Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.12.2020Bilderformen für das Mitgefühl
Wie ist Elend visuell darzustellen? Auf der Suche nach einer Antwort taucht die Kunsthistorikerin Linda Nochlin in ihrem letzten, postum erschienenen Buch noch einmal zurück ins neunzehnte Jahrhundert.
Vor knapp fünfzig Jahren stellte die amerikanische Kunsthistorikerin Linda Nochlin die schlichte Frage: "Warum hat es keine bedeutenden Künstlerinnen gegeben?" Damit bereitete sie der feministischen Kunstwissenschaft den Weg. Neben dieser waren die Kunst des neunzehnten Jahrhunderts und hier insbesondere des Realismus, aber auch des Orientalismus, Schwerpunkte ihrer Forschung. Mit ihr wurde sie zu einer Art Ikone der feministischen und auch sozialkritischen Kunstgeschichte. Kaum fünf Monate nach ihrem Tod Ende Oktober 2017 erschien ein Buch, das nun auch auf Deutsch vorliegt.
Es versammelt fünf Studien, die ein wenig den Eindruck erwecken, als seien sie unfertig geblieben und postum eilig zusammengestellt worden. Einige von ihnen enden abrupt und andere kompilieren Material, das nur in einen losen Bezug zum eigentlichen Gegenstand des jeweiligen Essays gestellt wird. Auch Wiederholungen sind zu verzeichnen, Ankündigungen werden nicht immer eingelöst, und insgesamt fehlt der Sammlung eine Zusammenführung der verschiedenen Lektüren, die das Thema des Buchs variieren: die Darstellung des Elends in der Kunst des neunzehnten Jahrhunderts. Nochlin spannt dabei den Bogen von einer eingehenden Interpretation der visuellen Darstellung der Hungersnot in Irland in den 1840er Jahren über eine bestenfalls skizzierte Kritik von zwei Ausstellungen über das Elend der Frauen bis hin zur Interpretation von Werken dreier Künstler: Théodore Géricault, Gustave Courbet und dem bis heute wenig bekannten Fernand Pelez.
Am Anfang des Buchs stand Eugène Burets Klassiker "Vom Elend der Arbeiterklasse in England und Frankreich" aus dem Jahr 1840, dessen Neuauflage Nochlin in einer Pariser Buchhandlung entdeckte und mit ihm ein großes, viel zu wenig beachtetes Thema der Kunst: das Elend. "Misère", Elend, ist dabei, auch wenn sich das im Untertitel der deutschen Übersetzung nicht niederschlägt, mehr als Armut. "Elend ist seelisch erlittene Armut. Es trifft unweigerlich den ganzen Menschen mit Leib und Seele", konstatiert Nochlin mit Buret und beobachtet zugleich, dass wir es mit etwas zu tun haben, das eine Art Schattenseite des wirtschaftlichen Aufschwungs im Zuge der Industrialisierung darstellt. Das Elend begleitet beharrlich seine Geschichte. Es wurde auch bereits früh in aller Deutlichkeit und Drastik in Kunst und Literatur dargestellt. Victor Hugos "Die Elenden", aber auch die Romane von Charles Dickens zeugen davon, dass es unübersehbar war.
Wie aber werden aus der "Misère", dem Elend, Bilder? Und wie sollen wir diese betrachten? Das sind die Fragen, von denen die Lektüren Nochlins ihren Ausgang nehmen und sich dabei zugleich ihrer kritischen Distanz zu vergewissern suchen. Wie ist Empathie möglich, ohne in die Fallstricke von letztlich ideologischen Konstruktionen zu geraten? Denn ohne diese kommen die Bilder nicht aus, wenn sie an ikonographische Traditionen anschließen, Metaphern oder Metonymien verwenden oder sogar Anleihen bei Darstellungen der Natur machen. Dann erscheinen historische Phänomene, wie wir seit Barthes'"Mythen des Alltags" wissen, als naturgegebene.
Nochlin erkundet in ihren Essays, wie sie mehrfach zuspitzend und nicht ganz zutreffend betont, die Zeit vor der Dokumentarfotografie, um von dort aus die Frage des Realismus der Darstellung mitsamt seinen moralischen und auch politischen Implikationen abermals zu stellen. Es geht ihr um eine Befragung eines prädokumentarischen visuellen Zeitalters, um aus dieser dann Fragen für eine Kritik des Dokumentarismus insgesamt abzuleiten, deren Konturen sich auch bei kleineren Exkursen ins zwanzigste Jahrhundert abzeichnen.
