Die fünfjährige Hailey spielt im Garten, als das Telefon klingelt und ihre Mutter kurz ins Haus geht. Eine Minute später kommt sie zurück. Und ihre Tochter ist verschwunden. Zwei Wochen später verschwindet ein weiteres Mädchen - diesmal wird die Leiche gefunden, der Täter gefasst und auch mit dem Mord an Hailey belastet. Akte geschlossen. Aber Frank Decker, dessen Job es ist, Verschwundene aufzuspüren und zurückzuholen, hat Zweifel. Er glaubt, dass Hailey lebt, irgendwo versteckt - während die Uhr tickt. Ein vager Hinweis führt ihn nach New York. Sanft wenn möglich, hart wenn nötig, folgt er Schritt für Schritt der Spur, die ihn in die Hölle lotsen wird.
"Don Winslow, der wohl beste zeitgenössische Thrillerautor, schickt einen neuen Ermittler ins Rennen: Fesselnd!" -- BILD, 08.10.2014
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.10.2014Aufgeheizt und aufgewärmt
Krimis in Kürze: Eine zweite Chance für Klassiker
Mit den Legenden ist das so eine Sache. Wenn keiner mehr weiß, dass es sich um eine solche handelt, muss getrommelt werden, um das Bewusstsein beim Publikum zu schaffen, dass es gerade etwas versäumt. Mit solchen Fanfaren wird seit Monaten Wind gemacht für die Rückkehr des verloren geglaubten Sohnes James Lee Burke aus Texas, der nun mit dem Roman "Regengötter" (Heyne, 660 S., 16,99[Euro]) wieder einen Auftritt in deutscher Übersetzung von Daniel Müller hat. Seit 2002 hatte der 1936 geborene, mit Preisen überreich ausgestattete Autor keinen deutschen Verlag mehr, nun soll alles gut werden.
Aber wird es das auch? Der in die Jahre gekommene Sheriff Hackberry Holland ist jedenfalls ziemlich allein auf weiter, sonnenverbrannter Flur, als er es mit einer Massenhinrichtung junger Asiatinnen zu tun bekommt, die man nur notdürftig mit einem Bulldozer verscharrt hat. Den Killer sucht auch die Einwanderungsbehörde und bald darauf auch den einzigen Tatzeugen und dessen charismatische Freundin. Das junge Paar ist auf der Flucht vor einem religiösen Irren, der sich Preacher nennt und glaubt, im Auftrag des alttestamentlichen Buches Esther die Welt reinigen zu müssen.
Die Zutaten verheißen, was Burke dann einlöst - archaische Wucht. Die aber auf Dauer durchzuhalten, daran sind schon andere gescheitert. Zu nah ist hohles Pathos, zumal wenn man wie Burke, statt zu einem Ende zu gelangen, immer wieder von vorne anfängt. Als Leser fürchtet man unweigerlich, nie von diesem Wanderkiller erlöst zu werden, immerhin geht das 660 stattliche Seiten lang so. Wenn man der These folgt, auch Krimileser wollten immer wieder das gleiche Buch lesen, hat man hier mehrere gleiche Romane in einem Band. Man könnte das geschwätzig nennen; da wir im Hard-boiled-Genre sind, nennen wir es lieber warmed-over und empfehlen als Soundtrack Johnny Cashs Lied "The Man Comes Around".
Bei Kunstmann legt man sich ebenfalls mit einer Neuauflage für "Laidlaw" (304 S., 19,95 [Euro]) von William McIlvanney ins Zeug, der laut Werbung dafür verantwortlich ist, dass Ian Rankin zum Schriftsteller wurde. Na bitte, da hat er sich tatsächlich ein Vorbild ausgesucht, dessen kunstvoll knappe Prosa aus dem Haufen heraussticht. Mit der Laidlaw-Trilogie, die zwischen 1977 und 1991 erschien, hievte McIlvanney Schottland auf die Krimiweltkarte, Detective Inspector Jack Laidlaw ist ein Gedichte zitierender Sonderling, der zu viel trinkt, "nicht aus Vergnügen, eher systematisch, als wär's verschnittener Schierling"). Der Ausflug nach Glasgow lohnt sich auch nach bald vierzig Jahren.
