Die Londoner Grundschullehrerin Nita Tehri hat sich von ihren Ersparnissen eine kleine Eigentumswohnung zugelegt, wo sie ein leises Leben führt. Sie sucht keinen Streit, ist freundlich zu Nachbarn und Kolleginnen, unterrichtet. Buchstabiert geduldig ihren Namen, wenn man sie Miss Terry nennt. Eines Morgens wird genau gegenüber von Nitas Haus ein Müllcontainer abgestellt, leicht angerostet und verbeult, gedacht für den Bauschutt einer Sanierung. Er bleibt dreieinhalb Minuten leer, von da an landet alles Mögliche darin: Fastfoodverpackungen, Rigipsplatten, Altbautüren, Weihnachtsbäume, Abfallsäcke, Öfen ... Manches verschwindet über Nacht wieder, manches bleibt. Sobald er voll ist, wird der Container ausgetauscht, und der wundersame Reigen des Mülls beginnt von vorn.Dann steht nach Feierabend ein Polizist vor Nitas Tür. Stellt ihr Fragen, die zunehmend unverschämter werden. Ob ihr jemand aufgefallen ist, der in aller Heimlichkeit Dinge im Container entsorgt hat? Warum sie so oft aus dem Fenster späht? Ob es zutrifft, dass sie bis vor Kurzem deutlich dicker war?Sie reißt sich zusammen. So, wie sie sich beherrscht, wenn sie immer wieder gefragt wird, ob sie sich wegen ihres Migrationshintergrunds vor der Polizei fürchtet. Denn sie hat ja nichts getan, außer sich von ihrer traditionalistischen Familie loszusagen, um das Leben einer Engländerin zu führen.Am nächsten Tag zeigt sich, dass der Schuldirektor über sie befragt wurde. Und dass ein Großteil ihrer Nachbarn ihr jetzt aus dem Weg geht. Dann kommt es raus: Man hat im Container eine Babyleiche gefunden und verdächtigt - na, wen wohl? - die alleinstehende junge Frau mit der braunen Haut. Nita merkt, dass sie nicht wehrhaft genug ist für die Abwärtsspirale, die nun einsetzt. Sie wird bespitzelt, angefeindet, zur DNA-Analyse vorgeladen, hintergangen, vom Unterricht suspendiert. Ihr Haus wird beschmiert und angesteckt. Schließlich muss sie sich fragen: Wem nützt es, sie so zum Opfer zu machen? Wer hat hier wirklich Dreck am Stecken?
buecher-magazin.deDer Moloch London hat auch idyllische Ecken, wie dort, wo sich Nita Tehri eine Reihenhauswohnung gekauft hat: eine kleine Straße am Fluss, wo man die netten Nachbarn an der Bushaltestelle trifft. "Miss Terry", wie sie oft genannt wird, ist eine beliebte Grundschullehrerin. Ein Container vor dem Haus gegenüber zieht ihre Neugierde auf sich, immer wieder tauchen über Nacht neue Gegenstände darin auf. Der Inhalt des Behälters ruft auch die Polizei auf den Plan. Angeblich wurde ein totes Baby gefunden, die Gerüchteküche in der Straße brodelt, die Stimmung kippt. Die junge Frau mit pakistanischen Wurzeln erlebt plötzlich den latenten Rassismus der Mittelklasse. Ihre familiäre Vergangenheit und die ererbte Unsicherheit der zweiten Migrantengeneration holen die sonst so selbständige und souveräne Nita wieder ein. Nur die schwulen Mitbewohner im Haus und ein dubioser Privatdetektiv, der sich für die Ereignisse im Haus gegenüber zu interessieren scheint, scheinen auf ihrer Seite zu sein. Liza Cody, die schon in ihrem Sozialkrimi "Lady Bag" die Höllen der menschlichen Seele erkundete, gewährt uns einen Einblick in die Psyche des verunsicherten Englands, einige Jahre vor dem Brexit. Sie zeigt uns, wie labil die zwischenmenschliche Konstruktion in der modernen Gesellschaft ist.
