die Volksarmee gemeinsam mit Sondereinsatzkommandos der Polizei ausgerückt, um gegen die Protestbewegung Solidarnosc vorzugehen. Mehr als dreitausend Personen wurden in einer ersten Razzia verhaftet, darunter die gesamte Führung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc um Lech Walesa. Überall im Land waren Kontrollpunkte errichtet worden; offenbar auch vor den Wohnblocks in der ulica Chabrów in Opole. Der Mann im Dunkeln musste ein Soldat gewesen sein.
"Wie wollt ihr zurückkommen?", wurden Barbara und Josef ein und ums andere Mal von den Trauernden auf der Beerdigung gefragt. Die Grenzen waren geschlossen. "Da standen wir nun", sagt Josef Klose. Sie hatten nur Wintersachen für einige wenige Tage dabei. Sie konnten, wie sie bald merkten, noch nicht einmal etwas zum Essen kaufen. Im Zuge des Kriegsrechts wurden die meisten Lebensmittel rationiert, es gab Milch, Butter oder Brot nur noch auf Lebensmittelkärtchen. Da die Kloses als Einwohner aber in Frankreich gemeldet waren, standen ihnen keine Kärtchen zu. Sie mussten die Bezugsscheine den Nachbarn teuer gegen D-Mark von ihrem Devisenkonto abkaufen.
Das Schlimmste aber, sagt der Vater, war, dass er niemanden in Auxerre benachrichtigen konnte, wo er blieb. Die Telefonleitungen zwischen den einzelnen Großstädten, und selbstredend auch ins Ausland, waren gekappt worden. Der Kontakt zwischen den lokalen Solidarnosc-Komitees sollte unterbunden werden. Dass der Trainer und die Mitspieler in Auxerre möglicherweise von ihm dachten, er sei einfach über Nacht nach Polen abgehauen, ließ den Vater innerlich verzweifeln. Sein Selbstbild baute darauf auf, sich stets loyal und korrekt zu verhalten. Er schrieb einen Brief an seinen polnischen Kollegen bei AJ Auxerre, Andrezj Szarmach, in der vagen Hoffnung, dass die Post ausgeliefert würde.
Sie waren gestrandet. Vormittags spielten Miroslav und Marzena allein in der Wohnung beziehungsweise hinter den Hausblöcken der ulica Chabrów. Die Eltern konnten sie doch nicht mitten im Jahr in den polnischen Kindergarten beziehungsweise in die Schule schicken, wenn sie hier eigentlich gar nicht mehr lebten; wenn sie doch hoffentlich schon morgen wieder abreisten. Überall im Land flammten Streiks und Demonstrationen gegen das Kriegsrecht auf. Panzer zogen durch die Hauptstraßen. In der besetzten Zeche Wujek in Katowice starben neun Bergleute im Kugelhagel. Die Tage vergingen, und die Kloses wussten nicht, ob sie in einer Woche oder in zwei Monaten nach Frankreich zurückkonnten oder niemals.
In diesen Tagen der Ungewissheit überraschte sie der Briefträger. Er brachte den Kloses Pakete aus Frankreich. Der Brief des Vaters an Andrezj Szarmach war offenbar angekommen. Nun schrieben die Freunde und Bekannten aus Frankreich zurück. Sie schickten Nudeln, abgepackte Wurst, Strickjacken für die Kinder. Im Wohnzimmer in Opole, so kam es Marzena vor, sah es im März aus wie an Weihnachten, mit den ganzen Päckchen.
Es war Frühling geworden, fünf Monate nach der Beerdigung, als der Vater bei den Behörden endlich die Rückreise erwirken konnte. Für die Heimfahrt nach Frankreich zogen sich Marzena und Miroslav ein letztes Mal bunt wie Papageien an. Sie hatten keine andere Wahl. Ihre Kleidung mussten sie aus den unterschiedlichen Hilfssendungen sowie Leihgaben der Cousins zusammensetzen.
Mit dem Gefühl, im Leben schon einiges durchgemacht zu haben, ging die Mutter im Herbst 1987 mit Miroslav in die Grundschule Kusel, nachdem er tags zuvor aus dem Unterricht gerannt war. Sie nahm ihre Schwägerin Renata als Dolmetscherin mit, nicht den Vater. Schulangelegenheiten der Kinder wollte schon sie als Mutter besprechen.
Das Lehrerkollegium beschloss, Miroslav wegen seiner Sprachschwierigkeiten von der vierten in die zweite Klasse zurückzustufen. Seine neue Lehrerin, Frau Drumm, fand auch ohne Worte schnell einen Weg, um mit ihm zu kommunizieren. Sie lächelte, sprach mit sanfter Stimme und schenkte ihm ein Paar gebrauchte Fußballschuhe.
