Der neue Band der Gesamtausgabe enthält eine Vielzahl kleinerer Texte von Georg Simmel, die bisher kaum bekannt oder nur schwer zugänglich sind. Darunter sind Miszellen, Glossen und Stellungnahmen, aber auch überraschende politische Diskussionsbeiträge, Umfrageantworten und Leserbriefe. Dazu versammelt er pseudonyme und anonyme Veröffentlichungen, die in den unterschiedlichsten Zeitschriften und Zeitungen veröffentlicht wurden, sowie die nur mit Sigle gekennzeichneten Beiträge in der Münchner Wochenschrift Jugend aus den Jahren 1897 bis 1907. Etliche der Veröffentlichungen werden somit hier erstmals unter dem Namen Simmels abgedruckt.
Die Schriften des Bandes umfassen das gesamte Spektrum von Simmels Theorie und widmen sich politischen wie psychologischen, philosophischen wie soziologischen und ästhetischen Fragen. Texte über Spiritismus finden sich hier ebenso wie »Reflexionen zur Prostitutionsfrage«, Besprechungen von Ausstellungen und Büchern und großartige Feuilletons,wie »Rosen. Eine soziale Hypothese«, »Jenseits der Schönheit« oder »Metaphysik der Faulheit«.
Die Schriften des Bandes umfassen das gesamte Spektrum von Simmels Theorie und widmen sich politischen wie psychologischen, philosophischen wie soziologischen und ästhetischen Fragen. Texte über Spiritismus finden sich hier ebenso wie »Reflexionen zur Prostitutionsfrage«, Besprechungen von Ausstellungen und Büchern und großartige Feuilletons,wie »Rosen. Eine soziale Hypothese«, »Jenseits der Schönheit« oder »Metaphysik der Faulheit«.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.02.2005Die absolute Situation
Wie Georg Simmel seine Philosophie auf den Krieg einschwor
Als Lebensphilosoph, der sich doch stets gegen einen utopischen Gedanken von Eigentlichkeit zu wehren wußte, hat sich Georg Simmel prononciert etwa von Henri Bergson abgesetzt. "Während Bergson nach einer unverstellten Wesenserkenntnis strebt, sieht Simmel die das Erkennen vermeintlich nur verstellenden Formen zugleich als unhintergehbare Bedingungen an", bemerkt Willfried Geßner in seiner kundigen Simmel-Monographie "Der Schatz im Acker" (Velbrück Verlag, 2003). Mit Simmel und Bergson stehen wir vor zwei Konzepten von Lebensphilosophie: Während Bergson das Problem der Formen dadurch lösen will, daß er sie eliminiert, sieht Simmel sie als eine dem Leben immanente "Tragik" an. Gegen Bergson betrachtet Simmel jedes Erkennen als formgebunden, nur mit dieser Einschränkung lobt er an Bergson, daß das Leben "zum Ersten und Zentralen" gemacht, "daß es in den Absolutheitspunkt des Daseins" gestellt wird. In diesem Sinne prägte Simmel nachhaltig die sozial- und kulturwissenschaftliche Diskussion - über seine Rezipienten zumal in Amerika -, erfuhr als akademischer Lehrer in Berlin unerhörten Zuspruch und erhielt doch erst 1914, im Alter von sechsundfünfzig Jahren und vier Jahre vor seinem Tod, die Berufung auf eine Professur in Straßburg.
Um so interessanter ist bei einem solch formbewußten Denker die Frage, wie sich erklären läßt, daß gerade der leidenschaftlich zergliedernde, vor blanker Wesenserkenntnis zurückschreckende Simmel im Jahre 1914 einer jener Intellektuellen ist, die ohne Wenn und Aber in die Euphorie des Kriegsausbruchs einstimmen und, wie in seinem Fall, die Kriegstrommel - wenn auch mit deutlich verlangsamtem Anschlag - noch bis 1918 rühren. Hält man sich nur einmal vor Augen, welche Kraft der Wechselwirkung für Simmel allein vom Raum ausgeht, welche Bedeutung er also schon der örtlichen Form einer Handlung zuschreibt, dann möchte man es zunächst für unmöglich halten, daß derselbe, von Kulturkonservativen als Relativist verhöhnte Simmel je einer absoluten Idee verfallen und ihr das Wort reden könnte.
