Für viele Beobachter im Westen bestätigte der 11. September 2001 die angeblich tausendjährige Feindschaft zwischen Orient und Okzident. Georges Corm legt dar, weshalb es sich dabei um einen eingebildeten bzw. herbeigeredeten Gegensatz handelt, der einer bestimmten Interessenpolitik dient.
Er zeigt, auf welchen Grundlagen im 19. Jahrhundert die Klischees eines 'mystischen, archaischen und irrationalen' Orients entstanden sind, der mit einem rationalen und 'modernen' Westen konterkariert wurde. Dabei spart er nicht mit Kritik an denjenigen arabischen Intellektuellen, die - gewollt oder ungewollt - immer wieder neue Nahrung für die westlichen Klischees geliefert haben. Aber er deckt auch die Selbsttäuschungen im modernen westlichen Denken auf, das sich seiner Irrationalität oft einfach nicht bewusst ist und das Missverständnis bezüglich Orient geradezu pflegt.
Corm, der in beiden Kulturen zu Hause ist, beschreibt die zahlreichen historischen und kulturellen Berührungspunkte, die reiche gemeinsame Geschichte, die Ost und West verbinden (könnten). Gefragt sind heute mehr denn je die Brückenbauer. Ihnen liefert dieses Buch die guten Argumente.
Er zeigt, auf welchen Grundlagen im 19. Jahrhundert die Klischees eines 'mystischen, archaischen und irrationalen' Orients entstanden sind, der mit einem rationalen und 'modernen' Westen konterkariert wurde. Dabei spart er nicht mit Kritik an denjenigen arabischen Intellektuellen, die - gewollt oder ungewollt - immer wieder neue Nahrung für die westlichen Klischees geliefert haben. Aber er deckt auch die Selbsttäuschungen im modernen westlichen Denken auf, das sich seiner Irrationalität oft einfach nicht bewusst ist und das Missverständnis bezüglich Orient geradezu pflegt.
Corm, der in beiden Kulturen zu Hause ist, beschreibt die zahlreichen historischen und kulturellen Berührungspunkte, die reiche gemeinsame Geschichte, die Ost und West verbinden (könnten). Gefragt sind heute mehr denn je die Brückenbauer. Ihnen liefert dieses Buch die guten Argumente.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.05.2005Der Mythos vom rationalen Westen
Oriana Fallacci versteht sich weiter als Kassandra, Georges Corm spricht vom „Missverständnis Orient”
Man stelle sich vor, eine etwas schlicht gestrickte, aber wortmächtige 74-Jährige schreibt Freunden eine langen Brief. Sie weiß, wie es in der Welt zugeht, denn sie hat fast alles erlebt. Den 11. September sogar live. Ihre lebenslang aufgestauten Enttäuschungen kulminieren in einer hemmungslosen Anklage. Sie sagt, sie sei „Kassandra” und es sei „ihre Pflicht”, uns zu warnen: Vor den Toren steht der Feind, Unsinn, er ist bereits unter uns und wird uns gleich unterjochen - wir Simpel haben es nur noch nicht bemerkt.
Da tobt nicht irgendwer vor sich hin, sondern eine der international bekanntesten Journalistinnen: Oriana Fallaci, einst Kriegsberichterstatterin in Vietnam und dem Nahen Osten, berühmt durch ihre schonungslosen Interviews. Nach dem millionenfach verkauften Bestseller „Die Wut und der Stolz” ist „Die Kraft der Vernunft” das zweite Buch, das sie mit hasserfüllten Tiraden gegen den Islam auf den Weg gebracht hat.
Über 300 Seiten lang wettert die in New York lebende Italienerin über „Eurabia” - das Europa, das sich „wie eine Dirne” an die Muslime verkauft, seine Identität und Kultur den Barbaren geopfert habe. Schon seit den 60er Jahren, so ihre kläglich belegte „These”, verfolgten die Muslime die Strategie, sich so rasch zu vermehren, dass sie bald Europa übernehmen könnten. Die Linken, die Rechten und die katholische Kirche hätten sie dabei tatkräftig unterstützt. Italien sei bereits islamisiert - „mit Minaretten anstelle von Glockentürmen, Harems anstelle von Nightclubs, dem Koran anstelle unserer Verfassung”.