Vom Balkon aus sah die Mutter nachmittags, wie Miroslav oben auf der Wiese wieder lossauste, den Ball für die anderen Kinder aus dem Gebüsch holte und dann erneut wartend am Rand stand. Sie verpasste den Augenblick, als alles anders wurde. Als sie das nächste Mal nach ihm Ausschau hielt, war er dabei, mitten unter den Kindern auf dem Fußballplatz.
Eine Mannschaft auf der Wiese sei in Unterzahl gewesen, deshalb hätten sie ihn gebrauchen können, erklärte Miroslav zu Hause lapidar seinen Einstieg. Der Mutter war eher feierlich zumute. "Jetzt", sagte sie sich, "schaffe ich das hier auch."
"Miro" - die Biographie von Miroslav Klose erscheint am 2. September im Piper-Verlag. Ronald Reng erzählt die in vielen Facetten unbekannte Geschichte des Weltmeisters und erfolgreichsten Torschützen der Nationalmannschaft.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sein Land sei Frankreich gewesen, schreibt Ronald Reng über Miroslav Klose, den erfolgreichsten Torschützen der deutschen Nationalmannschaft. Lesen Sie im Vorabdruck, wie der Junge trotz Sprachlosigkeit, peinigender Strenge und des Kriegsrechts in Polen zu seinem Spiel fand.
Als Esstisch diente ihnen zunächst ein Supermarktkarton. Die Eltern hatten in den ersten Tagen in Deutschland von ihren Ersparnissen bereits Möbel gekauft und angezahlt, aber es würde dauern, bis die Bestellungen eintrafen. Auch die Küche hatte eine Lieferzeit von zwei Monaten, so dass die Mutter die Mahlzeiten auf einem Campingkocher zubereitete. Über den Supermarktkarton, also den Esstisch, legte Barbara Klose ihre beste Tischdecke. Egal wie widrig die Umstände waren, zum Essen würde bei ihr immer etwas Anständiges auf den Tisch kommen, da ließ sie nichts auf sich kommen.
Außerdem hatten sie etwas zu lachen mit der weißen Tischdecke über dem Karton, so verlor die provisorische Situation ihre Schwere. Still für sich machte sich Barbara Klose unverändert große Sorgen, wie das werden sollte in Deutschland. Aber wichtig war, dass die Kinder davon nichts merkten. Die Kloses lachten gemeinsam, wenn Miroslav ganz aufgeregt und ernsthaft stolz mit einer Lampe nach Hause kam, die er im Sperrmüll gefunden hatte. An Sperrmülltagen war er im Jagdfieber, einmal schleifte er mit den dünnen Armen eines Neunjährigen sogar einen Sessel nach Hause.
Es würde sich alles fügen, wollte der Vater glauben.
Immerhin hatten sie sofort nach ihrer Flucht aus dem kommunistischen Polen im August 1987 eine Wohnung gefunden. Noch aus dem Aufnahmelager Friedland hatte der Vater das mit der Stadtverwaltung Kusel telefonisch geklärt: Es stünden Mietwohnungen zur Verfügung. Dass Kusel, im Pfälzerwald, der richtige Wohnort war, stand außer Zweifel; in die Nähe von Vaters Schwester.
Aus dem Fenster ihres neuen Zuhauses sah die Mutter ihren Kindern nach, wenn sie morgens zur Schule gingen. Sie waren, ohne ein Wort Deutsch zu können, in die entsprechenden Klassen für ihr Alter geschickt worden, Miroslav in die vierte, Marzena in die siebte Klasse. Gesonderter Deutschunterricht oder spezielle Zusatzlehrer waren nicht vorgesehen. Die Kinder würden schon irgendwie Deutsch lernen, unter anderen Kindern. Die Mutter sah, wie Marzena und Miroslav jeden Morgen auf dem Schulweg allein blieben, während sich die anderen Kinder zu Gruppen zusammenschlossen.
Nachmittags lief Miroslav hinaus. Gleich hinter ihrem Haus begann die Natur, eine Wiese zwischen wilden Hecken, dann der Wald. Vom Balkon aus konnte die Mutter die Kinder auf der Wiese sehen. Sie spielten Fußball auf selbstgebastelte Tore. Miroslav stand daneben und wartete. Flog der Ball über das Spielfeld hinaus in die Büsche, rannte er los. Er holte den Ball, warf ihn zu den Kindern zurück und stellte sich wieder wartend an den Rand. "Lasst ihn doch endlich mitspielen!", flehte die Mutter auf dem Balkon innerlich und fühlte ihr Herz schwer werden.