Und doch liegt der Wert des Krieges für ihn gerade in dessen Charakter als absoluter Idee - nicht etwa als historischer oder auch nur geschichtsphilosophischer Notwendigkeit. "Ich liebe Deutschland und will deshalb, daß es lebe - zum Teufel mit aller ,objektiven' Rechtfertigung dieses Wollens aus der Kultur, der Ethik, der Geschichte oder Gott weiß was heraus", hatte Simmel in seinem zum Kriegsaufbruch rufenden Straßburger Vortrag "Deutschlands innere Wandlung" im November 1914 gesagt. In dieser Rede sind alle rudimentären Motive des Themas versammelt, die Simmel dann bei anderen Gelegenheiten wiederholt und fortspinnt.
Mit dem jetzt vorliegende Band 17 der im Suhrkamp-Verlag überaus sorgfältig editierten Werkausgabe rundet sich das Bild von Simmels metaphysischem Verständnis des Krieges. Ihn fasziniert der Krieg als eine "absolute Situation", wie er bereits in einem Artikel für die "Frankfurter Zeitung" vom 16. Oktober 1914 schreibt. In diesem Artikel, überschrieben mit "Aufklärung des Auslands", repliziert Simmel auf Friedrich Gundolfs Beitrag "Tat und Wort im Krieg" am selben Ort. Gundolf hatte an selber Stelle davor gewarnt, sich für den Krieg vor einem ohnehin vorurteilsbehafteten Ausland publizistisch rechtfertigen zu wollen. Simmel bezieht sich auf diese Warnung mit der folgenden, weit ausholenden Passage: "Mag Gundolf recht haben, daß dabei unser Erfolg zweifelhaft ist und daß schließlich jeder doch nur glaubt, was seine Neigungen ihm zu glauben raten. Nach dem Erfolg aber können wir nicht fragen, nicht nach dem prozentualen Verhältnis zwischen Aufwand und Ergebnis. Das gehört doch zur Größe dieser Zeit, daß keiner sich mehr überlegt, was es kostet, wieviel wir einsetzen für das, was uns nun einmal notwendig scheint. Zu einem Augenblick, in dem hundert kostbare Existenzen sich aufs Spiel setzen, um einen kleinen Hügel in den Argonnen vielleicht einzunehmen, der morgen vielleicht wieder geräumt wird, werden wir wohl nicht fragen, ob wir hundert Flugblätter, Erklärungen, Briefe vielleicht umsonst schreiben. Denn endlich sind wir einmal in einer absoluten Situation, endlich fragen wir nicht mehr nach dem Preise und der Relativität seiner Abwägungen. Heut setzt ein jeder alles ein für die erfüllende und zu erfüllende Idee, unabhängig von dem Maß des Erfolges, das er gerade von seinem Tun erwarten kann; dies eben gibt uns, unter dem fast zermalmenden Druck von Gefahr, Opfer und Schicksal das Gefühl von Freiheit, in dem wir jetzt alle atmen."
Hier läßt Simmel ebenjene Hüllen fallen, die er in der Auseinandersetzung mit Bergson noch angemahnt hatte. Das Formbewußtsein verflüchtigt sich in die "absolute Situation", in der es keine hemmende Abwägung der Gründe mehr gibt, kein störendes Preisbewußtsein, nur noch das große Durchatmen zum Absoluten. Es ist, als ob Simmel den Krieg als den ersehnten Entlastungsvorgang vom Joch der Formen erlebt, das er selbst bei seiner bisherigen Arbeit geduldig getragen hat und eben noch mit Vehemenz einem Henri Bergson aufzubürden unternahm.