© BÜCHERmagazin, Michael Pöppl (mpö)
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.11.2016Das Baby im Container
Liza Cody erzählt vom traurigen britischen Alltags-Rassismus im Leben der
braven „Miss Terry“ und demonstriert erneut ihre Lust am Krimi-Experiment
VON SUSAN VAHABZADEH
Die Menschheit wäre gut beraten, wenn sie davon Abstand nähme, alle Freaks auszusortieren, sonst bleibt am Ende keiner mehr übrig. Es ließe sich für fast jeden irgendwer finden, der ihn merkwürdig findet – kommt drauf an, wen man fragt. In Nita Tehrys Straße leben Freaks für jeden Geschmack. Nita selbst hat nicht viel übrig für einen Choleriker, der Dinge aus dem Fenster wirft, und einen Krankenhausangestellten, der Frauen im Supermarkt begrapscht – dafür finden andere Bewohner der Guscott Road Nitas Lieblingsnachbarn seltsam, die streitbare Daphne, oder das Pärchen, das direkt unter Nita wohnt und mit dem sie befreundet ist, Leo und Toby. Irgendwer stört sich sicher auch an dem Frauenhaus an der Ecke. Fast alle außer Leo, Toby und Daphne sind sich einig, dass Nita, die erst vor ein paar Monaten ihre kleine Wohnung im oberen Stockwerk gekauft hat, nicht in diese Straße gehört. Denn Nita ist nicht weiß. Sie ist zwar in England geboren. Aber ihre Eltern sind aus Pakistan.
Liza Codys „Miss Terry“ ist ein Roman über Rassismus, der erst noch ganz unauffällig ist und dann überkocht, als in der Guscott Road die Polizei auftaucht. Krimi ist ein dehnbarer Begriff – es steht nirgendwo geschrieben, eine Kriminalgeschichte dürfe nicht aus der Sicht eines Verdächtigen erzählt sein. „Miss Terry“ weicht Nita nicht von der Seite, und die weiß die meiste Zeit gar nicht so recht, wie ihr geschieht. Sie versucht in jedem Gespräch ihr Gegenüber einzuschätzen – und scheitert dabei an ihrer eigenen Gutmütigkeit: „Meine Menschenkenntnis ist so beschränkt und banal, dachte sie. Ich bevölkere meine Vorstellungswelt mit Leuten, die genauso sind wie ich …“
Das Haus gegenüber wird renoviert, ein Container steht davor und inspiriert Liza Cody zu einigen sehr schönen poetischen Exkursen – das Ding gebiert über Nacht nutzlose Dinge, kaputte Waschbecken, ausrangierte Öfen und vor allem immer wieder vor sich hin rottende Weihnachtsbäume, und Nita versteht nicht, wo die alle herkommen, mitten im Februar.
Nitas eigenes Leben ist ungeheuer aufgeräumt und durchorganisiert, alles blitzt und blinkt, sie ist Grundschullehrerin und hat für sich selbst nicht das geringste Verständnis, als sie, in der Aufregung, einmal vergisst, Klassenarbeiten zu korrigieren. Dann steht plötzlich die Polizei vor der Tür, Nita soll Fragen beantworten. Aber zu welchem Fall? Sie ist in eine Situation geraten, aus der sie sich allein nicht befreien kann. Hilfsbedürftigkeit macht verletzlich. So geht sie gleich mehrmals den falschen Leuten auf den Leim; und scheut sich, die richtigen um ihre Solidarität zu bitten. Sie ist es halt gewöhnt, alles ganz allein in Ordnung zu bringen.
Ganz am Anfang ist Nita allein und nicht glücklich; nun aber treiben die Gemeinheiten, die Vorurteile, die Ohnmacht sie zur Verzweiflung. Vollends aus der Fassung gerät sie, als Toby und Leo ihr anvertrauen, dass alle anderen in der Guscott Road längst wissen, worum es geht. In dem Müllcontainer hat eine Babyleiche gelegen, und Nita hat nach ihrem Einzug tüchtig abgenommen. Jetzt ist sie verdächtig. Und das Baby ist nicht weiß – das ist für die Polizei und die meisten Nachbarn eine gültige Kategorie, egal ob diese Hautfarbe nun nach Nahost, Indien oder Westafrika aussieht.