Streckenweise könnte man über den Wortschwall der wütenden Journalistin fast lachen. Meist machen ihre Aggressionen aber so fassungslos, dass man sich noch fragt, ob sie sich der Thomas Bernhardschen „Übertreibungskunst” bedient. War es nicht Bernhard, der gesagt hat, „nur die Übertreibung macht anschaulich, auch die Gefahr, dass wir zum Narren erklärt werden, stört uns in höherem Alter nicht mehr”? Doch diese Erklärung führt in die Irre und entpuppt sich als Beleidigung für Bernhards Werk. Natürlich sind Fallacis Bücher über „den Islam” und die Tatsache, dass sie eifrig gelesen werden, symptomatisch für die Fehlentwicklungen in der Welt - der militante Islamismus gegen die neo-liberale US-Politik und umgedreht, die fehlgeschlagene Integration von Immigranten in Europa, die wachsende Armut im Angesicht der Globalisierung, die Politikverdrossenheit. Die Journalistin klärt aber nicht auf und analysiert, sondern greift polemisch an: Ihr Buch ist eine zündelnde Propagandaschrift gegen eine Milliarde Menschen anderer Konfession.
Georges Corm würde das wohl unter „simplizistischer Symbolik” subsumieren. In einer Fußnote verweist er auf den „bis ins Absurde karikierten Islam . . . in dem stupiden Machwerk von Oriana Fallaci”. Der Ökonom und ehemalige Finanzminister des Libanon erklärt in seinem Buch das „Missverständnis Orient”. Das weithin verbreitete Klischee, der Westen sei ein Musterbeispiel an Rationalität und die anderen Gesellschaften eine Ausgeburt der Irrationalität, sei ein Mythos. Der Berater internationaler Organisationen und Zentralbanken betrachtet den vermeintlichen Bruch zwischen Ost und West, den „Kampf der Kulturen”, als Kunstprodukt. Seine Aufrechterhaltung diene „höchst profanen Machtinteressen und geopolitischen Gegensätzen”.
Westliche Beobachter, sagt er, erhöben stets religiöse und ethnische Faktoren zum monokausalen Erklärungsgrund für die Schieflage der Welt. Corm unterstellt dem Westen, dass er zwar Weltliches und Geistliches getrennt habe, trotz seiner Rationalität aber noch immer mythisch-religiös geprägt sei und eine „Sehnsucht nach dem Eigentlichen” habe. In den USA etwa gelte nicht Laizität als politischer Grundwert, sondern religiöse Freiheit: „In God we trust.” So wie früher der Kommunismus als Glaubensersatz hergehalten habe, funktioniere heute das wirtschaftliche Credo des Neoliberalismus.
Der Westen reduziere komplexe Phänomene auf einfache Nenner, er habe das Sakrale aus dem Epizentrum von Kirche und Gläubigen auf die ethnische und nationale Gemeinschaft verlagert. Und er vernachlässige soziale und politische Ursachen sowie regionale Interessen: „So gut wie nie berücksichtigen die einschlägigen Analysen profane Faktoren wie die Machtspiele lokaler Eliten, den Schmuggel und Drogenhandel mafiöser Organisationen oder das organisierte Verbrechen.” Die palästinensischen Selbstmordattentäter kämpften zwar unter der Fahne des Islam, ihr eigentlicher Beweggrund sei indes die Befreiung eines Landes - ein Ziel, das mit Religion oder dem international operierenden, militanten Islamismus direkt nichts zu tun habe.
Mit seiner Idealisierung des christlich-jüdischen Monotheismus habe der Westen den Islam zudem geschickt aus dem globalen Diskurs ausgegrenzt und sich in eine narzisstische Selbstbespiegelung begeben. Solange der eingebildete Bruch zwischen Ost und West ständig weiter genährt werde und beide Seiten sich ununterbrochen herabwürdigten, blieben die Feindseligkeiten weiter bestehen und die Geschichte komme nicht vom Fleck, sagt der Libanese.
Er beklagt den Verfall des Politischen und appelliert an den Westen, anstelle eines narzisstischen Selbstdiskurses den Geist der Aufklärung wiederzubeleben. Dazu gehöre, eine echte Laizität zu praktizieren, denn nur, wenn diese der westlich-christlichen Doktrin entkleidet würde, bekäme sie auch universellen Charakter - und das internationale Recht Glaubwürdigkeit. Der freie Verkehr von Konsumgütern habe mit Bürgerfreiheit nichts zu tun, und Macht sei nicht mit Vernunft zu verwechseln.