Derselbe Bergson hatte in einer berühmt gewordenen Akademie-Rede am 8. August 1914 den " Zynismus" gegeißelt, mit dem Deutschland den Krieg begonnen habe und der ein Rückfall in die "Barbarei" bedeute. Dagegen nun veröffentlicht Simmel am 1. November 1914 eine flammende Entgegnung in der "Internationalen Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik". Simmel pariert den Zynismus-Vorwurf mit einer Bemerkung, die ironischerweise das Verständnis von Bergsons Lebensphilosophie unterstützt. Wie ein Mann "von solch sublimer Geistigkeit" wie Bergson nur von Zynismus sprechen könne in einer Zeit, da die Deutschen endlich einmal alles auf eine Karte setzen und den "Gedanken des Ganzen" denken würden. "Wären wir Zyniker - wir hätten ihn (den Krieg) vielleicht um den Preis unserer Würde und unserer Zukunft vermieden; denn der Zyniker sucht vor allem Ruhe, Sicherheit vor äußeren Gefahren, Freiheit von starken, grundaufwühlenden Bewegtheiten." Damit gibt Simmel den Zynismus-Vorwurf an Bergson zurück, an jenen Lebensphilosophen also, dem er bislang just grundaufwühlende Bewegtheiten als schlechten Denkstil vorgehalten hatte.
Keine Frage, Simmel drohte mit seinem Kriegsabsolutismus das Zentrum seiner eigenen Philosophie zu unterminieren. Diesem Eindruck sucht er mit einem Kunstgriff zu entgehen. In dem Beitrag "Vollendung und Aufgabe", den er kurz vor seiner Straßburger Akademie-Rede für das "Zeit-Echo" verfaßte, greift Simmel auf Fichtes Unterscheidung von "empirischem Ich" und "reinem Ich" zurück, wobei die Sittlichkeit darin bestehe, das empirische Ich in unendliche Annäherung ans reine, sprich: ans bessere, metaphysische Ich zu bringen. Diesen Angleichungsvorgang hält er im sterbenden Soldaten für idealtypisch vollzogen. "Im ,reinen Ich'", so Simmel im "Zeit-Echo", "vollzieht sich das Wunder, daß der tiefste Kern der Persönlichkeit Eines ist mit einem Allgemeinen, einer lebendigen Idee, einem Gemeinsamen vereinheitlichter Millionen - und dieses hat das ,empirische Ich' so übergriffen und in sich hineingenommen, daß dessen seelische Vergleichgültigung sich in die selbstverständlich hingenommene Vernichtung fortsetzt."
Im Opfertod für die Millionen-Idee sieht Simmel den Annäherungsprozess von empirischem und reinem Ich vollendet. Mit diesem philosophischen Zynismus hat er zugleich sichergestellt, daß die Apotheose der absoluten Kriegssituation seine Lebensphilosophie nicht auf Bergson hin sprengt, sondern "formbewußt" in ihr untergebracht bleibt. Doch um welchen Preis für das Leben? "Für den Krieger", so geht der Artikel im "Zeit-Echo" weiter, "für den Krieger, der den Opfertod gestorben ist, ist das Unendliche eingegangen in die Form: Deutschland; er hat wirklich ,vollendet'. Wir aber müssen, daß wir leben dürfen, mit der Unabschließbarkeit unserer Aufgabe bezahlen, unser relatives Ich in das Absolute aufgehn zu lassen."
Das also ist der Fluch des Lebens: nicht gestorben zu sein, weiter die Tragik der Form erdulden, abwägen und nach dem Preis der Dinge fragen zu müssen. Simmels nun vollständig editierte Stellungnahmen zum Krieg zeigen, auf welchem Todesacker seine Lebensphilosophie gedeiht. Man liest sie mit anderen, mit flackernden Augen.
CHRISTIAN GEYER
Georg Simmel: "Miszellen, Glossen, Stellungnahmen, Umfrageantworten, Leserbriefe, Diskussionsbeiträge 1889-1918, Anonyme und pseudonyme Veröffentlichungen 1888-1920". Bearbeitet und herausgegeben von Klaus Christian Köhnke unter Mitarbeit von Cornelia Jaenichen und Erwin Schullerus. Band 17 der Gesamtausgabe. Herausgegeben von Otthein Rammstedt. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 626 S., br., 19,00 [Euro], geb., 35,80 [Euro].