„Miss Terry“ nennen die meisten Leute Nita, und manchmal fragen sie sie, warum sie so gut Englisch spricht – weil sie, antwortet sie dann ruhig, aus Leicester stammt. Sie reagiert stoisch auf den Alltagsrassismus, der sie umgibt, aber nun geht es um mehr. Der Schulleiter schickt sie nach Hause, die Boulevardpresse hechelt sie durch, bald brennt es im Flur. Sie muss sich nun wehren. Die Polizei und einige der Nachbarn, ganz besonders die Mutter eines messerstechenden Dreikäsehochs und der Supermarktgrapscher, erteilen ihr eine bittere Lektion: Sie ist in Leicester geboren und hat studiert und besitzt eine Eigentumswohnung, und sie wird trotzdem nie dazugehören.
Liza Codys Krimi ist in England schon 2012 erschienen, die deutsche Übersetzung kommt nun zur rechten Zeit, so kurz nach dem Brexit und den Diskussionen darüber, wie ausländerfeindlich das Königreich, das in seinen größten Zeiten auch mal als ein solches galt, in dem die Sonne nie unterging, in seiner gegenwärtigen Miniaturfassung tatsächlich ist. Liza Cody bringt so sehr schön Unruhe in ein Umfeld, das zu den beliebtesten gehört in der Welt der Krimis. England und Krimis gehören zusammen, untrennbar, und natürlich gehören in der Fiktion sonst meist allerhand Zutaten dort hinein, die in der Realität schwer aufzutreiben sind, von hochwohlgeborenen Detektiven wie Elizabeth Georges Linley bis zu Martha Grimes’ jeder Modernisierung widerstehenden Landgemeinden. Um eine der erfolgreichsten englischen TV-Krimiserien, „Midsomer Murders/Inspektor Barnaby“ gab es vor ein paar Jahren einen saftigen Skandal, als der langjährige Produzent gefeuert wurde, weil er öffentlich befand, in die englischen Dörfer der erfundenen Grafschaft Midsomer gehöre keine ethnische Vielfalt.
Krimis müssen nicht nach den Gesetzen der political correctness besetzt werden; aber das ist eine Methode, sie vor der gepflegten Langeweile zu bewahren, in der die meisten traditionellen Krimireihen versumpfen. Liza Codys Geschichten machen sich die Gegenwart zum Thema, sie haben einen doppelten Boden, und vor allem: Cody strukturiert sie jedes Mal anders, erfindet sich für jedes Buch einen komplett neuen Rahmen und neue Helden: Ihr letzter Roman „Lady Bag“ ist aus der Sicht einer Obdachlosen erzählt, die meistens nicht ganz nüchtern ist. Cody hat mit den üblichen Detektivreihen, ihre erfolgreichsten waren die Eva-Wylie-Serie und die Anna-Lee-Serie in den Achtzigern, irgendwann aufgehört. Die wiederkehrenden, vertrauten Protagonisten haben ihren Reiz; Vertrautheit lässt aber wenig Raum für Experimente. Selbst wenn man Martha Grimes’ Gespann Richard Jury und der als Earl zurückgetretene Melrose Plant mal geliebt hat, spätestens nach zehn Fällen kommt einem die gleichförmige Konstruktion zu den Ohren heraus. Es ist eben sehr selten, dass ein Autor mitten in der Reihe noch einmal alles anders macht und beispielsweise die Perspektive wechselt – wie Dorothy Sayers, als sie begann, ihre Lord-Peter-Romane um seine Angebetete Harriet Vane herum zu stricken; das war Mitte der Dreißiger. Codys Einzeltäterschaft beflügelt, so erscheint es, ihre Fantasie – die Beschreibungen sind herrlich, besonders, wenn der Müllcontainer wieder ferkelt.
Ganz besonders schön aber ist an dieser Geschichte, dass sich hinter ihr eine zweite auftut – die nämlich, die Nita Tehry überhaupt erst in die Guscott Road spülte. Man hätte sich denken können, dass jemand, der sein Leben so gründlich aufgeräumt hat, einigen Unrat zu entsorgen hatte.
