"Japans ranghöchster Romancier heute ist Haruki Murakami - ein Mythenschöpfer für die Jahrtausendwende, ein hinterlistiger Weiser." (Publishers Weekly)
Toru Okada, ein unzufriedener Mann von 30 Jahren, gerade ohne Arbeit, von seiner tüchtigen Frau zurSelbsterforschung ermutigt, ist Held des Romans, eines Romans über die verschüttete Seele des globalisierten Menschen, der zwar fliegen kann, aber nur wie ein Spielzeugvogel, den irgend jemand aufgezogen hat.
Der 30-jährige Toru Okada in "Mister Aufziehvogel" steigt aus einer Anwaltskanzlei aus und gerät bei der Suche nach seinem Kater mitten in Tokio in eine Traumwelt, in der ihn erotische Verlockungen, aber auch bösartige Intrigen erwarten. Der Brunnen, der Toru den Einstieg in die geheimnisvolle Unterwelt gewährt, ist Zugang zu Vergangenem und Verdrängtem...
Toru Okada, ein unzufriedener Mann von 30 Jahren, gerade ohne Arbeit, von seiner tüchtigen Frau zurSelbsterforschung ermutigt, ist Held des Romans, eines Romans über die verschüttete Seele des globalisierten Menschen, der zwar fliegen kann, aber nur wie ein Spielzeugvogel, den irgend jemand aufgezogen hat.
Der 30-jährige Toru Okada in "Mister Aufziehvogel" steigt aus einer Anwaltskanzlei aus und gerät bei der Suche nach seinem Kater mitten in Tokio in eine Traumwelt, in der ihn erotische Verlockungen, aber auch bösartige Intrigen erwarten. Der Brunnen, der Toru den Einstieg in die geheimnisvolle Unterwelt gewährt, ist Zugang zu Vergangenem und Verdrängtem...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.02.1999Frisch, fromm, frühromantisch
Murakamis Roman "Mister Aufziehvogel" · Von Stephan Wackwitz
Tief und vollkommen unbestimmt ist das Gefühl der Bedeutsamkeit, das den Helden dieses Romans auf der ersten Seite überkommt und ihn knapp 700 Druckseiten lang nicht mehr losläßt. Eine Art mystischer Universalverdacht bildet Thema und Formprinzip des dicken Buchs - was angesichts der erzählten Begebenheiten kein Wunder ist. An einem ganz normalen Tokioter Spätvormittag des Jahres 1984 zum Beispiel - der Held ist gerade beim Spaghettikochen - ruft ihn eine verführerisch klingende, ihm völlig unbekannte Frauenstimme an und fordert ihn zu einer Art metaphysischem Telefonsex auf. Später - das metaphysische Telefonsex-Handlungselement ist inzwischen vergessen oder vielleicht aufgrund seiner Schwere in den Tiefen der Welt verschwunden - bildet sich auf der Wange des Helden ein blaues Mal, mit dem der Leser zwar nichts anfangen kann, von dem er aber das dringende Gefühl hat, er müsse sich einen Reim darauf machen (die blaue Blume? der Hautkrebs?).
Geheimnisvolle alte Männer tauchen schwach motiviert auf und hinterlassen Briefe mit langen Erzählungen über Verschüttungen und Folterungen während des Kriegs gegen die sowjetische Besatzungsmacht in der Mongolei. Ein junges Mädchen (Salingers Phoebe? Nabokovs Lolita?) sonnt sich auf einem Nachbargrundstück. Ein Kater entläuft und wird wiedergefunden. Der Schwager des Erzählers macht auf unbestimmt dämonische Art Karriere. Ein Vogel schreit knarrend, als hätte man ihn mit einer Feder aufgezogen. Ein anderer Vogel ist aus Beton und steht auf einem unheimlichen Gartengrundstück herum. Und alle bedeuten unentwegt irgend etwas sehr wenig Genaues.