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Wie Georg Simmel seine Philosophie auf den Krieg einschwor
Als Lebensphilosoph, der sich doch stets gegen einen utopischen Gedanken von Eigentlichkeit zu wehren wußte, hat sich Georg Simmel prononciert etwa von Henri Bergson abgesetzt. "Während Bergson nach einer unverstellten Wesenserkenntnis strebt, sieht Simmel die das Erkennen vermeintlich nur verstellenden Formen zugleich als unhintergehbare Bedingungen an", bemerkt Willfried Geßner in seiner kundigen Simmel-Monographie "Der Schatz im Acker" (Velbrück Verlag, 2003). Mit Simmel und Bergson stehen wir vor zwei Konzepten von Lebensphilosophie: Während Bergson das Problem der Formen dadurch lösen will, daß er sie eliminiert, sieht Simmel sie als eine dem Leben immanente "Tragik" an. Gegen Bergson betrachtet Simmel jedes Erkennen als formgebunden, nur mit dieser Einschränkung lobt er an Bergson, daß das Leben "zum Ersten und Zentralen" gemacht, "daß es in den Absolutheitspunkt des Daseins" gestellt wird. In diesem Sinne prägte Simmel nachhaltig die sozial- und kulturwissenschaftliche Diskussion - über seine Rezipienten zumal in Amerika -, erfuhr als akademischer Lehrer in Berlin unerhörten Zuspruch und erhielt doch erst 1914, im Alter von sechsundfünfzig Jahren und vier Jahre vor seinem Tod, die Berufung auf eine Professur in Straßburg.
Um so interessanter ist bei einem solch formbewußten Denker die Frage, wie sich erklären läßt, daß gerade der leidenschaftlich zergliedernde, vor blanker Wesenserkenntnis zurückschreckende Simmel im Jahre 1914 einer jener Intellektuellen ist, die ohne Wenn und Aber in die Euphorie des Kriegsausbruchs einstimmen und, wie in seinem Fall, die Kriegstrommel - wenn auch mit deutlich verlangsamtem Anschlag - noch bis 1918 rühren. Hält man sich nur einmal vor Augen, welche Kraft der Wechselwirkung für Simmel allein vom Raum ausgeht, welche Bedeutung er also schon der örtlichen Form einer Handlung zuschreibt, dann möchte man es zunächst für unmöglich halten, daß derselbe, von Kulturkonservativen als Relativist verhöhnte Simmel je einer absoluten Idee verfallen und ihr das Wort reden könnte.
Und doch liegt der Wert des Krieges für ihn gerade in dessen Charakter als absoluter Idee - nicht etwa als historischer oder auch nur geschichtsphilosophischer Notwendigkeit. "Ich liebe Deutschland und will deshalb, daß es lebe - zum Teufel mit aller ,objektiven' Rechtfertigung dieses Wollens aus der Kultur, der Ethik, der Geschichte oder Gott weiß was heraus", hatte Simmel in seinem zum Kriegsaufbruch rufenden Straßburger Vortrag "Deutschlands innere Wandlung" im November 1914 gesagt. In dieser Rede sind alle rudimentären Motive des Themas versammelt, die Simmel dann bei anderen Gelegenheiten wiederholt und fortspinnt.