Meine Menschenkenntnis ist so
beschränkt, stöhnt Miss Terry, das
wird ihr einige Probleme bereiten
Irgendwann machte Liz Cody
Schluss mit ihren erfolgreichen
traditionellen Detektiv-Reihen
Liza Cody: Miss Terry. Aus dem Englischen von Martin Grundmann und Else Laudan. Ariadne Verlag, Hamburg 2016. 320 Seiten, 17 Euro. E-Book 12,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Liza Cody erzählt vom traurigen britischen Alltags-Rassismus im Leben der
braven „Miss Terry“ und demonstriert erneut ihre Lust am Krimi-Experiment
VON SUSAN VAHABZADEH
Die Menschheit wäre gut beraten, wenn sie davon Abstand nähme, alle Freaks auszusortieren, sonst bleibt am Ende keiner mehr übrig. Es ließe sich für fast jeden irgendwer finden, der ihn merkwürdig findet – kommt drauf an, wen man fragt. In Nita Tehrys Straße leben Freaks für jeden Geschmack. Nita selbst hat nicht viel übrig für einen Choleriker, der Dinge aus dem Fenster wirft, und einen Krankenhausangestellten, der Frauen im Supermarkt begrapscht – dafür finden andere Bewohner der Guscott Road Nitas Lieblingsnachbarn seltsam, die streitbare Daphne, oder das Pärchen, das direkt unter Nita wohnt und mit dem sie befreundet ist, Leo und Toby. Irgendwer stört sich sicher auch an dem Frauenhaus an der Ecke. Fast alle außer Leo, Toby und Daphne sind sich einig, dass Nita, die erst vor ein paar Monaten ihre kleine Wohnung im oberen Stockwerk gekauft hat, nicht in diese Straße gehört. Denn Nita ist nicht weiß. Sie ist zwar in England geboren. Aber ihre Eltern sind aus Pakistan.
Liza Codys „Miss Terry“ ist ein Roman über Rassismus, der erst noch ganz unauffällig ist und dann überkocht, als in der Guscott Road die Polizei auftaucht. Krimi ist ein dehnbarer Begriff – es steht nirgendwo geschrieben, eine Kriminalgeschichte dürfe nicht aus der Sicht eines Verdächtigen erzählt sein. „Miss Terry“ weicht Nita nicht von der Seite, und die weiß die meiste Zeit gar nicht so recht, wie ihr geschieht. Sie versucht in jedem Gespräch ihr Gegenüber einzuschätzen – und scheitert dabei an ihrer eigenen Gutmütigkeit: „Meine Menschenkenntnis ist so beschränkt und banal, dachte sie. Ich bevölkere meine Vorstellungswelt mit Leuten, die genauso sind wie ich …“
Das Haus gegenüber wird renoviert, ein Container steht davor und inspiriert Liza Cody zu einigen sehr schönen poetischen Exkursen – das Ding gebiert über Nacht nutzlose Dinge, kaputte Waschbecken, ausrangierte Öfen und vor allem immer wieder vor sich hin rottende Weihnachtsbäume, und Nita versteht nicht, wo die alle herkommen, mitten im Februar.
Nitas eigenes Leben ist ungeheuer aufgeräumt und durchorganisiert, alles blitzt und blinkt, sie ist Grundschullehrerin und hat für sich selbst nicht das geringste Verständnis, als sie, in der Aufregung, einmal vergisst, Klassenarbeiten zu korrigieren. Dann steht plötzlich die Polizei vor der Tür, Nita soll Fragen beantworten. Aber zu welchem Fall? Sie ist in eine Situation geraten, aus der sie sich allein nicht befreien kann. Hilfsbedürftigkeit macht verletzlich. So geht sie gleich mehrmals den falschen Leuten auf den Leim; und scheut sich, die richtigen um ihre Solidarität zu bitten. Sie ist es halt gewöhnt, alles ganz allein in Ordnung zu bringen.