Ebenfalls am unteren Rand der Gesellschaft fischt die englische Autorin Liz Cody ihre Geschichten in "Lady Bag" (Argument Verlag, 320 S., 17,- [Euro]). Sie hat selbst Erfahrungen als Obdachlose sammeln müssen, die kommen ihrer namenlosen Protagonistin nun zu Hilfe, die aus der Mittelschicht in die Gosse gestürzt ist. Mit einem stabilen Rotweinpegel und ihrem sprechenden Hund zieht sie durchs Westend, als sie den Mann wiedersieht, der sie in den Ruin trieb. Sie heftet sich auf seine Spur - was ihr nicht gut bekommen wird. Cody beschreibt ein London aus dem Blick von unten, das mit unserem touristischen Blick gründlich aufräumt, bissig, witzig und sehr schnoddrig.
Das Krimi-Genre ist mittlerweile vom Vorübergehen der Neuerscheinungen so aufgebläht, dass es nichts mehr hält von Selbstbeschränkung. Das hilft dann auch Büchern, die gar nicht als Krimi vermarktet werden. So widerfahren dem Liebeskind Verlag zu München, der einen psychologischen Roman "Die Verlobung" (320 S., 19,80 [Euro]) von Chloe Hooper veröffentlich hat, der es - man weiß auch beim Verlag nicht genau, warum - sogleich auf die KrimiZeit-Bestenliste geschafft hat.
Unter neuer Verlagsfahne segelt derweil Don Winslow nach seinem Abschied von Suhrkamp in Richtung Stapel neben der Ladenkasse mit "Missing. New York" (Droemer, 395 S., br., 14,99 [Euro]). Sein Ermittler Frank Decker ist ein ehemaliger Elitesoldat, der seine Festanstellung bei der Polizei und seine Ehe drangibt, als die siebenjährige Hailey verschwindet. Die Spur führt aus der Provinz in Nebraska nach New York, in die Glamourwelt rund um den Central Park und zu den Reichen in den Hamptons. Das ist solide und temposicher inszeniert und schlürft sich so weg, ohne größere Spuren im Lesergedächtnis zu hinterlassen - mithin bestsellertauglich. Dass es zur Überrundung von Nele Neuhaus reicht, darf bezweifelt werden.
Am 8. Oktober wäre er fünfzig Jahre alt geworden, deswegen wirft sich der Züricher Diogenes Verlag für den im Vorjahr verstorbenen Autor Jakob Arjouni in die Bresche und bündelt dessen fünf Romane um den Frankfurter Privatdetektiv Kemal Kayankaya in einer geschmackvollen Kassette mit Schmuckschuber. "Die Kayankaya-Romane" (Diogenes, 1080 S., 39,90 [Euro]) kann man bereits vorsorglich auf die Liste für mögliche Weihnachtsgeschenke setzen.
hhm
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Krimis in Kürze: Eine zweite Chance für Klassiker
Mit den Legenden ist das so eine Sache. Wenn keiner mehr weiß, dass es sich um eine solche handelt, muss getrommelt werden, um das Bewusstsein beim Publikum zu schaffen, dass es gerade etwas versäumt. Mit solchen Fanfaren wird seit Monaten Wind gemacht für die Rückkehr des verloren geglaubten Sohnes James Lee Burke aus Texas, der nun mit dem Roman "Regengötter" (Heyne, 660 S., 16,99[Euro]) wieder einen Auftritt in deutscher Übersetzung von Daniel Müller hat. Seit 2002 hatte der 1936 geborene, mit Preisen überreich ausgestattete Autor keinen deutschen Verlag mehr, nun soll alles gut werden.