In dieser Anfangszeit sah der Vater eines Tages vom Fenster aus Miroslav den Berg zu ihnen hinauflaufen. Es war mitten am Morgen. "Mirek?", fragte sich der Vater, in der Familie riefen sie ihn nie Miroslav. "Mirek sollte in der Schule sein." Er gehe nie mehr in die Schule, sagte Miroslav unter Tränen. Die Lehrerin der vierten Klasse hatte von ihnen verlangt, dass sie etwas schrieben, Miroslav hatte es nur daraus geschlussfolgert, dass die Mitschüler eine leere Seite ihres Deutschhefts aufschlugen, den Füller zückten und die Worte der Lehrerin nachschrieben. Aber wie konnte er etwas schreiben, wenn er nichts verstand? Er verstand auch nicht, was die Lehrerin zu ihm sagte, er sah nur Frau Schultheiss' zorniges Gesicht und nahm das Beben in ihrer Stimme wahr. Dann war er aus der Klasse gelaufen.
Die Eltern suchten Trost in der Erklärung, dass Kinder nach einem Ortswechsel ihre Zeit zur Eingewöhnung brauchten. Selbst als sie 1984 aus Frankreich nach Polen zurückgekehrt waren, war die Umstellung für Marzena und Miroslav nicht einfach gewesen, und das in Polen, ihrer theoretischen Heimat.
Die Kinder hatten bis dahin praktisch ihr gesamtes Leben in Frankreich verbracht. Miroslav war ein Jahr alt gewesen, Marzena vier, als die Familie 1979 dem Vater nach Auxerre gefolgt war, wo Josef Klose als Profifußballer sein Geld verdiente. Dort lernten die Kinder Französisch, als wäre es ihre Sprache. Die Freunde sprachen Französisch, alle Welt um sie herum sprach Französisch. Selbst wenn die Eltern zu Hause Polnisch redeten, antworteten Miroslav und Marzena auf Französisch. Kinder denken nicht darüber nach, was ist Heimat, für Miroslav und Marzena stand damals einfach fest: Ihr Land war Frankreich.
Als der Vater mit 36 Jahren erkennen musste, dass sich die Fußballkarriere dem Ende zuneigte, war die Familie 1984 nach Polen zurückgekehrt. Die Mutter stellte eine private Polnischlehrerin an, damit die Kinder ihre Muttersprache lernten. Denn auch in Opole sprachen Marzena und Miroslav beharrlich Französisch. Hinter den drei Wohnblöcken in der ulica Chabrów, wo die Kinder zu Dutzenden auf dem Brachland spielten, sagten die anderen zu Marzena und Miroslav: "Kommt, streitet euch noch mal auf Französisch!" Es klang so schön. Rischa, die Sprachlehrerin, sagte zu Barbara Klose: "Ihre Kinder werden nie Polnisch lernen!" Und in den Abgang nach dieser Aussage legte Rischa all ihre Verachtung, all ihren Zorn darüber, dass Marzena und Miroslav den französischen Akzent und die französischen Worte einfach nicht aufgeben wollten.
Mit Strenge würde sie ihnen schon beikommen. Wieder und wieder ließ die Sprachlehrerin die Kinder den Morgenappell der polnischen Schulen aufsagen. Ehe sie ihn nicht auswendig konnten, würden sie nicht in die Schule gehen können, drohte sie. Also, noch einmal, Marzena und Miroslav!
Wer bist du?
Ein kleiner Pole.
Was ist dein Zeichen?
Der weiße Adler.
Wie wurde unser Boden errungen?
Mit Blut und Narben.
Liebst du dein Land?
Ich liebe es innig.
Was bist du Polen schuldig?
Mein Leben.