Murakamis Toru Okada ist ein Nanotaku-Held, ein "Wilhelm Meister" der reinen Zufälligkeit. "Es sind Figuren", heißt es über das Personal Murakamis oder Banana Yoshimotos in der japanischen Literaturgeschichte Shuichi Katos, "die sich in einem ziemlich abstrakten und künstlichen Raum bewegen, ohne jede Sentimentalität, ohne in das Schicksal anderer Menschen einbezogen zu sein. Diese Männer und Frauen sind oft egozentrisch, oft clever, oft sehr sensibel und fast immer launenhaft . . . Es gibt wenig leidenschaftliche Liebe noch Haß, noch Entschlossenheit. Die Personen in diesen Geschichten tun alles wie zufällig, nanotaku, wie Tanako Yasuo es ausgedrückt hat." Ein bißchen erinnern diese Heldinnen und Helden jedoch auch an den legendären Selbstsucher Musashi, eine unentbehrliche Figur der japanischen Alltagsfolklore in Comic, Film, Funk und Fernsehen, den Ian Buruma beschrieben hat als den "archetypischen jungen Helden, der die Hindernisse auf dem Weg zur Männlichkeit überkommt".
Immer wieder verläßt Murakamis Toru Okada deshalb die Realität und taucht in seiner unergründlichen Innenwelt unter. "Ich schließe die Augen und trenne mich von diesem meinem Körper mit den schmutzigen Tennisschuhen", lesen wir auf Seite 418, "der grotesken Schwimmbrille, der tölpelhaften Erektion. Es ist gar nicht so schwierig, sich vom Körper zu lösen. Es macht mich viel ausgelassener, erlaubt mir das Unbehagen abzustreifen, das ich verspüre. Ich bin ein unkrautüberwachsener Garten, ein flugunfähiger, steinerner Vogel, ein trockener Brunnen. Ich weiß, das sich in diesem leerstehenden Haus, das ich bin, eine Frau aufhält. Ich kann sie nicht sehen, aber das stört mich nicht mehr. Wenn sie hier drinnen etwas sucht, kann ich es ihr ruhig auch geben." Ach, wer da mitreisen könnte! Oder zumindest jene komplizenhafte Selbstintoxikation des Lesers aufbrächte, die kluge Rezeptionsästhetiker so treffend als "willing suspension of disbelief" bezeichnet haben.
Denn man glaubt Murakamis Erzähler seine Ergriffenheit von den Geheimnissen der Welt nicht. Die Vision auf Seite 418 versammelt den Materialgehalt seines Wälzers dabei fast vollständig: Es geht tatsächlich um nicht viel mehr als um ein verlassenes Spukgrundstück mit einem Brunnen und einer Vogelskulptur darin. Um ein Haus, dessen Besitzer auf geheimnisvolle Weise ums Leben kommen. Um die merkwürdig ungenitalen, lasch-folgenlosen erotischen Empfindungen des Helden und Erzählers. Und natürlich um die Frauen, die sie in ihm erregen: seine Ehefrau, die von einem Tag auf den anderen spurlos und aus bis zuletzt nicht zu erhellenden Gründen verschwunden ist, und um elfenhaft unwirkliche Girlie-Wesen, die sich nach Inseln im Mittelmeer, Gewürzkräutern und Tokioter Stadtteilen nennen. Weil es um nichts Bestimmbares geht, soll uns zumute sein, als ginge es Murakami um schlechterdings alles: "Obwohl das Objekt nach Form und Beschaffenheit nichts als ein U-Boot sein konnte, sah es wie ein symbolisches Zeichen aus - oder eine unbegreifliche Metapher."
Murakami macht sich der Verwechslung schuldig, die Adorno als "Kardinalsünde des Okkultismus" gekennzeichnet hat: der "Kontamination von Geist und Dasein". Gerade daß in seinem Buch alles geheimnisvoll sein soll, ärgert den Leser, der sich verzaubern lassen möchte. Literarische Verzauberung hat in der westlichen Literaturtradition seit dem Scheitern des romantischen Romans auf das Konto einer genauen Beschreibung der Wirklichkeit zu gehen. Tatsächlich gleicht Haruki Murakamis "Mister Aufziehvogel" eher dem "Heinrich von Ofterdingen" oder den Figuren in Eichendorffs "Ahnung und Gegenwart" (welcher Titel seinem Buch auch gut gepaßt hätte): den Helden von Büchern also, die der moderne Leser schnell zuklappt, während er den "Grünen Heinrich", die "Éducation Sentimentale" oder den "Stechlin" nicht nur deswegen nicht aus der Hand legen mag, weil sie ihm die Vorderseite der Welt genau zeigen, sondern auch deswegen, weil sie ihm eine Ahnung von den Gründen und Abgründen des Unsagbaren vermitteln.