Aber wird es das auch? Der in die Jahre gekommene Sheriff Hackberry Holland ist jedenfalls ziemlich allein auf weiter, sonnenverbrannter Flur, als er es mit einer Massenhinrichtung junger Asiatinnen zu tun bekommt, die man nur notdürftig mit einem Bulldozer verscharrt hat. Den Killer sucht auch die Einwanderungsbehörde und bald darauf auch den einzigen Tatzeugen und dessen charismatische Freundin. Das junge Paar ist auf der Flucht vor einem religiösen Irren, der sich Preacher nennt und glaubt, im Auftrag des alttestamentlichen Buches Esther die Welt reinigen zu müssen.
Die Zutaten verheißen, was Burke dann einlöst - archaische Wucht. Die aber auf Dauer durchzuhalten, daran sind schon andere gescheitert. Zu nah ist hohles Pathos, zumal wenn man wie Burke, statt zu einem Ende zu gelangen, immer wieder von vorne anfängt. Als Leser fürchtet man unweigerlich, nie von diesem Wanderkiller erlöst zu werden, immerhin geht das 660 stattliche Seiten lang so. Wenn man der These folgt, auch Krimileser wollten immer wieder das gleiche Buch lesen, hat man hier mehrere gleiche Romane in einem Band. Man könnte das geschwätzig nennen; da wir im Hard-boiled-Genre sind, nennen wir es lieber warmed-over und empfehlen als Soundtrack Johnny Cashs Lied "The Man Comes Around".
Bei Kunstmann legt man sich ebenfalls mit einer Neuauflage für "Laidlaw" (304 S., 19,95 [Euro]) von William McIlvanney ins Zeug, der laut Werbung dafür verantwortlich ist, dass Ian Rankin zum Schriftsteller wurde. Na bitte, da hat er sich tatsächlich ein Vorbild ausgesucht, dessen kunstvoll knappe Prosa aus dem Haufen heraussticht. Mit der Laidlaw-Trilogie, die zwischen 1977 und 1991 erschien, hievte McIlvanney Schottland auf die Krimiweltkarte, Detective Inspector Jack Laidlaw ist ein Gedichte zitierender Sonderling, der zu viel trinkt, "nicht aus Vergnügen, eher systematisch, als wär's verschnittener Schierling"). Der Ausflug nach Glasgow lohnt sich auch nach bald vierzig Jahren.
Ebenfalls am unteren Rand der Gesellschaft fischt die englische Autorin Liz Cody ihre Geschichten in "Lady Bag" (Argument Verlag, 320 S., 17,- [Euro]). Sie hat selbst Erfahrungen als Obdachlose sammeln müssen, die kommen ihrer namenlosen Protagonistin nun zu Hilfe, die aus der Mittelschicht in die Gosse gestürzt ist. Mit einem stabilen Rotweinpegel und ihrem sprechenden Hund zieht sie durchs Westend, als sie den Mann wiedersieht, der sie in den Ruin trieb. Sie heftet sich auf seine Spur - was ihr nicht gut bekommen wird. Cody beschreibt ein London aus dem Blick von unten, das mit unserem touristischen Blick gründlich aufräumt, bissig, witzig und sehr schnoddrig.
Das Krimi-Genre ist mittlerweile vom Vorübergehen der Neuerscheinungen so aufgebläht, dass es nichts mehr hält von Selbstbeschränkung. Das hilft dann auch Büchern, die gar nicht als Krimi vermarktet werden. So widerfahren dem Liebeskind Verlag zu München, der einen psychologischen Roman "Die Verlobung" (320 S., 19,80 [Euro]) von Chloe Hooper veröffentlich hat, der es - man weiß auch beim Verlag nicht genau, warum - sogleich auf die KrimiZeit-Bestenliste geschafft hat.