Ganz am Anfang ist Nita allein und nicht glücklich; nun aber treiben die Gemeinheiten, die Vorurteile, die Ohnmacht sie zur Verzweiflung. Vollends aus der Fassung gerät sie, als Toby und Leo ihr anvertrauen, dass alle anderen in der Guscott Road längst wissen, worum es geht. In dem Müllcontainer hat eine Babyleiche gelegen, und Nita hat nach ihrem Einzug tüchtig abgenommen. Jetzt ist sie verdächtig. Und das Baby ist nicht weiß – das ist für die Polizei und die meisten Nachbarn eine gültige Kategorie, egal ob diese Hautfarbe nun nach Nahost, Indien oder Westafrika aussieht.
„Miss Terry“ nennen die meisten Leute Nita, und manchmal fragen sie sie, warum sie so gut Englisch spricht – weil sie, antwortet sie dann ruhig, aus Leicester stammt. Sie reagiert stoisch auf den Alltagsrassismus, der sie umgibt, aber nun geht es um mehr. Der Schulleiter schickt sie nach Hause, die Boulevardpresse hechelt sie durch, bald brennt es im Flur. Sie muss sich nun wehren. Die Polizei und einige der Nachbarn, ganz besonders die Mutter eines messerstechenden Dreikäsehochs und der Supermarktgrapscher, erteilen ihr eine bittere Lektion: Sie ist in Leicester geboren und hat studiert und besitzt eine Eigentumswohnung, und sie wird trotzdem nie dazugehören.
Liza Codys Krimi ist in England schon 2012 erschienen, die deutsche Übersetzung kommt nun zur rechten Zeit, so kurz nach dem Brexit und den Diskussionen darüber, wie ausländerfeindlich das Königreich, das in seinen größten Zeiten auch mal als ein solches galt, in dem die Sonne nie unterging, in seiner gegenwärtigen Miniaturfassung tatsächlich ist. Liza Cody bringt so sehr schön Unruhe in ein Umfeld, das zu den beliebtesten gehört in der Welt der Krimis. England und Krimis gehören zusammen, untrennbar, und natürlich gehören in der Fiktion sonst meist allerhand Zutaten dort hinein, die in der Realität schwer aufzutreiben sind, von hochwohlgeborenen Detektiven wie Elizabeth Georges Linley bis zu Martha Grimes’ jeder Modernisierung widerstehenden Landgemeinden. Um eine der erfolgreichsten englischen TV-Krimiserien, „Midsomer Murders/Inspektor Barnaby“ gab es vor ein paar Jahren einen saftigen Skandal, als der langjährige Produzent gefeuert wurde, weil er öffentlich befand, in die englischen Dörfer der erfundenen Grafschaft Midsomer gehöre keine ethnische Vielfalt.
Krimis müssen nicht nach den Gesetzen der political correctness besetzt werden; aber das ist eine Methode, sie vor der gepflegten Langeweile zu bewahren, in der die meisten traditionellen Krimireihen versumpfen. Liza Codys Geschichten machen sich die Gegenwart zum Thema, sie haben einen doppelten Boden, und vor allem: Cody strukturiert sie jedes Mal anders, erfindet sich für jedes Buch einen komplett neuen Rahmen und neue Helden: Ihr letzter Roman „Lady Bag“ ist aus der Sicht einer Obdachlosen erzählt, die meistens nicht ganz nüchtern ist. Cody hat mit den üblichen Detektivreihen, ihre erfolgreichsten waren die Eva-Wylie-Serie und die Anna-Lee-Serie in den Achtzigern, irgendwann aufgehört. Die wiederkehrenden, vertrauten Protagonisten haben ihren Reiz; Vertrautheit lässt aber wenig Raum für Experimente. Selbst wenn man Martha Grimes’ Gespann Richard Jury und der als Earl zurückgetretene Melrose Plant mal geliebt hat, spätestens nach zehn Fällen kommt einem die gleichförmige Konstruktion zu den Ohren heraus. Es ist eben sehr selten, dass ein Autor mitten in der Reihe noch einmal alles anders macht und beispielsweise die Perspektive wechselt – wie Dorothy Sayers, als sie begann, ihre Lord-Peter-Romane um seine Angebetete Harriet Vane herum zu stricken; das war Mitte der Dreißiger. Codys Einzeltäterschaft beflügelt, so erscheint es, ihre Fantasie – die Beschreibungen sind herrlich, besonders, wenn der Müllcontainer wieder ferkelt.