Nochlin stellt dabei präzise Fragen: "Was verstand man im formalen Sinn unter ,Aufrichtigkeit', ,Wahrheit' und ,Unmittelbarkeit'? Welche Stile und Ausdrucksformen gaben die Realität des Elends am ehesten wieder und weckten zugleich Mitgefühl statt Ekel und Ablehnung?" Zwischen einer Analyse der Strategien des Realismus auf der einen Seite und einer kritischen, aber zugleich empathischen Haltung auf der anderen studiert Nochlin diverse Darstellungsformen des Elends.
Auffällig ist dabei, dass die Berichte über die Zustände während der Hungersnot in Irland oder das Leben der Armen in London ungleich expliziter und drastischer ausfallen als die zeitgleichen visuellen Darstellungen. Zielt man seitens der Betrachterinnen auf Empathie, so ist im Reich der Bilder ein kruder Realismus zugunsten von eingängigeren Gestaltungsformen zurückzunehmen. Gleichwohl dürfen diese nicht einfach Geschichtsklitterung betreiben, soziale und religiöse Phänomene miteinander kombinieren oder ins Symbolische kippen. Der Nonkonformismus des Elends, seine Widerständigkeit, soll in Darstellung und Kritik bewahrt werden.
Mit dieser politisch-moralischen Richtschnur nimmt Nochlin dann unter anderen Gustave Dorés Holzschnitte zu dem gemeinsam mit William Blanchard Jerrold publizierten Buch "London: A Pilgrimage" von 1872, James Mahonys Bildberichte der Hungersnot in Irland für die "Illustrated London Times", eine Serie von drei Lithographien Géricaults aus London von 1821 oder Courbets Darstellungen von Bettlern in den Blick. Gegen Ende des Buchs fragt sie: "Kann man Elend in unserer medienübersättigten Zeit überhaupt noch wiedergeben?" Die Antwort auf diese Frage suchte sie im neunzehnten Jahrhundert, und sie fand sie in der Suche nach visueller Empathie.
BERND STIEGLER
Linda Nochlin: "Misère". Darstellungen von Armut im 19. Jahrhundert.
Aus dem Englischen von Birgit Lamerz-Beckschäfer. Piet Meyer Verlag, Bern/Wien 2020. 223 S., Abb., geb., 28,40 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie ist Elend visuell darzustellen? Auf der Suche nach einer Antwort taucht die Kunsthistorikerin Linda Nochlin in ihrem letzten, postum erschienenen Buch noch einmal zurück ins neunzehnte Jahrhundert.
Vor knapp fünfzig Jahren stellte die amerikanische Kunsthistorikerin Linda Nochlin die schlichte Frage: "Warum hat es keine bedeutenden Künstlerinnen gegeben?" Damit bereitete sie der feministischen Kunstwissenschaft den Weg. Neben dieser waren die Kunst des neunzehnten Jahrhunderts und hier insbesondere des Realismus, aber auch des Orientalismus, Schwerpunkte ihrer Forschung. Mit ihr wurde sie zu einer Art Ikone der feministischen und auch sozialkritischen Kunstgeschichte. Kaum fünf Monate nach ihrem Tod Ende Oktober 2017 erschien ein Buch, das nun auch auf Deutsch vorliegt.
Es versammelt fünf Studien, die ein wenig den Eindruck erwecken, als seien sie unfertig geblieben und postum eilig zusammengestellt worden. Einige von ihnen enden abrupt und andere kompilieren Material, das nur in einen losen Bezug zum eigentlichen Gegenstand des jeweiligen Essays gestellt wird. Auch Wiederholungen sind zu verzeichnen, Ankündigungen werden nicht immer eingelöst, und insgesamt fehlt der Sammlung eine Zusammenführung der verschiedenen Lektüren, die das Thema des Buchs variieren: die Darstellung des Elends in der Kunst des neunzehnten Jahrhunderts. Nochlin spannt dabei den Bogen von einer eingehenden Interpretation der visuellen Darstellung der Hungersnot in Irland in den 1840er Jahren über eine bestenfalls skizzierte Kritik von zwei Ausstellungen über das Elend der Frauen bis hin zur Interpretation von Werken dreier Künstler: Théodore Géricault, Gustave Courbet und dem bis heute wenig bekannten Fernand Pelez.