Unter neuer Verlagsfahne segelt derweil Don Winslow nach seinem Abschied von Suhrkamp in Richtung Stapel neben der Ladenkasse mit "Missing. New York" (Droemer, 395 S., br., 14,99 [Euro]). Sein Ermittler Frank Decker ist ein ehemaliger Elitesoldat, der seine Festanstellung bei der Polizei und seine Ehe drangibt, als die siebenjährige Hailey verschwindet. Die Spur führt aus der Provinz in Nebraska nach New York, in die Glamourwelt rund um den Central Park und zu den Reichen in den Hamptons. Das ist solide und temposicher inszeniert und schlürft sich so weg, ohne größere Spuren im Lesergedächtnis zu hinterlassen - mithin bestsellertauglich. Dass es zur Überrundung von Nele Neuhaus reicht, darf bezweifelt werden.
Am 8. Oktober wäre er fünfzig Jahre alt geworden, deswegen wirft sich der Züricher Diogenes Verlag für den im Vorjahr verstorbenen Autor Jakob Arjouni in die Bresche und bündelt dessen fünf Romane um den Frankfurter Privatdetektiv Kemal Kayankaya in einer geschmackvollen Kassette mit Schmuckschuber. "Die Kayankaya-Romane" (Diogenes, 1080 S., 39,90 [Euro]) kann man bereits vorsorglich auf die Liste für mögliche Weihnachtsgeschenke setzen.
hhm
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Christopher Schmidt liebt die rhetorisch meisterliche Lakonie Don Winslows. Ein Glück, dass der Autor mit Miniemphasen und hardboiled Stil-Proben auch in diesem Buch nicht spart. Für Schmidt kommen Handlung und Sprache dadurch erst so richtig in Fahrt und verdecken die prinzipielle Unterdeterminiertheit des Plots. Was den Thriller für Schmidt noch lesenswert macht, sind Winslows in der Geschichte um eine Kindsentführung niedergeschriebene Wut über Amerikas Nachlässigkeit im Umgang mit seinen Kindern sowie die gekonnte Regie, die Menschenhandel, Prostitution, einen korrupten Cop und alle möglichen Mobster-Händel lässig unter einen Hut bringt, wie Schmidt erklärt.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.11.2014Einmal Hölle und zurück
Wenn der Cowboy ans Meer kommt, wird aus ihm ein Detektiv: Don Winslows neuer Roman „Missing. New York“
huldigt der Noir-Romantik und schickt einen aus der Zeit gefallenen Helden auf die Suche nach einem vermissten Kind
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Auf die Frage, ob es da noch eine andere für ihn gibt außer seiner Frau Laura, müsste Frank Decker wahrheitsgemäß mit Ja antworten. Und diese andere ist nicht einmal halb so alt wie seine kaputte Ehe. An einem Sommerabend im Mittleren Westen ist die fünfjährige Hailey Hansen spurlos verschwunden. Sie spielte vor dem Haus ihrer Mutter, in einer Stadt, die so normal ist, dass eine Straße dort „Normal Street“ heißt. „Manchmal stellt dich das Leben vor klare Entscheidungen“, heißt es in Don Winslows neuem Roman „Missing. New York“. „Rechts oder links? Ost oder West?“
Vor die Wahl gestellt, seine Ehe zu retten oder ein vermisstes Kind, hat sich Decker für das Kind entschieden. Denn verheiratet ist er in Wahrheit sowieso nur mit seinem Beruf. Längst ist der ungelöste Fall zu seiner Obsession geworden. Den Job beim Police Department von Lincoln, Nebraska hat der Irakkriegs-Veteran dafür an den Nagel gehängt. Seit einem Jahr fährt er in seiner 1974er Corvette Stingray kreuz und quer durch Amerika, um Hailey zu suchen, begleitet allein von Bruce Springsteen, der Lieder singt über Männer, die kreuz und quer durch Amerika fahren. Und die ebenfalls auf der Suche sind.