Mit dem jetzt vorliegende Band 17 der im Suhrkamp-Verlag überaus sorgfältig editierten Werkausgabe rundet sich das Bild von Simmels metaphysischem Verständnis des Krieges. Ihn fasziniert der Krieg als eine "absolute Situation", wie er bereits in einem Artikel für die "Frankfurter Zeitung" vom 16. Oktober 1914 schreibt. In diesem Artikel, überschrieben mit "Aufklärung des Auslands", repliziert Simmel auf Friedrich Gundolfs Beitrag "Tat und Wort im Krieg" am selben Ort. Gundolf hatte an selber Stelle davor gewarnt, sich für den Krieg vor einem ohnehin vorurteilsbehafteten Ausland publizistisch rechtfertigen zu wollen. Simmel bezieht sich auf diese Warnung mit der folgenden, weit ausholenden Passage: "Mag Gundolf recht haben, daß dabei unser Erfolg zweifelhaft ist und daß schließlich jeder doch nur glaubt, was seine Neigungen ihm zu glauben raten. Nach dem Erfolg aber können wir nicht fragen, nicht nach dem prozentualen Verhältnis zwischen Aufwand und Ergebnis. Das gehört doch zur Größe dieser Zeit, daß keiner sich mehr überlegt, was es kostet, wieviel wir einsetzen für das, was uns nun einmal notwendig scheint. Zu einem Augenblick, in dem hundert kostbare Existenzen sich aufs Spiel setzen, um einen kleinen Hügel in den Argonnen vielleicht einzunehmen, der morgen vielleicht wieder geräumt wird, werden wir wohl nicht fragen, ob wir hundert Flugblätter, Erklärungen, Briefe vielleicht umsonst schreiben. Denn endlich sind wir einmal in einer absoluten Situation, endlich fragen wir nicht mehr nach dem Preise und der Relativität seiner Abwägungen. Heut setzt ein jeder alles ein für die erfüllende und zu erfüllende Idee, unabhängig von dem Maß des Erfolges, das er gerade von seinem Tun erwarten kann; dies eben gibt uns, unter dem fast zermalmenden Druck von Gefahr, Opfer und Schicksal das Gefühl von Freiheit, in dem wir jetzt alle atmen."
Hier läßt Simmel ebenjene Hüllen fallen, die er in der Auseinandersetzung mit Bergson noch angemahnt hatte. Das Formbewußtsein verflüchtigt sich in die "absolute Situation", in der es keine hemmende Abwägung der Gründe mehr gibt, kein störendes Preisbewußtsein, nur noch das große Durchatmen zum Absoluten. Es ist, als ob Simmel den Krieg als den ersehnten Entlastungsvorgang vom Joch der Formen erlebt, das er selbst bei seiner bisherigen Arbeit geduldig getragen hat und eben noch mit Vehemenz einem Henri Bergson aufzubürden unternahm.
Derselbe Bergson hatte in einer berühmt gewordenen Akademie-Rede am 8. August 1914 den " Zynismus" gegeißelt, mit dem Deutschland den Krieg begonnen habe und der ein Rückfall in die "Barbarei" bedeute. Dagegen nun veröffentlicht Simmel am 1. November 1914 eine flammende Entgegnung in der "Internationalen Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik". Simmel pariert den Zynismus-Vorwurf mit einer Bemerkung, die ironischerweise das Verständnis von Bergsons Lebensphilosophie unterstützt. Wie ein Mann "von solch sublimer Geistigkeit" wie Bergson nur von Zynismus sprechen könne in einer Zeit, da die Deutschen endlich einmal alles auf eine Karte setzen und den "Gedanken des Ganzen" denken würden. "Wären wir Zyniker - wir hätten ihn (den Krieg) vielleicht um den Preis unserer Würde und unserer Zukunft vermieden; denn der Zyniker sucht vor allem Ruhe, Sicherheit vor äußeren Gefahren, Freiheit von starken, grundaufwühlenden Bewegtheiten." Damit gibt Simmel den Zynismus-Vorwurf an Bergson zurück, an jenen Lebensphilosophen also, dem er bislang just grundaufwühlende Bewegtheiten als schlechten Denkstil vorgehalten hatte.