Die Kinder nahmen es nicht wahr, als die polnischen Worte ihnen allmählich leichter von den Lippen gingen. Es geschah einfach mit der Zeit. Doch sosehr das Leben in der ulica Chabrów auch Alltag wurde, so blieb bei Marzena das Gefühl, in der Heimat nicht richtig heimisch zu werden. Es störte sie nichts Konkretes, es war einfach ein Gefühl: Sie gehörte nach Frankreich. Sie war beim Umzug zehn gewesen. Bei Miroslav war mit sechs das Bewusstsein weit weniger ausgeprägt, wo er hingehörte. Schon bald fand er in Polen einen Ort, an dem er fühlte, dort spielte die wahre Schönheit des Lebens. Bei der Großmutter, den Onkeln und Tanten auf dem Land war er glücklich. Nach Möglichkeit fuhren sie jedes Wochenende die 40 Minuten aus der Stadt hinaus zu den Verwandten. Das alte Tor zur Kleingartenanlage bei der Großmutter in Ozimek quietschte beim Öffnen. Miroslav und die Cousins durften kommen und gehen, wie es ihnen behagte. Sie halfen der Großmutter beim Karottenpflanzen oder Stachelbeerernten, sie durften den Rhabarber für den Tee kleinschneiden oder Gurken in Essig einlegen. Zwischendurch sausten sie auf den riesigen Herrenfahrrädern der Erwachsenen durch die Gegend. Diese Sommertage schienen jedes Mal so lange, dass es eine Enttäuschung war, wenn sie abends doch endeten.
Der Tisch der Großmutter war bei den Besuchen stets voll besetzt, zusätzliche Stühle mussten herangerückt werden. Der Vater wie die Mutter hatte fünf Geschwister. Die vielen Stimmen und das herzliche Lachen am Tisch verwoben sich zu einem angeregten, angenehmen Schwirren.
Manche Geschichten waren derart bewegend, dass sie am Tisch in Ozimek über die Jahre mehrmals wiederholt wurden, ohne dass sich daran jemand offensichtlich störte. So brauchte es oft nur eine zufällige Verbindung im Gespräch, und sie redeten wieder über die Erlebnisse des Winters 81/82, als der Großvater starb und sich die große Politik mit ihrem Leben vermischte.
Am 12. Dezember 1981 hatte der Tod von Barbara Kloses Vater die Familie in Auxerre überrascht. Wir müssen zur Beerdigung, sagte Josef Klose zu seiner Frau und den Kindern, egal, wie weit weg wir leben. Gegen neun am Abend waren sie schon an der polnischen Grenze, der Vater fuhr die fünfzehn Stunden nach Opole stets ohne Übernachtung durch.
Der polnische Zöllner erkundigte sich: "Wo wollen Sie hin?"
"Auf eine Beerdigung nach Ozimek."
"Scheiße!", sagte der Zöllner.
Warum sagte der Grenzbeamte "Scheiße", fragte sich der Vater, auf die Beerdigung schien sich der Ausdruck nicht zu beziehen, so viel Takt besaß der Beamte gewiss. Sie fuhren weiter.
Mitten in der Nacht erreichten sie die ulica Chabrów. Sie trugen die schlafenden Kinder vom Parkplatz zum Wohnblock, der Vater die siebenjährige Marzena, die Mutter den dreijährigen Miroslav, als die Mutter einige Meter vor der Haustür abrupt zurückschreckte.
"Da steht jemand."
"Wie, da steht jemand?" Kaum hatte er die Frage gestellt, sah der Vater den Mann jedoch schon selbst.
"Da habe ich auch Angst bekommen", sagt Josef Klose.
Sie drehten leise um, starteten das Auto erneut und fuhren die gut zwanzig Kilometer nach Ozimek zu einer von Barbaras Schwestern. Sie warfen Schneebälle gegen die Fensterscheibe, um die Schwester zu wecken.
Am nächsten Morgen, bei der Beerdigung, wussten es alle schon: Ministerpräsident Wojciech Jaruzelski hatte das Kriegsrecht ausgerufen. Ab Mitternacht war die Volksarmee gemeinsam mit Sondereinsatzkommandos der Polizei ausgerückt, um gegen die Protestbewegung Solidarnosc vorzugehen. Mehr als dreitausend Personen wurden in einer ersten Razzia verhaftet, darunter die gesamte Führung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc um Lech Walesa. Überall im Land waren Kontrollpunkte errichtet worden; offenbar auch vor den Wohnblocks in der ulica Chabrów in Opole. Der Mann im Dunkeln musste ein Soldat gewesen sein.
"Wie wollt ihr zurückkommen?", wurden Barbara und Josef ein und ums andere Mal von den Trauernden auf der Beerdigung gefragt. Die Grenzen waren geschlossen. "Da standen wir nun", sagt Josef Klose. Sie hatten nur Wintersachen für einige wenige Tage dabei. Sie konnten, wie sie bald merkten, noch nicht einmal etwas zum Essen kaufen. Im Zuge des Kriegsrechts wurden die meisten Lebensmittel rationiert, es gab Milch, Butter oder Brot nur noch auf Lebensmittelkärtchen. Da die Kloses als Einwohner aber in Frankreich gemeldet waren, standen ihnen keine Kärtchen zu. Sie mussten die Bezugsscheine den Nachbarn teuer gegen D-Mark von ihrem Devisenkonto abkaufen.