Die Corvette und eine Handvoll Lebensweisheiten sind das, was ihm sein Vater hinterlassen hat, und wie das Auto ist auch der Mann trotz seiner erst 34 Jahre ein Oldtimer, so, wie er gebaut ist. Als klassisches Private Eye gehört Decker zu jenen Idealisten, die über einen harten Punch und ein weiches Herz verfügen. Winslows Thriller versteht sich als Hommage an das Genre des Noir, weshalb er beim ersten Einsatz seines neuen Serienhelden mit einem Ich-Erzähler operiert – für ihn ein Novum, erläuterte Don Winslow bei der Buchvorstellung in München. In seinen Augen ist der Noir ein Abkömmling des Western. Es sei kein Zufall, so Winslow, dass der Hardboiled-Krimi in Kalifornien entstand. Auf seinem Weg zur Frontier sei der Cowboy vom Meer aufgehalten worden und habe auf Detektiv umsatteln müssen. Beide, Cowboy und Detektiv, folgten jedoch demselben Moralkodex.
Ein versteckter Hinweis auf diese genealogische These ist vielleicht die Tatsache, dass die verschwundene Hailey im Buch ein geschecktes Spielzeugpferd, einen sogenannten Pinto, bei sich hat. Im Verlauf der Handlung wird dieses Pferd noch eine wichtige Rolle spielen, gipfelnd in einer Schlüsselszene, die einem schier den Atem stocken lässt. Der moralische Aplomb seines Helden ist dabei durchaus Winslows eigener. Jeden Tag werden in den USA fünf Kinder getötet. Das sind fünf Mal so viele wie in den 25 nächstgrößeren Industrienationen zusammen. „Es gibt in den Staaten eine nationale Datenbank für gestohlene Fahrzeuge, aber es gibt keine für vermisste Kinder“, sagt Don Winslow. Der Grund liege auf der Hand: Ein Auto habe einen bezifferbaren ökonomischen Wert, ein Menschenleben nicht.
Die helle Wut über diesen Missstand treibt Winslows Roman an. So richtig Fahrt nimmt aber nicht nur dessen Handlung, sondern auch die Sprache auf, als Decker die einsamen Motels in der Prärie hinter sich lässt und seine Corvette in New York City abstellt. Decker folgt der zweiten Fährte, nachdem die erste sich auf der abgelegenen Marihuana-Farm zweier Alt-Hippies verloren hat. Doch diese neue Spur, die ihn zu einem Star-Fotografen nach Manhattan führt, scheint noch kälter zu sein als die andere. Warum sollte ein Mann, der sich alles kaufen kann, ein kleines afroamerikanisches Mädchen aus prekären Verhältnissen entführen?
Das Einzige, was seinem Verdacht Nahrung gibt, ist die Tatsache, dass die schöne Freundin des Fotografen, ein Supermodel, genauso aussieht wie die vermisste Hailey, nur zwanzig Jahre älter. Aber das ist bestenfalls das Spurenelement einer Spur. Wie Winslow die verschiedenen Motivkreise des Buches schließlich miteinander verbindet: Menschenhandel, Zwangsprostitution und Mobster-Machenschaften – hinzu kommen noch ein korrupter Cop und ein moderner Pygmalion –, das überzeugt mehr als artistische Nummer denn als kriminalistische. Winslow nutzt die Genre-Konventionen, um virtuos, aber auch sehr zurückgelehnt mit Effekten zu zaubern. Man könnte auch sagen, er verbirgt seine Tricks, indem er das Publikum im entscheidenden Moment ablenkt. Als wärenBeweisketten nur die Requisiten für einen narrativenrope trick. Auch der Schusswaffengebrauch hält sich, zumal im Vergleich mit seinem vorherigen Roman „Vergeltung“, einer Art Baller-Porno mit szenischem Bonusmaterial, in den engen Grenzen des Handschuhfachs, in dem Decker seine 38er Smith & Wesson aufbewahrt. Mehr Win - slow als Wins - blow.
