Für Nita Tehri scheint es gut zu laufen. Sie hat Arbeit, eine hübsche Wohnung und Ruhe vor der Familie, die ihr ein fremdbestimmtes Leben aufzwingen wollte. Das Problem ist nur, sie sieht nicht aus wie ihre Nachbarn. Und als in ihrer Straße ein grausiger Fund gemacht wird, zeigen plötzlich alle Finger auf sie.
buecher-magazin.deDer Moloch London hat auch idyllische Ecken, wie dort, wo sich Nita Tehri eine Reihenhauswohnung gekauft hat: eine kleine Straße am Fluss, wo man die netten Nachbarn an der Bushaltestelle trifft. "Miss Terry", wie sie oft genannt wird, ist eine beliebte Grundschullehrerin. Ein Container vor dem Haus gegenüber zieht ihre Neugierde auf sich, immer wieder tauchen über Nacht neue Gegenstände darin auf. Der Inhalt des Behälters ruft auch die Polizei auf den Plan. Angeblich wurde ein totes Baby gefunden, die Gerüchteküche in der Straße brodelt, die Stimmung kippt. Die junge Frau mit pakistanischen Wurzeln erlebt plötzlich den latenten Rassismus der Mittelklasse. Ihre familiäre Vergangenheit und die ererbte Unsicherheit der zweiten Migrantengeneration holen die sonst so selbständige und souveräne Nita wieder ein. Nur die schwulen Mitbewohner im Haus und ein dubioser Privatdetektiv, der sich für die Ereignisse im Haus gegenüber zu interessieren scheint, scheinen auf ihrer Seite zu sein. Liza Cody, die schon in ihrem Sozialkrimi "Lady Bag" die Höllen der menschlichen Seele erkundete, gewährt uns einen Einblick in die Psyche des verunsicherten Englands, einige Jahre vor dem Brexit. Sie zeigt uns, wie labil die zwischenmenschliche Konstruktion in der modernen Gesellschaft ist.
© BÜCHERmagazin, Michael Pöppl (mpö)
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»Wie andere Frauenfiguren dieser größten aller noch lebenden britischen Krimischriftstellerinnen muss auch Nita kämpfen lernen. Eine herzergreifende, kluge Erzählung von Selbstertüchtigung und Mut in finsteren Zeiten.« Tobias Gohlis, Die Zeit
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.01.2017Schuld sind immer die anderen
Das Buch der Stunde: Liza Codys meisterlicher Krimi "Miss Terry" ist ein Lehrstück über alltäglichen Rassismus
Die Lust an der Wortspielerei verrät schon der Titel. Denn "Miss Terry", wie der Krimi der großartigen Liza Cody im englischen Original und in der deutschen Übersetzung heißt, lässt sich auch als mystery lesen. Und mysteriös geht es in der Geschichte um die Grundschullehrerin Nita Tehri, die in einer dieser typischen englischen Straßen mit Reihenhäuschen samt Pub an der Themse lebt, allemal zu. Die freundliche Frau trägt Snoopy-Schlafanzüge und lächelt schon beim Aufwachen leise vor sich hin, als sie, die erst vor kurzem in die Gegend gezogen ist, unversehens ins Zentrum schlimmster Verdächtigungen gerät.
Dabei kann sie - und mit ihr der Leser - zunächst nicht nachvollziehen, warum ausgerechnet sie zur Zielscheibe so vieler Unterstellungen wird. Sie gipfeln in der Behauptung der Polizei, sie habe zwischen den vertrockneten Weihnachtsbäumen im Müllcontainer einen kaltgefrorenen Säugling entsorgt. Warum aber wird nur sie verhört, und niemand sonst? Geschickt lässt Liza Cody einige Zeit vergehen, ehe sie das Skandalon der Erzählung offenlegt: dass nämlich die aus Pakistan abstammende Lehrerin die einzige Farbige in der Guscott Road ist. Und dass nur, weil auch das tote Baby dunkelhäutig war, der Fall für Nachbarn wie für den robusten Sergeant Cutler deshalb klar auf der Hand liegt.
Stück für Stück blättert die Autorin mit kanadisch-indischen Wurzeln in ihrem packenden Lehrstück die subtilen Formen von alltäglichem Rassismus auf. Geschrieben wurde der Roman schon vor einigen Jahren. In der Post-Brexit-Ära aber, die sich nicht zuletzt durch wachsene Ausländerfeindlichkeit kenntlich macht, wächst ihm neue Dringlichkeit zu. Dabei ist "Miss Terry" kein moralisches, um Menschlichkeit werbendes Thesenbuch. Liza Cody hat keine simplen Botschaften. Stattdessen vermittelt sie in überraschender Tonlage das Gefühl, wie es ist, permanent angeschaut und verdächtigt zu werden.