Das Schlimmste aber, sagt der Vater, war, dass er niemanden in Auxerre benachrichtigen konnte, wo er blieb. Die Telefonleitungen zwischen den einzelnen Großstädten, und selbstredend auch ins Ausland, waren gekappt worden. Der Kontakt zwischen den lokalen Solidarnosc-Komitees sollte unterbunden werden. Dass der Trainer und die Mitspieler in Auxerre möglicherweise von ihm dachten, er sei einfach über Nacht nach Polen abgehauen, ließ den Vater innerlich verzweifeln. Sein Selbstbild baute darauf auf, sich stets loyal und korrekt zu verhalten. Er schrieb einen Brief an seinen polnischen Kollegen bei AJ Auxerre, Andrezj Szarmach, in der vagen Hoffnung, dass die Post ausgeliefert würde.
Sie waren gestrandet. Vormittags spielten Miroslav und Marzena allein in der Wohnung beziehungsweise hinter den Hausblöcken der ulica Chabrów. Die Eltern konnten sie doch nicht mitten im Jahr in den polnischen Kindergarten beziehungsweise in die Schule schicken, wenn sie hier eigentlich gar nicht mehr lebten; wenn sie doch hoffentlich schon morgen wieder abreisten. Überall im Land flammten Streiks und Demonstrationen gegen das Kriegsrecht auf. Panzer zogen durch die Hauptstraßen. In der besetzten Zeche Wujek in Katowice starben neun Bergleute im Kugelhagel. Die Tage vergingen, und die Kloses wussten nicht, ob sie in einer Woche oder in zwei Monaten nach Frankreich zurückkonnten oder niemals.
In diesen Tagen der Ungewissheit überraschte sie der Briefträger. Er brachte den Kloses Pakete aus Frankreich. Der Brief des Vaters an Andrezj Szarmach war offenbar angekommen. Nun schrieben die Freunde und Bekannten aus Frankreich zurück. Sie schickten Nudeln, abgepackte Wurst, Strickjacken für die Kinder. Im Wohnzimmer in Opole, so kam es Marzena vor, sah es im März aus wie an Weihnachten, mit den ganzen Päckchen.
Es war Frühling geworden, fünf Monate nach der Beerdigung, als der Vater bei den Behörden endlich die Rückreise erwirken konnte. Für die Heimfahrt nach Frankreich zogen sich Marzena und Miroslav ein letztes Mal bunt wie Papageien an. Sie hatten keine andere Wahl. Ihre Kleidung mussten sie aus den unterschiedlichen Hilfssendungen sowie Leihgaben der Cousins zusammensetzen.
Mit dem Gefühl, im Leben schon einiges durchgemacht zu haben, ging die Mutter im Herbst 1987 mit Miroslav in die Grundschule Kusel, nachdem er tags zuvor aus dem Unterricht gerannt war. Sie nahm ihre Schwägerin Renata als Dolmetscherin mit, nicht den Vater. Schulangelegenheiten der Kinder wollte schon sie als Mutter besprechen.
Das Lehrerkollegium beschloss, Miroslav wegen seiner Sprachschwierigkeiten von der vierten in die zweite Klasse zurückzustufen. Seine neue Lehrerin, Frau Drumm, fand auch ohne Worte schnell einen Weg, um mit ihm zu kommunizieren. Sie lächelte, sprach mit sanfter Stimme und schenkte ihm ein Paar gebrauchte Fußballschuhe.
Vom Balkon aus sah die Mutter nachmittags, wie Miroslav oben auf der Wiese wieder lossauste, den Ball für die anderen Kinder aus dem Gebüsch holte und dann erneut wartend am Rand stand. Sie verpasste den Augenblick, als alles anders wurde. Als sie das nächste Mal nach ihm Ausschau hielt, war er dabei, mitten unter den Kindern auf dem Fußballplatz.
Eine Mannschaft auf der Wiese sei in Unterzahl gewesen, deshalb hätten sie ihn gebrauchen können, erklärte Miroslav zu Hause lapidar seinen Einstieg. Der Mutter war eher feierlich zumute. "Jetzt", sagte sie sich, "schaffe ich das hier auch."
"Miro" - die Biographie von Miroslav Klose erscheint am 2. September im Piper-Verlag. Ronald Reng erzählt die in vielen Facetten unbekannte Geschichte des Weltmeisters und erfolgreichsten Torschützen der Nationalmannschaft.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main