Für den ebenso überinstrumentierten wie unterdeterminierten Plot entschädigen freilich die metaphorischen Verneigungen vor den Noir-Vätern im Philip-Marlowe-Gedächtnis-Stil. „Die meisten waren langbeinige, ausgemergelte Models, die nur eine Bambussprosse vom hypoglykämischen Schock entfernt scheinen“, heißt es über die Schönen und Reichen auf einer Pool-Party in den Hamptons. Eine junge Prostituierte trägt „Shorts, die schon aufhörten, bevor sie richtig anfingen“. Und eine Puffmutter, die kaum zufällig Chandler heißt, taxiert Deckers „Nettopreis“, während der Blick einer Vorzimmer-Lady „komplette Truthähne schockfrosten“ könnte. Decker selbst ist nach dem Zusammenstoß mit zwei Mafia-Prätorianern so verführerisch „wie ein Verkaufsgespräch über Ferienwohnungen“.
Bisweilen wird das sarkastische Temperament der Rollenprosa geradezu gefährlich, verrät doch der eher schlichte Provinzler Decker eine Milieu-Kenntnis der New Yorker Schickeria, die sich Winslow mit erklärenden Kommentaren zu bemänteln genötigt sieht: „Ja, auch in Lincoln, Nebraska, kennt man taupe “, „Ich hatte Shooting-Sessions im Kino gesehen“ oder „Jenseits des Parks erkannte ich die Zinnen des Dakota Building, vor dem, wie selbst ich kultureller Analphabet wusste, einst John Lennon erschossen wurde“.
Auf sein typisches Stilmittel, die oft nur ein Wort langen Sätze, denen Winslow eine eigene Zeile einräumt, um maximale Lakonie mit maximaler Emphase zu triggern, muss der Leser auch hier nicht verzichten. Und diese rhetorischen Mini-Cliffhanger zeigen: Noch härter als die literarische Kategorie des Thrillers ist nur das Epigramm. Mit einem besonders schönen beginnt das Buch: „Der Morgen in Manhattan kam mit dem Poltern und Zischen eines Müllautos, das die Sünden der Nacht bereinigte.
Oder es versuchte.“
Don Winslow: Missing. New York. Aus dem Englischen von Chris Hirte. Droemer Verlag, München 2014. 400 Seiten, 14,99 Euro. E-Book 12,99 Euro.
Der Autor kennt das Milieu,
über das er schreibt, besser als
seine Figur – das hat Folgen
„Ich stellte fest, dass so eine Straße wie ein Fluss ist, mit düsteren
Untiefen, wo Hechte lauern,
und gefährlichen Wirbeln, die einen
einsaugten und nie wieder
losließen“, heißt es im Roman über den Broadway.
Foto: age fotostock / LOOK-foto
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Wenn der Cowboy ans Meer kommt, wird aus ihm ein Detektiv: Don Winslows neuer Roman „Missing. New York“
huldigt der Noir-Romantik und schickt einen aus der Zeit gefallenen Helden auf die Suche nach einem vermissten Kind
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Auf die Frage, ob es da noch eine andere für ihn gibt außer seiner Frau Laura, müsste Frank Decker wahrheitsgemäß mit Ja antworten. Und diese andere ist nicht einmal halb so alt wie seine kaputte Ehe. An einem Sommerabend im Mittleren Westen ist die fünfjährige Hailey Hansen spurlos verschwunden. Sie spielte vor dem Haus ihrer Mutter, in einer Stadt, die so normal ist, dass eine Straße dort „Normal Street“ heißt. „Manchmal stellt dich das Leben vor klare Entscheidungen“, heißt es in Don Winslows neuem Roman „Missing. New York“. „Rechts oder links? Ost oder West?“
Vor die Wahl gestellt, seine Ehe zu retten oder ein vermisstes Kind, hat sich Decker für das Kind entschieden. Denn verheiratet ist er in Wahrheit sowieso nur mit seinem Beruf. Längst ist der ungelöste Fall zu seiner Obsession geworden. Den Job beim Police Department von Lincoln, Nebraska hat der Irakkriegs-Veteran dafür an den Nagel gehängt. Seit einem Jahr fährt er in seiner 1974er Corvette Stingray kreuz und quer durch Amerika, um Hailey zu suchen, begleitet allein von Bruce Springsteen, der Lieder singt über Männer, die kreuz und quer durch Amerika fahren. Und die ebenfalls auf der Suche sind.