Murakami dagegen greift frisch, fromm und frühromantisch nach dem Absoluten. "Mitten im Himmel hing ein riesiger weißer Mond, der Vollmond des Spätherbstes, und übergoß den Garten mit seinem Licht", schreibt er, oder, auf einer anderen, fast beliebig aufgeschlagenen Seite: "Im Licht strömten Tränen aus mir hervor. Mir war, als würde sich jegliche Flüssigkeit meines Körpers in Tränen verwandeln und aus meinen Augen hervorströmen, als könnte mein ganzer Körper auf diese Weise zerschmelzen. Hätte er sich in der Seligkeit dieses überirdischen Lichts ereignen können, wäre selbst der Tod kein Feind mehr gewesen. Ich erlebte ein wunderbares Gefühl des Einsseins, ein überwältigendes Gefühl von Ganzheit. Ja, das war es: Der wahre Sinn des Lebens ruhte in diesen wenigen Sekunden währenden Licht, und ich spürte, daß ich da, in diesem Augenblick, hätte sterben sollen."
Das überirdische Licht scheint auf diesen Seiten so hell und so oft, als könne man es bei Bedarf mit einem Lichtschalter anknipsen. Der Sinn des Lebens kommt aus der Steckdose. Instant Karma's gonna get you. Die traditionelle japanische Kultur - meisterhaft hat Yasushi Inoue sie literarisch in die Moderne versetzt und sie mit ihr versöhnt - ist auf nichts so stolz wie auf ihr sprödes Understatement der Substanz des Heiligen gegenüber. "Hol Wasser, und hack das Holz", sagt der Zen-Meister zu dem Schüler, der die Erleuchtung gleich will. Man könnte auf den Gedanken kommen, daß die unbegreiflich zahlreichen, unbegreiflich schick und sexy angezogenen, unbegreiflich coolen, verwöhnten und konsumgeilen jungen Japaner und vor allem Japanerinnen, die an den Wochenenden die verschiedenen Zentren Tokios bevölkern, in diesem Bestseller ihr Erbauungsbuch gefunden haben. 4,2 Millionen von ihnen haben schon in den achtziger Jahren Murakamis Roman "Norwegian Wood" verschlungen; Raymond Carver und Scott Fitzgerald kennen sie aus Übersetzungen; Murakami ist der mit Abstand bestverdienende Autor im Inselreich.
Und man kann sich wirklich Abende verlieren in diesen 700 Seiten. Ein Grund dafür ist eine ökonomische Begabung Murakamis, von der er bei der Konstruktion der Gesamtanlage seiner Erzählung leider gar keinen Gebrauch gemacht hat: eine an Salinger erinnernde Fähigkeit, den Alltag jener Jeunesse dorée mit ein paar Strichen zu zeichnen: die sorgfältig verschmutzten Turnschuhe des arbeitslosen Helden ebenso wie die einzeln in Zellophan verpackten Kostüme seiner verschwundenen Ehefrau im Einbauschrank. Oder die unendlich überlegte Garderobe wohlhabender japanischer Damen zwischen Zwanzig und Dreißig.
"Sie ließ die Zigarette auf den Boden fallen, als prüfe sie die Schwerkraftverhältnisse des Tages." "So sorgsam wie einen zerbrochenen Gegenstand nahm er ein Buch in die Hand, das neben dem Computer lag, und schlug es da auf, wo er offenbar zu lesen aufgehört hatte." "Sie nahm den roten Vinylhut ab und legte ihn auf die Tasche, so daß diese völlig darunter verschwand. Es kam mir so vor, als wollte sie einen Zaubertrick vorführen: wenn sie den Hut hob, wäre die Tasche weg."