Keine Frage, Simmel drohte mit seinem Kriegsabsolutismus das Zentrum seiner eigenen Philosophie zu unterminieren. Diesem Eindruck sucht er mit einem Kunstgriff zu entgehen. In dem Beitrag "Vollendung und Aufgabe", den er kurz vor seiner Straßburger Akademie-Rede für das "Zeit-Echo" verfaßte, greift Simmel auf Fichtes Unterscheidung von "empirischem Ich" und "reinem Ich" zurück, wobei die Sittlichkeit darin bestehe, das empirische Ich in unendliche Annäherung ans reine, sprich: ans bessere, metaphysische Ich zu bringen. Diesen Angleichungsvorgang hält er im sterbenden Soldaten für idealtypisch vollzogen. "Im ,reinen Ich'", so Simmel im "Zeit-Echo", "vollzieht sich das Wunder, daß der tiefste Kern der Persönlichkeit Eines ist mit einem Allgemeinen, einer lebendigen Idee, einem Gemeinsamen vereinheitlichter Millionen - und dieses hat das ,empirische Ich' so übergriffen und in sich hineingenommen, daß dessen seelische Vergleichgültigung sich in die selbstverständlich hingenommene Vernichtung fortsetzt."
Im Opfertod für die Millionen-Idee sieht Simmel den Annäherungsprozess von empirischem und reinem Ich vollendet. Mit diesem philosophischen Zynismus hat er zugleich sichergestellt, daß die Apotheose der absoluten Kriegssituation seine Lebensphilosophie nicht auf Bergson hin sprengt, sondern "formbewußt" in ihr untergebracht bleibt. Doch um welchen Preis für das Leben? "Für den Krieger", so geht der Artikel im "Zeit-Echo" weiter, "für den Krieger, der den Opfertod gestorben ist, ist das Unendliche eingegangen in die Form: Deutschland; er hat wirklich ,vollendet'. Wir aber müssen, daß wir leben dürfen, mit der Unabschließbarkeit unserer Aufgabe bezahlen, unser relatives Ich in das Absolute aufgehn zu lassen."
Das also ist der Fluch des Lebens: nicht gestorben zu sein, weiter die Tragik der Form erdulden, abwägen und nach dem Preis der Dinge fragen zu müssen. Simmels nun vollständig editierte Stellungnahmen zum Krieg zeigen, auf welchem Todesacker seine Lebensphilosophie gedeiht. Man liest sie mit anderen, mit flackernden Augen.
CHRISTIAN GEYER
Georg Simmel: "Miszellen, Glossen, Stellungnahmen, Umfrageantworten, Leserbriefe, Diskussionsbeiträge 1889-1918, Anonyme und pseudonyme Veröffentlichungen 1888-1920". Bearbeitet und herausgegeben von Klaus Christian Köhnke unter Mitarbeit von Cornelia Jaenichen und Erwin Schullerus. Band 17 der Gesamtausgabe. Herausgegeben von Otthein Rammstedt. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 626 S., br., 19,00 [Euro], geb., 35,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Christian Geyer ist geschockt. Georg Simmel, der formbewusste Philosoph, als Kriegstreiber? Der das große Ja zum Massensterben spricht? Noch bis 1918 im national-patriotischen Rausch zu den Fahnen rufend? So stellt er sich dar im 17. Band seiner Gesammelten Schriften. Wie kann das sein? Geyer deutet an, dass Simmel im Kriegsfuror die Chance sah, in ein Jenseits der Formen zu gelangen. Im Ersten Weltkrieg sah er eine "absolute Situation", das Ende der Verpflichtung zur Form. Der von den Rechten als "Relativist" Verhöhnte schrieb sich in absolutistische Emphase: "Denn endlich sind wir einmal in einer absoluten Situation, endlich fragen wir nicht mehr nach dem Preise und der Relativität seiner Abwägungen." Um sein Engagement für den Krieg auch philosophisch einleuchtend zu machen, griff der Lebensphilosoph auf Fichtes Unterscheidung von "empirischem Ich" und "reinem Ich" zurück. Eine Angleichung dieser beiden Entitäten gelingt, resümiert der Rezensent gallig, "im Opfertod für die Millionen-Idee". Ein anderer Simmel, einer, den man, so Geyer, "mit flackernden Augen" liest.
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»Simmels nun vollständig editierten Stellungnahmen zum Krieg zeigen, auf welchem Todesacker seine Lebensphilosophie gedeiht. Man liest sie mit anderen, mit flackernden Augen.« Christian Geyer Frankfurter Allgemeine Zeitung 20050214