Ganz besonders schön aber ist an dieser Geschichte, dass sich hinter ihr eine zweite auftut – die nämlich, die Nita Tehry überhaupt erst in die Guscott Road spülte. Man hätte sich denken können, dass jemand, der sein Leben so gründlich aufgeräumt hat, einigen Unrat zu entsorgen hatte.
Meine Menschenkenntnis ist so
beschränkt, stöhnt Miss Terry, das
wird ihr einige Probleme bereiten
Irgendwann machte Liz Cody
Schluss mit ihren erfolgreichen
traditionellen Detektiv-Reihen
Liza Cody: Miss Terry. Aus dem Englischen von Martin Grundmann und Else Laudan. Ariadne Verlag, Hamburg 2016. 320 Seiten, 17 Euro. E-Book 12,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.01.2017Schuld sind immer die anderen
Das Buch der Stunde: Liza Codys meisterlicher Krimi "Miss Terry" ist ein Lehrstück über alltäglichen Rassismus
Die Lust an der Wortspielerei verrät schon der Titel. Denn "Miss Terry", wie der Krimi der großartigen Liza Cody im englischen Original und in der deutschen Übersetzung heißt, lässt sich auch als mystery lesen. Und mysteriös geht es in der Geschichte um die Grundschullehrerin Nita Tehri, die in einer dieser typischen englischen Straßen mit Reihenhäuschen samt Pub an der Themse lebt, allemal zu. Die freundliche Frau trägt Snoopy-Schlafanzüge und lächelt schon beim Aufwachen leise vor sich hin, als sie, die erst vor kurzem in die Gegend gezogen ist, unversehens ins Zentrum schlimmster Verdächtigungen gerät.
Dabei kann sie - und mit ihr der Leser - zunächst nicht nachvollziehen, warum ausgerechnet sie zur Zielscheibe so vieler Unterstellungen wird. Sie gipfeln in der Behauptung der Polizei, sie habe zwischen den vertrockneten Weihnachtsbäumen im Müllcontainer einen kaltgefrorenen Säugling entsorgt. Warum aber wird nur sie verhört, und niemand sonst? Geschickt lässt Liza Cody einige Zeit vergehen, ehe sie das Skandalon der Erzählung offenlegt: dass nämlich die aus Pakistan abstammende Lehrerin die einzige Farbige in der Guscott Road ist. Und dass nur, weil auch das tote Baby dunkelhäutig war, der Fall für Nachbarn wie für den robusten Sergeant Cutler deshalb klar auf der Hand liegt.
Stück für Stück blättert die Autorin mit kanadisch-indischen Wurzeln in ihrem packenden Lehrstück die subtilen Formen von alltäglichem Rassismus auf. Geschrieben wurde der Roman schon vor einigen Jahren. In der Post-Brexit-Ära aber, die sich nicht zuletzt durch wachsene Ausländerfeindlichkeit kenntlich macht, wächst ihm neue Dringlichkeit zu. Dabei ist "Miss Terry" kein moralisches, um Menschlichkeit werbendes Thesenbuch. Liza Cody hat keine simplen Botschaften. Stattdessen vermittelt sie in überraschender Tonlage das Gefühl, wie es ist, permanent angeschaut und verdächtigt zu werden.
Das gelingt der Autorin vor allem durch den Kniff, die Geschehnisse aus der Perspektive ihrer Heldin zu betrachten. Es ist keine Ich-Erzählung, und trotzdem erleben wir alles, was Nita an Bösem und Abscheulichkeiten widerfährt, durch ihren staunenden, verdutzten, manchmal auch verängstigsten oder wütenden Blick.