In solchen Miniaturen kann man den Tokioter Alltag wiedererkennen, die formvollendete, poetische, teure, umständliche Eleganz und Stilisierung des ganzen Lebens, die vielleicht einer der entscheidensten japanischen Beiträge zur Gegenwartskultur ist. Wer sich dafür nicht interessiert, muß sich an den manifesten Inhalt dieses okkulten Lifestyleromans halten, an die "nachholende Frühromantik" eines japanischen Erfolgsautors, der gegen die negative ästhetische Theologie Kawabatas und Inoues eine dezidiert zeitgenössische Spiritualität setzen will. Er liebe E.T.A. Hoffmann mehr als die japanische Moderne, hat Murakami Manfred Osten in einem Interview anvertraut. Gegen seine großen literarischen Zeitgenossen sei er "eigentlich im Trotz angetreten". Nur kann man, allem Trotz, allem Bemühen um Originalität ungeachtet, in Murakamis neuem Roman über die Weltgeheimnisse nicht mehr erfahren als aus den Büchern Susanna Tamaros. Das ist ein Geheimnis seines Erfolges; aber auch der Grund für das eigenartig Bemühte und Krause nicht nur in "Mister Aufziehvogel". Man kann das vermutlich als einen epigonalen Zug entziffern. Murakami ist der kommerziell erfolgreiche Epigone einer großen mystischen Tradition. Der Vergleich mit E.T.A. Hoffmann ist auf den zweiten Blick sehr treffend.
Haruki Murakami: "Mister Aufziehvogel". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Giovanni Bandini und Ditte Bandini. Dumont-Verlag, Köln 1998. 683 S., geb., 49,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Murakamis Roman "Mister Aufziehvogel" · Von Stephan Wackwitz
Tief und vollkommen unbestimmt ist das Gefühl der Bedeutsamkeit, das den Helden dieses Romans auf der ersten Seite überkommt und ihn knapp 700 Druckseiten lang nicht mehr losläßt. Eine Art mystischer Universalverdacht bildet Thema und Formprinzip des dicken Buchs - was angesichts der erzählten Begebenheiten kein Wunder ist. An einem ganz normalen Tokioter Spätvormittag des Jahres 1984 zum Beispiel - der Held ist gerade beim Spaghettikochen - ruft ihn eine verführerisch klingende, ihm völlig unbekannte Frauenstimme an und fordert ihn zu einer Art metaphysischem Telefonsex auf. Später - das metaphysische Telefonsex-Handlungselement ist inzwischen vergessen oder vielleicht aufgrund seiner Schwere in den Tiefen der Welt verschwunden - bildet sich auf der Wange des Helden ein blaues Mal, mit dem der Leser zwar nichts anfangen kann, von dem er aber das dringende Gefühl hat, er müsse sich einen Reim darauf machen (die blaue Blume? der Hautkrebs?).
Geheimnisvolle alte Männer tauchen schwach motiviert auf und hinterlassen Briefe mit langen Erzählungen über Verschüttungen und Folterungen während des Kriegs gegen die sowjetische Besatzungsmacht in der Mongolei. Ein junges Mädchen (Salingers Phoebe? Nabokovs Lolita?) sonnt sich auf einem Nachbargrundstück. Ein Kater entläuft und wird wiedergefunden. Der Schwager des Erzählers macht auf unbestimmt dämonische Art Karriere. Ein Vogel schreit knarrend, als hätte man ihn mit einer Feder aufgezogen. Ein anderer Vogel ist aus Beton und steht auf einem unheimlichen Gartengrundstück herum. Und alle bedeuten unentwegt irgend etwas sehr wenig Genaues.
Murakamis Toru Okada ist ein Nanotaku-Held, ein "Wilhelm Meister" der reinen Zufälligkeit. "Es sind Figuren", heißt es über das Personal Murakamis oder Banana Yoshimotos in der japanischen Literaturgeschichte Shuichi Katos, "die sich in einem ziemlich abstrakten und künstlichen Raum bewegen, ohne jede Sentimentalität, ohne in das Schicksal anderer Menschen einbezogen zu sein. Diese Männer und Frauen sind oft egozentrisch, oft clever, oft sehr sensibel und fast immer launenhaft . . . Es gibt wenig leidenschaftliche Liebe noch Haß, noch Entschlossenheit. Die Personen in diesen Geschichten tun alles wie zufällig, nanotaku, wie Tanako Yasuo es ausgedrückt hat." Ein bißchen erinnern diese Heldinnen und Helden jedoch auch an den legendären Selbstsucher Musashi, eine unentbehrliche Figur der japanischen Alltagsfolklore in Comic, Film, Funk und Fernsehen, den Ian Buruma beschrieben hat als den "archetypischen jungen Helden, der die Hindernisse auf dem Weg zur Männlichkeit überkommt".