Am Anfang des Buchs stand Eugène Burets Klassiker "Vom Elend der Arbeiterklasse in England und Frankreich" aus dem Jahr 1840, dessen Neuauflage Nochlin in einer Pariser Buchhandlung entdeckte und mit ihm ein großes, viel zu wenig beachtetes Thema der Kunst: das Elend. "Misère", Elend, ist dabei, auch wenn sich das im Untertitel der deutschen Übersetzung nicht niederschlägt, mehr als Armut. "Elend ist seelisch erlittene Armut. Es trifft unweigerlich den ganzen Menschen mit Leib und Seele", konstatiert Nochlin mit Buret und beobachtet zugleich, dass wir es mit etwas zu tun haben, das eine Art Schattenseite des wirtschaftlichen Aufschwungs im Zuge der Industrialisierung darstellt. Das Elend begleitet beharrlich seine Geschichte. Es wurde auch bereits früh in aller Deutlichkeit und Drastik in Kunst und Literatur dargestellt. Victor Hugos "Die Elenden", aber auch die Romane von Charles Dickens zeugen davon, dass es unübersehbar war.
Wie aber werden aus der "Misère", dem Elend, Bilder? Und wie sollen wir diese betrachten? Das sind die Fragen, von denen die Lektüren Nochlins ihren Ausgang nehmen und sich dabei zugleich ihrer kritischen Distanz zu vergewissern suchen. Wie ist Empathie möglich, ohne in die Fallstricke von letztlich ideologischen Konstruktionen zu geraten? Denn ohne diese kommen die Bilder nicht aus, wenn sie an ikonographische Traditionen anschließen, Metaphern oder Metonymien verwenden oder sogar Anleihen bei Darstellungen der Natur machen. Dann erscheinen historische Phänomene, wie wir seit Barthes'"Mythen des Alltags" wissen, als naturgegebene.
Nochlin erkundet in ihren Essays, wie sie mehrfach zuspitzend und nicht ganz zutreffend betont, die Zeit vor der Dokumentarfotografie, um von dort aus die Frage des Realismus der Darstellung mitsamt seinen moralischen und auch politischen Implikationen abermals zu stellen. Es geht ihr um eine Befragung eines prädokumentarischen visuellen Zeitalters, um aus dieser dann Fragen für eine Kritik des Dokumentarismus insgesamt abzuleiten, deren Konturen sich auch bei kleineren Exkursen ins zwanzigste Jahrhundert abzeichnen.
Nochlin stellt dabei präzise Fragen: "Was verstand man im formalen Sinn unter ,Aufrichtigkeit', ,Wahrheit' und ,Unmittelbarkeit'? Welche Stile und Ausdrucksformen gaben die Realität des Elends am ehesten wieder und weckten zugleich Mitgefühl statt Ekel und Ablehnung?" Zwischen einer Analyse der Strategien des Realismus auf der einen Seite und einer kritischen, aber zugleich empathischen Haltung auf der anderen studiert Nochlin diverse Darstellungsformen des Elends.
Auffällig ist dabei, dass die Berichte über die Zustände während der Hungersnot in Irland oder das Leben der Armen in London ungleich expliziter und drastischer ausfallen als die zeitgleichen visuellen Darstellungen. Zielt man seitens der Betrachterinnen auf Empathie, so ist im Reich der Bilder ein kruder Realismus zugunsten von eingängigeren Gestaltungsformen zurückzunehmen. Gleichwohl dürfen diese nicht einfach Geschichtsklitterung betreiben, soziale und religiöse Phänomene miteinander kombinieren oder ins Symbolische kippen. Der Nonkonformismus des Elends, seine Widerständigkeit, soll in Darstellung und Kritik bewahrt werden.
Mit dieser politisch-moralischen Richtschnur nimmt Nochlin dann unter anderen Gustave Dorés Holzschnitte zu dem gemeinsam mit William Blanchard Jerrold publizierten Buch "London: A Pilgrimage" von 1872, James Mahonys Bildberichte der Hungersnot in Irland für die "Illustrated London Times", eine Serie von drei Lithographien Géricaults aus London von 1821 oder Courbets Darstellungen von Bettlern in den Blick. Gegen Ende des Buchs fragt sie: "Kann man Elend in unserer medienübersättigten Zeit überhaupt noch wiedergeben?" Die Antwort auf diese Frage suchte sie im neunzehnten Jahrhundert, und sie fand sie in der Suche nach visueller Empathie.
BERND STIEGLER
Linda Nochlin: "Misère". Darstellungen von Armut im 19. Jahrhundert.
Aus dem Englischen von Birgit Lamerz-Beckschäfer. Piet Meyer Verlag, Bern/Wien 2020. 223 S., Abb., geb., 28,40 [Euro].
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