Wenn sie gefragt wird, warum sie so gut Englisch spreche, kontert sie locker, sie sei in Leicester geboren. Und selbst Cutler, der ihr dreiste Fragen zu ihrem Sexleben stellt, ohne sie aufzuklären, warum er fragt, kocht sie einen Tee. Bedrohlicher wird es, als der Direktor der Schule Nita Tehri nur aufgrund der üblen Nachrede nach Hause schickt. Irgendwann greifen die Boulevardmedien die Story auf und haben ihr Urteil längst gefällt. Doch selbst als ein Brandanschlag auf Nitas Haus verübt wird, kann das die Polizisten von ihrem Ursprungsverdacht nicht ablenken. Sie wollen die exotische "Miss Terry", wie sie genannt wird, überführen, koste es, was es wolle. Dass sie in eine dramatische Familienfehde verwickelt ist, bestätigt sie nur in ihrem Verdacht.
Liza Codys Erzählung lebt von ihrem eigenwilligen, herben Humor. Da schauen Polizisten so verständnislos drein "wie alle Männer, denen Automobile in die DNA eingraviert waren". Es ist die Nachbarin Daphne, die Nita darüber aufklärt, wie man in der Guscott Road insgeheim über sie denkt: "Die Nuttige behauptet, Sie hätten einen Braten in der Röhre gehabt, als Sie hierher zogen. Die Hochnäsige erklärt, Sie wären illegal eingewandert, und der bekloppte Idiot da überm Frauenhaus krakeelt, Sie wären eine arabische Bombenlegerin. Ich hab gesagt, Sie sind nicht der Typ für so was, aber die verflixten Cops meinten, das wäre generell keine Frage des Typs, und wir müssten heutzutage alle die Augen offen halten, immer und überall".
Liza Cody schreibt mal düster, mal mitfühlend, dann wieder überdreht, aber ohne Verbitterung. Die stellt sich bei der Lektüre ganz von allein her. "Miss Terry" sollte man lesen, erst recht in Zeiten wie diesen.
SANDRA KEGEL
Liz Cody: "Miss Terry".
Kriminalroman.
Aus dem Englischen von Grundmann und Laudan.
Argument Verlag, Hamburg 2016. 288 S., geb., 17,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Buch der Stunde: Liza Codys meisterlicher Krimi "Miss Terry" ist ein Lehrstück über alltäglichen Rassismus
Die Lust an der Wortspielerei verrät schon der Titel. Denn "Miss Terry", wie der Krimi der großartigen Liza Cody im englischen Original und in der deutschen Übersetzung heißt, lässt sich auch als mystery lesen. Und mysteriös geht es in der Geschichte um die Grundschullehrerin Nita Tehri, die in einer dieser typischen englischen Straßen mit Reihenhäuschen samt Pub an der Themse lebt, allemal zu. Die freundliche Frau trägt Snoopy-Schlafanzüge und lächelt schon beim Aufwachen leise vor sich hin, als sie, die erst vor kurzem in die Gegend gezogen ist, unversehens ins Zentrum schlimmster Verdächtigungen gerät.
Dabei kann sie - und mit ihr der Leser - zunächst nicht nachvollziehen, warum ausgerechnet sie zur Zielscheibe so vieler Unterstellungen wird. Sie gipfeln in der Behauptung der Polizei, sie habe zwischen den vertrockneten Weihnachtsbäumen im Müllcontainer einen kaltgefrorenen Säugling entsorgt. Warum aber wird nur sie verhört, und niemand sonst? Geschickt lässt Liza Cody einige Zeit vergehen, ehe sie das Skandalon der Erzählung offenlegt: dass nämlich die aus Pakistan abstammende Lehrerin die einzige Farbige in der Guscott Road ist. Und dass nur, weil auch das tote Baby dunkelhäutig war, der Fall für Nachbarn wie für den robusten Sergeant Cutler deshalb klar auf der Hand liegt.
Stück für Stück blättert die Autorin mit kanadisch-indischen Wurzeln in ihrem packenden Lehrstück die subtilen Formen von alltäglichem Rassismus auf. Geschrieben wurde der Roman schon vor einigen Jahren. In der Post-Brexit-Ära aber, die sich nicht zuletzt durch wachsene Ausländerfeindlichkeit kenntlich macht, wächst ihm neue Dringlichkeit zu. Dabei ist "Miss Terry" kein moralisches, um Menschlichkeit werbendes Thesenbuch. Liza Cody hat keine simplen Botschaften. Stattdessen vermittelt sie in überraschender Tonlage das Gefühl, wie es ist, permanent angeschaut und verdächtigt zu werden.