Das gelingt der Autorin vor allem durch den Kniff, die Geschehnisse aus der Perspektive ihrer Heldin zu betrachten. Es ist keine Ich-Erzählung, und trotzdem erleben wir alles, was Nita an Bösem und Abscheulichkeiten widerfährt, durch ihren staunenden, verdutzten, manchmal auch verängstigsten oder wütenden Blick.
Wenn sie gefragt wird, warum sie so gut Englisch spreche, kontert sie locker, sie sei in Leicester geboren. Und selbst Cutler, der ihr dreiste Fragen zu ihrem Sexleben stellt, ohne sie aufzuklären, warum er fragt, kocht sie einen Tee. Bedrohlicher wird es, als der Direktor der Schule Nita Tehri nur aufgrund der üblen Nachrede nach Hause schickt. Irgendwann greifen die Boulevardmedien die Story auf und haben ihr Urteil längst gefällt. Doch selbst als ein Brandanschlag auf Nitas Haus verübt wird, kann das die Polizisten von ihrem Ursprungsverdacht nicht ablenken. Sie wollen die exotische "Miss Terry", wie sie genannt wird, überführen, koste es, was es wolle. Dass sie in eine dramatische Familienfehde verwickelt ist, bestätigt sie nur in ihrem Verdacht.
Liza Codys Erzählung lebt von ihrem eigenwilligen, herben Humor. Da schauen Polizisten so verständnislos drein "wie alle Männer, denen Automobile in die DNA eingraviert waren". Es ist die Nachbarin Daphne, die Nita darüber aufklärt, wie man in der Guscott Road insgeheim über sie denkt: "Die Nuttige behauptet, Sie hätten einen Braten in der Röhre gehabt, als Sie hierher zogen. Die Hochnäsige erklärt, Sie wären illegal eingewandert, und der bekloppte Idiot da überm Frauenhaus krakeelt, Sie wären eine arabische Bombenlegerin. Ich hab gesagt, Sie sind nicht der Typ für so was, aber die verflixten Cops meinten, das wäre generell keine Frage des Typs, und wir müssten heutzutage alle die Augen offen halten, immer und überall".
Liza Cody schreibt mal düster, mal mitfühlend, dann wieder überdreht, aber ohne Verbitterung. Die stellt sich bei der Lektüre ganz von allein her. "Miss Terry" sollte man lesen, erst recht in Zeiten wie diesen.
SANDRA KEGEL
Liz Cody: "Miss Terry".
Kriminalroman.
Aus dem Englischen von Grundmann und Laudan.
Argument Verlag, Hamburg 2016. 288 S., geb., 17,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Buch der Stunde: Liza Codys meisterlicher Krimi "Miss Terry" ist ein Lehrstück über alltäglichen Rassismus
Die Lust an der Wortspielerei verrät schon der Titel. Denn "Miss Terry", wie der Krimi der großartigen Liza Cody im englischen Original und in der deutschen Übersetzung heißt, lässt sich auch als mystery lesen. Und mysteriös geht es in der Geschichte um die Grundschullehrerin Nita Tehri, die in einer dieser typischen englischen Straßen mit Reihenhäuschen samt Pub an der Themse lebt, allemal zu. Die freundliche Frau trägt Snoopy-Schlafanzüge und lächelt schon beim Aufwachen leise vor sich hin, als sie, die erst vor kurzem in die Gegend gezogen ist, unversehens ins Zentrum schlimmster Verdächtigungen gerät.
Dabei kann sie - und mit ihr der Leser - zunächst nicht nachvollziehen, warum ausgerechnet sie zur Zielscheibe so vieler Unterstellungen wird. Sie gipfeln in der Behauptung der Polizei, sie habe zwischen den vertrockneten Weihnachtsbäumen im Müllcontainer einen kaltgefrorenen Säugling entsorgt. Warum aber wird nur sie verhört, und niemand sonst? Geschickt lässt Liza Cody einige Zeit vergehen, ehe sie das Skandalon der Erzählung offenlegt: dass nämlich die aus Pakistan abstammende Lehrerin die einzige Farbige in der Guscott Road ist. Und dass nur, weil auch das tote Baby dunkelhäutig war, der Fall für Nachbarn wie für den robusten Sergeant Cutler deshalb klar auf der Hand liegt.