ALEXANDRA SENFFT
ORIANA FALLACI: Die Kraft der Vernunft, List/Ullstein, Berlin 2004. 317 Seiten, 19,95 Euro.
GEORGES CORM: Missverständnis Orient. Die islamische Kultur und Europa, Rotpunkt Verlag, Zürich 2004. 180 Seiten, 19,80 Euro.
Selbstbewusste junge Musliminnen in Berlin bei einer Demonstration gegen das Kopftuchverbot im Januar 2004.
Foto: AP
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Oriana Fallacci versteht sich weiter als Kassandra, Georges Corm spricht vom „Missverständnis Orient”
Man stelle sich vor, eine etwas schlicht gestrickte, aber wortmächtige 74-Jährige schreibt Freunden eine langen Brief. Sie weiß, wie es in der Welt zugeht, denn sie hat fast alles erlebt. Den 11. September sogar live. Ihre lebenslang aufgestauten Enttäuschungen kulminieren in einer hemmungslosen Anklage. Sie sagt, sie sei „Kassandra” und es sei „ihre Pflicht”, uns zu warnen: Vor den Toren steht der Feind, Unsinn, er ist bereits unter uns und wird uns gleich unterjochen - wir Simpel haben es nur noch nicht bemerkt.
Da tobt nicht irgendwer vor sich hin, sondern eine der international bekanntesten Journalistinnen: Oriana Fallaci, einst Kriegsberichterstatterin in Vietnam und dem Nahen Osten, berühmt durch ihre schonungslosen Interviews. Nach dem millionenfach verkauften Bestseller „Die Wut und der Stolz” ist „Die Kraft der Vernunft” das zweite Buch, das sie mit hasserfüllten Tiraden gegen den Islam auf den Weg gebracht hat.
Über 300 Seiten lang wettert die in New York lebende Italienerin über „Eurabia” - das Europa, das sich „wie eine Dirne” an die Muslime verkauft, seine Identität und Kultur den Barbaren geopfert habe. Schon seit den 60er Jahren, so ihre kläglich belegte „These”, verfolgten die Muslime die Strategie, sich so rasch zu vermehren, dass sie bald Europa übernehmen könnten. Die Linken, die Rechten und die katholische Kirche hätten sie dabei tatkräftig unterstützt. Italien sei bereits islamisiert - „mit Minaretten anstelle von Glockentürmen, Harems anstelle von Nightclubs, dem Koran anstelle unserer Verfassung”.
Streckenweise könnte man über den Wortschwall der wütenden Journalistin fast lachen. Meist machen ihre Aggressionen aber so fassungslos, dass man sich noch fragt, ob sie sich der Thomas Bernhardschen „Übertreibungskunst” bedient. War es nicht Bernhard, der gesagt hat, „nur die Übertreibung macht anschaulich, auch die Gefahr, dass wir zum Narren erklärt werden, stört uns in höherem Alter nicht mehr”? Doch diese Erklärung führt in die Irre und entpuppt sich als Beleidigung für Bernhards Werk. Natürlich sind Fallacis Bücher über „den Islam” und die Tatsache, dass sie eifrig gelesen werden, symptomatisch für die Fehlentwicklungen in der Welt - der militante Islamismus gegen die neo-liberale US-Politik und umgedreht, die fehlgeschlagene Integration von Immigranten in Europa, die wachsende Armut im Angesicht der Globalisierung, die Politikverdrossenheit. Die Journalistin klärt aber nicht auf und analysiert, sondern greift polemisch an: Ihr Buch ist eine zündelnde Propagandaschrift gegen eine Milliarde Menschen anderer Konfession.
Georges Corm würde das wohl unter „simplizistischer Symbolik” subsumieren. In einer Fußnote verweist er auf den „bis ins Absurde karikierten Islam . . . in dem stupiden Machwerk von Oriana Fallaci”. Der Ökonom und ehemalige Finanzminister des Libanon erklärt in seinem Buch das „Missverständnis Orient”. Das weithin verbreitete Klischee, der Westen sei ein Musterbeispiel an Rationalität und die anderen Gesellschaften eine Ausgeburt der Irrationalität, sei ein Mythos. Der Berater internationaler Organisationen und Zentralbanken betrachtet den vermeintlichen Bruch zwischen Ost und West, den „Kampf der Kulturen”, als Kunstprodukt. Seine Aufrechterhaltung diene „höchst profanen Machtinteressen und geopolitischen Gegensätzen”.