Die Corvette und eine Handvoll Lebensweisheiten sind das, was ihm sein Vater hinterlassen hat, und wie das Auto ist auch der Mann trotz seiner erst 34 Jahre ein Oldtimer, so, wie er gebaut ist. Als klassisches Private Eye gehört Decker zu jenen Idealisten, die über einen harten Punch und ein weiches Herz verfügen. Winslows Thriller versteht sich als Hommage an das Genre des Noir, weshalb er beim ersten Einsatz seines neuen Serienhelden mit einem Ich-Erzähler operiert – für ihn ein Novum, erläuterte Don Winslow bei der Buchvorstellung in München. In seinen Augen ist der Noir ein Abkömmling des Western. Es sei kein Zufall, so Winslow, dass der Hardboiled-Krimi in Kalifornien entstand. Auf seinem Weg zur Frontier sei der Cowboy vom Meer aufgehalten worden und habe auf Detektiv umsatteln müssen. Beide, Cowboy und Detektiv, folgten jedoch demselben Moralkodex.
Ein versteckter Hinweis auf diese genealogische These ist vielleicht die Tatsache, dass die verschwundene Hailey im Buch ein geschecktes Spielzeugpferd, einen sogenannten Pinto, bei sich hat. Im Verlauf der Handlung wird dieses Pferd noch eine wichtige Rolle spielen, gipfelnd in einer Schlüsselszene, die einem schier den Atem stocken lässt. Der moralische Aplomb seines Helden ist dabei durchaus Winslows eigener. Jeden Tag werden in den USA fünf Kinder getötet. Das sind fünf Mal so viele wie in den 25 nächstgrößeren Industrienationen zusammen. „Es gibt in den Staaten eine nationale Datenbank für gestohlene Fahrzeuge, aber es gibt keine für vermisste Kinder“, sagt Don Winslow. Der Grund liege auf der Hand: Ein Auto habe einen bezifferbaren ökonomischen Wert, ein Menschenleben nicht.
Die helle Wut über diesen Missstand treibt Winslows Roman an. So richtig Fahrt nimmt aber nicht nur dessen Handlung, sondern auch die Sprache auf, als Decker die einsamen Motels in der Prärie hinter sich lässt und seine Corvette in New York City abstellt. Decker folgt der zweiten Fährte, nachdem die erste sich auf der abgelegenen Marihuana-Farm zweier Alt-Hippies verloren hat. Doch diese neue Spur, die ihn zu einem Star-Fotografen nach Manhattan führt, scheint noch kälter zu sein als die andere. Warum sollte ein Mann, der sich alles kaufen kann, ein kleines afroamerikanisches Mädchen aus prekären Verhältnissen entführen?
Das Einzige, was seinem Verdacht Nahrung gibt, ist die Tatsache, dass die schöne Freundin des Fotografen, ein Supermodel, genauso aussieht wie die vermisste Hailey, nur zwanzig Jahre älter. Aber das ist bestenfalls das Spurenelement einer Spur. Wie Winslow die verschiedenen Motivkreise des Buches schließlich miteinander verbindet: Menschenhandel, Zwangsprostitution und Mobster-Machenschaften – hinzu kommen noch ein korrupter Cop und ein moderner Pygmalion –, das überzeugt mehr als artistische Nummer denn als kriminalistische. Winslow nutzt die Genre-Konventionen, um virtuos, aber auch sehr zurückgelehnt mit Effekten zu zaubern. Man könnte auch sagen, er verbirgt seine Tricks, indem er das Publikum im entscheidenden Moment ablenkt. Als wärenBeweisketten nur die Requisiten für einen narrativenrope trick. Auch der Schusswaffengebrauch hält sich, zumal im Vergleich mit seinem vorherigen Roman „Vergeltung“, einer Art Baller-Porno mit szenischem Bonusmaterial, in den engen Grenzen des Handschuhfachs, in dem Decker seine 38er Smith & Wesson aufbewahrt. Mehr Win - slow als Wins - blow.