Stück für Stück blättert die Autorin mit kanadisch-indischen Wurzeln in ihrem packenden Lehrstück die subtilen Formen von alltäglichem Rassismus auf. Geschrieben wurde der Roman schon vor einigen Jahren. In der Post-Brexit-Ära aber, die sich nicht zuletzt durch wachsene Ausländerfeindlichkeit kenntlich macht, wächst ihm neue Dringlichkeit zu. Dabei ist "Miss Terry" kein moralisches, um Menschlichkeit werbendes Thesenbuch. Liza Cody hat keine simplen Botschaften. Stattdessen vermittelt sie in überraschender Tonlage das Gefühl, wie es ist, permanent angeschaut und verdächtigt zu werden.
Das gelingt der Autorin vor allem durch den Kniff, die Geschehnisse aus der Perspektive ihrer Heldin zu betrachten. Es ist keine Ich-Erzählung, und trotzdem erleben wir alles, was Nita an Bösem und Abscheulichkeiten widerfährt, durch ihren staunenden, verdutzten, manchmal auch verängstigsten oder wütenden Blick.
Wenn sie gefragt wird, warum sie so gut Englisch spreche, kontert sie locker, sie sei in Leicester geboren. Und selbst Cutler, der ihr dreiste Fragen zu ihrem Sexleben stellt, ohne sie aufzuklären, warum er fragt, kocht sie einen Tee. Bedrohlicher wird es, als der Direktor der Schule Nita Tehri nur aufgrund der üblen Nachrede nach Hause schickt. Irgendwann greifen die Boulevardmedien die Story auf und haben ihr Urteil längst gefällt. Doch selbst als ein Brandanschlag auf Nitas Haus verübt wird, kann das die Polizisten von ihrem Ursprungsverdacht nicht ablenken. Sie wollen die exotische "Miss Terry", wie sie genannt wird, überführen, koste es, was es wolle. Dass sie in eine dramatische Familienfehde verwickelt ist, bestätigt sie nur in ihrem Verdacht.
Liza Codys Erzählung lebt von ihrem eigenwilligen, herben Humor. Da schauen Polizisten so verständnislos drein "wie alle Männer, denen Automobile in die DNA eingraviert waren". Es ist die Nachbarin Daphne, die Nita darüber aufklärt, wie man in der Guscott Road insgeheim über sie denkt: "Die Nuttige behauptet, Sie hätten einen Braten in der Röhre gehabt, als Sie hierher zogen. Die Hochnäsige erklärt, Sie wären illegal eingewandert, und der bekloppte Idiot da überm Frauenhaus krakeelt, Sie wären eine arabische Bombenlegerin. Ich hab gesagt, Sie sind nicht der Typ für so was, aber die verflixten Cops meinten, das wäre generell keine Frage des Typs, und wir müssten heutzutage alle die Augen offen halten, immer und überall".
Liza Cody schreibt mal düster, mal mitfühlend, dann wieder überdreht, aber ohne Verbitterung. Die stellt sich bei der Lektüre ganz von allein her. "Miss Terry" sollte man lesen, erst recht in Zeiten wie diesen.
SANDRA KEGEL
Liz Cody: "Miss Terry".
Kriminalroman.
Aus dem Englischen von Grundmann und Laudan.
Argument Verlag, Hamburg 2016. 288 S., geb., 17,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sandra Kegel empfiehlt Liza Codys Krimi als Lektüre zur Zeit. Wie die Autorin darin gekonnt und geduldig das Skandalon einer Verdächtigung gegen eine aus Indien stammende britische Lehrerin entwickelt, scheint ihr spannend und in der Post-Brexit-Ära hochaktuell, auch wenn der Text schon einige Jahre alt ist, wie sie schreibt. Codys Lehrstück erzählt laut Kegel ohne Moralkeule oder simple Botschaften von alltäglichem Rassismus. Besonders ergreifend findet Kegel die Geschichte, weil sie durch den Blick der mal erstaunten, mal wütenden, dann wieder verletzten Protagonistin erzählt wird, ohne, dass Cody eine Ich-Erzählung vorlegt. Dass die Autorin ohne Verbitterung schreibt, dafür aber mit herbem Humor und Mitgefühl, trägt ebenfalls zur Freude der Rezensentin bei.
© Perlentaucher Medien GmbH
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