Westliche Beobachter, sagt er, erhöben stets religiöse und ethnische Faktoren zum monokausalen Erklärungsgrund für die Schieflage der Welt. Corm unterstellt dem Westen, dass er zwar Weltliches und Geistliches getrennt habe, trotz seiner Rationalität aber noch immer mythisch-religiös geprägt sei und eine „Sehnsucht nach dem Eigentlichen” habe. In den USA etwa gelte nicht Laizität als politischer Grundwert, sondern religiöse Freiheit: „In God we trust.” So wie früher der Kommunismus als Glaubensersatz hergehalten habe, funktioniere heute das wirtschaftliche Credo des Neoliberalismus.
Der Westen reduziere komplexe Phänomene auf einfache Nenner, er habe das Sakrale aus dem Epizentrum von Kirche und Gläubigen auf die ethnische und nationale Gemeinschaft verlagert. Und er vernachlässige soziale und politische Ursachen sowie regionale Interessen: „So gut wie nie berücksichtigen die einschlägigen Analysen profane Faktoren wie die Machtspiele lokaler Eliten, den Schmuggel und Drogenhandel mafiöser Organisationen oder das organisierte Verbrechen.” Die palästinensischen Selbstmordattentäter kämpften zwar unter der Fahne des Islam, ihr eigentlicher Beweggrund sei indes die Befreiung eines Landes - ein Ziel, das mit Religion oder dem international operierenden, militanten Islamismus direkt nichts zu tun habe.
Mit seiner Idealisierung des christlich-jüdischen Monotheismus habe der Westen den Islam zudem geschickt aus dem globalen Diskurs ausgegrenzt und sich in eine narzisstische Selbstbespiegelung begeben. Solange der eingebildete Bruch zwischen Ost und West ständig weiter genährt werde und beide Seiten sich ununterbrochen herabwürdigten, blieben die Feindseligkeiten weiter bestehen und die Geschichte komme nicht vom Fleck, sagt der Libanese.
Er beklagt den Verfall des Politischen und appelliert an den Westen, anstelle eines narzisstischen Selbstdiskurses den Geist der Aufklärung wiederzubeleben. Dazu gehöre, eine echte Laizität zu praktizieren, denn nur, wenn diese der westlich-christlichen Doktrin entkleidet würde, bekäme sie auch universellen Charakter - und das internationale Recht Glaubwürdigkeit. Der freie Verkehr von Konsumgütern habe mit Bürgerfreiheit nichts zu tun, und Macht sei nicht mit Vernunft zu verwechseln.
ALEXANDRA SENFFT
ORIANA FALLACI: Die Kraft der Vernunft, List/Ullstein, Berlin 2004. 317 Seiten, 19,95 Euro.
GEORGES CORM: Missverständnis Orient. Die islamische Kultur und Europa, Rotpunkt Verlag, Zürich 2004. 180 Seiten, 19,80 Euro.
Selbstbewusste junge Musliminnen in Berlin bei einer Demonstration gegen das Kopftuchverbot im Januar 2004.
Foto: AP
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Alexandra Senfft findet in Georges Corms Buch "Missverständnis Orient" zahlreiche Klischees über die islamische Kultur kritisch in Frage gestellt. Der Ökonom und ehemalige Finanzminister des Libanon wende sich insbesondere gegen den Mythos, der Westen sei ein Musterbeispiel an Rationalität und die anderen Gesellschaften eine Ausgeburt der Irrationalität. Wie Senfft berichtet, versteht Crom den "Kampf der Kulturen" als Kunstprodukt, dessen Aufrechterhaltung "höchst profanen Machtinteressen und geopolitischen Gegensätzen" (Crom) diene. Er halte dem Westen vor, komplexe soziale und politische Phänomene auf religiöse und ethnische Faktoren zu reduzieren. Er diagnostiziere eine Idealisierung des christlich-jüdischen Monotheismus, über den der Westen den Islam aus dem globalen Diskurs ausgegrenzt und sich in eine narzisstische Selbstbespiegelung begeben habe. Stattdessen gelte es, den Geist der Aufklärung wiederzubeleben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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