Immer wieder verläßt Murakamis Toru Okada deshalb die Realität und taucht in seiner unergründlichen Innenwelt unter. "Ich schließe die Augen und trenne mich von diesem meinem Körper mit den schmutzigen Tennisschuhen", lesen wir auf Seite 418, "der grotesken Schwimmbrille, der tölpelhaften Erektion. Es ist gar nicht so schwierig, sich vom Körper zu lösen. Es macht mich viel ausgelassener, erlaubt mir das Unbehagen abzustreifen, das ich verspüre. Ich bin ein unkrautüberwachsener Garten, ein flugunfähiger, steinerner Vogel, ein trockener Brunnen. Ich weiß, das sich in diesem leerstehenden Haus, das ich bin, eine Frau aufhält. Ich kann sie nicht sehen, aber das stört mich nicht mehr. Wenn sie hier drinnen etwas sucht, kann ich es ihr ruhig auch geben." Ach, wer da mitreisen könnte! Oder zumindest jene komplizenhafte Selbstintoxikation des Lesers aufbrächte, die kluge Rezeptionsästhetiker so treffend als "willing suspension of disbelief" bezeichnet haben.
Denn man glaubt Murakamis Erzähler seine Ergriffenheit von den Geheimnissen der Welt nicht. Die Vision auf Seite 418 versammelt den Materialgehalt seines Wälzers dabei fast vollständig: Es geht tatsächlich um nicht viel mehr als um ein verlassenes Spukgrundstück mit einem Brunnen und einer Vogelskulptur darin. Um ein Haus, dessen Besitzer auf geheimnisvolle Weise ums Leben kommen. Um die merkwürdig ungenitalen, lasch-folgenlosen erotischen Empfindungen des Helden und Erzählers. Und natürlich um die Frauen, die sie in ihm erregen: seine Ehefrau, die von einem Tag auf den anderen spurlos und aus bis zuletzt nicht zu erhellenden Gründen verschwunden ist, und um elfenhaft unwirkliche Girlie-Wesen, die sich nach Inseln im Mittelmeer, Gewürzkräutern und Tokioter Stadtteilen nennen. Weil es um nichts Bestimmbares geht, soll uns zumute sein, als ginge es Murakami um schlechterdings alles: "Obwohl das Objekt nach Form und Beschaffenheit nichts als ein U-Boot sein konnte, sah es wie ein symbolisches Zeichen aus - oder eine unbegreifliche Metapher."
Murakami macht sich der Verwechslung schuldig, die Adorno als "Kardinalsünde des Okkultismus" gekennzeichnet hat: der "Kontamination von Geist und Dasein". Gerade daß in seinem Buch alles geheimnisvoll sein soll, ärgert den Leser, der sich verzaubern lassen möchte. Literarische Verzauberung hat in der westlichen Literaturtradition seit dem Scheitern des romantischen Romans auf das Konto einer genauen Beschreibung der Wirklichkeit zu gehen. Tatsächlich gleicht Haruki Murakamis "Mister Aufziehvogel" eher dem "Heinrich von Ofterdingen" oder den Figuren in Eichendorffs "Ahnung und Gegenwart" (welcher Titel seinem Buch auch gut gepaßt hätte): den Helden von Büchern also, die der moderne Leser schnell zuklappt, während er den "Grünen Heinrich", die "Éducation Sentimentale" oder den "Stechlin" nicht nur deswegen nicht aus der Hand legen mag, weil sie ihm die Vorderseite der Welt genau zeigen, sondern auch deswegen, weil sie ihm eine Ahnung von den Gründen und Abgründen des Unsagbaren vermitteln.
Murakami dagegen greift frisch, fromm und frühromantisch nach dem Absoluten. "Mitten im Himmel hing ein riesiger weißer Mond, der Vollmond des Spätherbstes, und übergoß den Garten mit seinem Licht", schreibt er, oder, auf einer anderen, fast beliebig aufgeschlagenen Seite: "Im Licht strömten Tränen aus mir hervor. Mir war, als würde sich jegliche Flüssigkeit meines Körpers in Tränen verwandeln und aus meinen Augen hervorströmen, als könnte mein ganzer Körper auf diese Weise zerschmelzen. Hätte er sich in der Seligkeit dieses überirdischen Lichts ereignen können, wäre selbst der Tod kein Feind mehr gewesen. Ich erlebte ein wunderbares Gefühl des Einsseins, ein überwältigendes Gefühl von Ganzheit. Ja, das war es: Der wahre Sinn des Lebens ruhte in diesen wenigen Sekunden währenden Licht, und ich spürte, daß ich da, in diesem Augenblick, hätte sterben sollen."