Das gelingt der Autorin vor allem durch den Kniff, die Geschehnisse aus der Perspektive ihrer Heldin zu betrachten. Es ist keine Ich-Erzählung, und trotzdem erleben wir alles, was Nita an Bösem und Abscheulichkeiten widerfährt, durch ihren staunenden, verdutzten, manchmal auch verängstigsten oder wütenden Blick.
Wenn sie gefragt wird, warum sie so gut Englisch spreche, kontert sie locker, sie sei in Leicester geboren. Und selbst Cutler, der ihr dreiste Fragen zu ihrem Sexleben stellt, ohne sie aufzuklären, warum er fragt, kocht sie einen Tee. Bedrohlicher wird es, als der Direktor der Schule Nita Tehri nur aufgrund der üblen Nachrede nach Hause schickt. Irgendwann greifen die Boulevardmedien die Story auf und haben ihr Urteil längst gefällt. Doch selbst als ein Brandanschlag auf Nitas Haus verübt wird, kann das die Polizisten von ihrem Ursprungsverdacht nicht ablenken. Sie wollen die exotische "Miss Terry", wie sie genannt wird, überführen, koste es, was es wolle. Dass sie in eine dramatische Familienfehde verwickelt ist, bestätigt sie nur in ihrem Verdacht.
Liza Codys Erzählung lebt von ihrem eigenwilligen, herben Humor. Da schauen Polizisten so verständnislos drein "wie alle Männer, denen Automobile in die DNA eingraviert waren". Es ist die Nachbarin Daphne, die Nita darüber aufklärt, wie man in der Guscott Road insgeheim über sie denkt: "Die Nuttige behauptet, Sie hätten einen Braten in der Röhre gehabt, als Sie hierher zogen. Die Hochnäsige erklärt, Sie wären illegal eingewandert, und der bekloppte Idiot da überm Frauenhaus krakeelt, Sie wären eine arabische Bombenlegerin. Ich hab gesagt, Sie sind nicht der Typ für so was, aber die verflixten Cops meinten, das wäre generell keine Frage des Typs, und wir müssten heutzutage alle die Augen offen halten, immer und überall".
Liza Cody schreibt mal düster, mal mitfühlend, dann wieder überdreht, aber ohne Verbitterung. Die stellt sich bei der Lektüre ganz von allein her. "Miss Terry" sollte man lesen, erst recht in Zeiten wie diesen.
SANDRA KEGEL
Liz Cody: "Miss Terry".
Kriminalroman.
Aus dem Englischen von Grundmann und Laudan.
Argument Verlag, Hamburg 2016. 288 S., geb., 17,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sandra Kegel empfiehlt Liza Codys Krimi als Lektüre zur Zeit. Wie die Autorin darin gekonnt und geduldig das Skandalon einer Verdächtigung gegen eine aus Indien stammende britische Lehrerin entwickelt, scheint ihr spannend und in der Post-Brexit-Ära hochaktuell, auch wenn der Text schon einige Jahre alt ist, wie sie schreibt. Codys Lehrstück erzählt laut Kegel ohne Moralkeule oder simple Botschaften von alltäglichem Rassismus. Besonders ergreifend findet Kegel die Geschichte, weil sie durch den Blick der mal erstaunten, mal wütenden, dann wieder verletzten Protagonistin erzählt wird, ohne, dass Cody eine Ich-Erzählung vorlegt. Dass die Autorin ohne Verbitterung schreibt, dafür aber mit herbem Humor und Mitgefühl, trägt ebenfalls zur Freude der Rezensentin bei.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Wie andere Frauenfiguren dieser größten aller noch lebenden britischen Krimischriftstellerinnen muss auch Nita kämpfen lernen. Eine herzergreifende, kluge Erzählung von Selbstertüchtigung und Mut in finsteren Zeiten.« Tobias Gohlis, Die Zeit