Für den ebenso überinstrumentierten wie unterdeterminierten Plot entschädigen freilich die metaphorischen Verneigungen vor den Noir-Vätern im Philip-Marlowe-Gedächtnis-Stil. „Die meisten waren langbeinige, ausgemergelte Models, die nur eine Bambussprosse vom hypoglykämischen Schock entfernt scheinen“, heißt es über die Schönen und Reichen auf einer Pool-Party in den Hamptons. Eine junge Prostituierte trägt „Shorts, die schon aufhörten, bevor sie richtig anfingen“. Und eine Puffmutter, die kaum zufällig Chandler heißt, taxiert Deckers „Nettopreis“, während der Blick einer Vorzimmer-Lady „komplette Truthähne schockfrosten“ könnte. Decker selbst ist nach dem Zusammenstoß mit zwei Mafia-Prätorianern so verführerisch „wie ein Verkaufsgespräch über Ferienwohnungen“.
Bisweilen wird das sarkastische Temperament der Rollenprosa geradezu gefährlich, verrät doch der eher schlichte Provinzler Decker eine Milieu-Kenntnis der New Yorker Schickeria, die sich Winslow mit erklärenden Kommentaren zu bemänteln genötigt sieht: „Ja, auch in Lincoln, Nebraska, kennt man taupe “, „Ich hatte Shooting-Sessions im Kino gesehen“ oder „Jenseits des Parks erkannte ich die Zinnen des Dakota Building, vor dem, wie selbst ich kultureller Analphabet wusste, einst John Lennon erschossen wurde“.
Auf sein typisches Stilmittel, die oft nur ein Wort langen Sätze, denen Winslow eine eigene Zeile einräumt, um maximale Lakonie mit maximaler Emphase zu triggern, muss der Leser auch hier nicht verzichten. Und diese rhetorischen Mini-Cliffhanger zeigen: Noch härter als die literarische Kategorie des Thrillers ist nur das Epigramm. Mit einem besonders schönen beginnt das Buch: „Der Morgen in Manhattan kam mit dem Poltern und Zischen eines Müllautos, das die Sünden der Nacht bereinigte.
Oder es versuchte.“
Don Winslow: Missing. New York. Aus dem Englischen von Chris Hirte. Droemer Verlag, München 2014. 400 Seiten, 14,99 Euro. E-Book 12,99 Euro.
Der Autor kennt das Milieu,
über das er schreibt, besser als
seine Figur – das hat Folgen
„Ich stellte fest, dass so eine Straße wie ein Fluss ist, mit düsteren
Untiefen, wo Hechte lauern,
und gefährlichen Wirbeln, die einen
einsaugten und nie wieder
losließen“, heißt es im Roman über den Broadway.
Foto: age fotostock / LOOK-foto
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Don Wilson ist einer DER Thriller-Autoren der letzten Jahre! Seine Werke fanden große Beachtung, seine Lesegemeinde wächst unaufhörlich. Nun startet er mit "Missing. New York" eine neue Reihe. Die Figur des Frank Decker ist eine vielschichtige Figur. Durch die große Balance, die Wilson seiner Hauptfigur verleiht, kann man sich auf weitere Fälle freuen. Der erste der Reihe hat es schon in sich. Fesselnd und voller Dramatik! denglers-buchkritik.de, 09.02.2015