Das überirdische Licht scheint auf diesen Seiten so hell und so oft, als könne man es bei Bedarf mit einem Lichtschalter anknipsen. Der Sinn des Lebens kommt aus der Steckdose. Instant Karma's gonna get you. Die traditionelle japanische Kultur - meisterhaft hat Yasushi Inoue sie literarisch in die Moderne versetzt und sie mit ihr versöhnt - ist auf nichts so stolz wie auf ihr sprödes Understatement der Substanz des Heiligen gegenüber. "Hol Wasser, und hack das Holz", sagt der Zen-Meister zu dem Schüler, der die Erleuchtung gleich will. Man könnte auf den Gedanken kommen, daß die unbegreiflich zahlreichen, unbegreiflich schick und sexy angezogenen, unbegreiflich coolen, verwöhnten und konsumgeilen jungen Japaner und vor allem Japanerinnen, die an den Wochenenden die verschiedenen Zentren Tokios bevölkern, in diesem Bestseller ihr Erbauungsbuch gefunden haben. 4,2 Millionen von ihnen haben schon in den achtziger Jahren Murakamis Roman "Norwegian Wood" verschlungen; Raymond Carver und Scott Fitzgerald kennen sie aus Übersetzungen; Murakami ist der mit Abstand bestverdienende Autor im Inselreich.
Und man kann sich wirklich Abende verlieren in diesen 700 Seiten. Ein Grund dafür ist eine ökonomische Begabung Murakamis, von der er bei der Konstruktion der Gesamtanlage seiner Erzählung leider gar keinen Gebrauch gemacht hat: eine an Salinger erinnernde Fähigkeit, den Alltag jener Jeunesse dorée mit ein paar Strichen zu zeichnen: die sorgfältig verschmutzten Turnschuhe des arbeitslosen Helden ebenso wie die einzeln in Zellophan verpackten Kostüme seiner verschwundenen Ehefrau im Einbauschrank. Oder die unendlich überlegte Garderobe wohlhabender japanischer Damen zwischen Zwanzig und Dreißig.
"Sie ließ die Zigarette auf den Boden fallen, als prüfe sie die Schwerkraftverhältnisse des Tages." "So sorgsam wie einen zerbrochenen Gegenstand nahm er ein Buch in die Hand, das neben dem Computer lag, und schlug es da auf, wo er offenbar zu lesen aufgehört hatte." "Sie nahm den roten Vinylhut ab und legte ihn auf die Tasche, so daß diese völlig darunter verschwand. Es kam mir so vor, als wollte sie einen Zaubertrick vorführen: wenn sie den Hut hob, wäre die Tasche weg."
In solchen Miniaturen kann man den Tokioter Alltag wiedererkennen, die formvollendete, poetische, teure, umständliche Eleganz und Stilisierung des ganzen Lebens, die vielleicht einer der entscheidensten japanischen Beiträge zur Gegenwartskultur ist. Wer sich dafür nicht interessiert, muß sich an den manifesten Inhalt dieses okkulten Lifestyleromans halten, an die "nachholende Frühromantik" eines japanischen Erfolgsautors, der gegen die negative ästhetische Theologie Kawabatas und Inoues eine dezidiert zeitgenössische Spiritualität setzen will. Er liebe E.T.A. Hoffmann mehr als die japanische Moderne, hat Murakami Manfred Osten in einem Interview anvertraut. Gegen seine großen literarischen Zeitgenossen sei er "eigentlich im Trotz angetreten". Nur kann man, allem Trotz, allem Bemühen um Originalität ungeachtet, in Murakamis neuem Roman über die Weltgeheimnisse nicht mehr erfahren als aus den Büchern Susanna Tamaros. Das ist ein Geheimnis seines Erfolges; aber auch der Grund für das eigenartig Bemühte und Krause nicht nur in "Mister Aufziehvogel". Man kann das vermutlich als einen epigonalen Zug entziffern. Murakami ist der kommerziell erfolgreiche Epigone einer großen mystischen Tradition. Der Vergleich mit E.T.A. Hoffmann ist auf den zweiten Blick sehr treffend.
Haruki Murakami: "Mister Aufziehvogel". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Giovanni Bandini und Ditte Bandini. Dumont-Verlag, Köln 1998. 683 S., geb., 49,90 DM.
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