Produktdetails
  • Verlag: Murmann
  • ISBN-13: 9783867740951
  • ISBN-10: 386774095X
  • Artikelnr.: 27948134
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.06.2010

Bescheidwissen
im Alltagsdickicht
Armin Nassehi erzählt
„Soziologische Storys“
Mit einem Soziologen und dem Alltag ist es ein bisschen so wie mit dem Hasen und dem Igel. Was auch immer einem Individuum passieren mag, der Soziologe ist immer schon da. Sprich: für ihn ist oder war diese oder jene Situation mindestens „erwartbar“.
Ein Beispiel dieses professionellen Kalküls, das sich mitunter zum penetranten Bescheidwissen auswächst, sind Armin Nassehis „Soziologische Storys“. „Mit dem Taxi durch die Gesellschaft“ heißen die Geschichten, die der Münchner Professor, Lehrstuhlinhaber an der Ludwig-Maximilians-Universität, so titelgebend lebensnah aufgeschrieben hat. Manchmal sitzt Nassehi auch in der U- oder S-Bahn, als Feldforscher „im Alltagsdickicht deutscher Wirklichkeiten“. Dort lauscht er den Normalmenschen bei ihren (natürlich erwartbaren) Problemen im Umgang mit dem Dasein. Um diese O-Töne dann vor dem eigenen wissenschaftlich fundierten Hintergrund selbstverständlich nicht nur äußerst klug zu reflektieren, sondern auch – mit allerhand geistesgegenwärtigen Einsprengseln aus seinem ungeheuren Bildungskanon – zu gesellschaftlichen Parabeln zu winden.
So analysiert Nassehi die Bedeutung von Fremdheit im Großraumabteil eines ICE (Warum Distanz für unser Zusammenleben eine entscheidende Ressource ist); eine Vernissage steht als Beispiel für die ausdifferenzierte Öffentlichkeit. Ob es sich nun um einen Exkurs über die eher profane Feststellung handelt, dass die Welt für uns so ist, wie wir sie wahrnehmen und sich damit (zumindest für uns und Schopenhauer) aus einer „Perspektivenvielfalt“ selbst schafft; oder darum, wie frei der menschliche Wille wirklich ist: Nassehi scheut von der Elitenfrage bis zur Krisentypologie keine großen Themen seines Fachs. Seine soziologischen Fallstudien erzählt er in einem oft unsäglich wirkenden Parlando. Sein Tonfall ist so beiläufig-wichtigtuerisch, so gewollt nicht-dozierend, dabei gleichsam so alleswisserisch, dass man ernsthaft versucht ist, sich die Gesellschaft aus Nassehis Taxi-Perspektive zu schenken. Denn ob dieser die Nacht nach einem interessanten Abendessen nun als „lau und das rege Treiben auf den Straßen sehr einladend und angenehm“ empfindet, ob er sich, gemeinsam mit einem Freund, „den Piemonteser Tropfen jedenfalls durchaus“ hat „schmecken lassen“ oder ob seine „S-Bahn von zu Hause Verspätung“ hatte, ist einem eigentlich relativ Wurst. Genauso irrelevant ist es, ob ein Tagungsgebäude „den Geist postmoderner Gediegenheit atmet“ – schon die Vorstellung, was genau er damit meint, fällt schwer. Um es, sinngemäß, in seinen Worten zu sagen: Der Professor scheint „verstrickt in seinen Habitus“ und „pflegt“ dementsprechend „recht ostentativ“ dies oder jenes zu tun. Vielleicht passiert das ja sogar „kontraintuitiv“. Überaus geschwätzig jedenfalls wird noch dem kleinsten Umstand Bedeutung beigemessen.
Neben der wiederkehrenden Botschaft, „dass das Sehen die Welt erzeugt und nicht die Welt das Sehen“ sind es vor allem die elegischen Beschreibungen der eigenen Vorlieben, gespickt mit Soziologen-Deutsch, die die Lektüre schwer bis unerträglich machen. Jedes der acht Kapitel bestärkt den unschönen Verdacht, dass Nassehi die populärwissenschaftliche Attitüde als Alibi benutzt, um ganz uneingeschränkt aus dem Akademiker-Nähkästchen zu plauschen. Die Welt als Monolog, sozusagen – da fällt dann auch das „Multiperspektivische“, ein Lieblingsbegriff, ziemlich unter den Tisch. Und der Mehrwert für den Leser eher karg aus: Menschliche Entscheidungen resultieren aus gewissen Algorithmen – das Dasein der verschiedenen Akteure als solches ist, genau, ziemlich erwartbar.
Selbstverständlich stecken hinter all dem Geschwätz auch interessante Thesen, die es wert sind, erklärt und diskutiert zu werden. Nur kommt das leider bei Nassehis stetem lebensweltlichen Geplänkel viel zu kurz. Zum Beispiel seine „Entscheidungsgesellschaft“. Er hat recht, wenn er beschreibt, dass in Zeiten des überbordenden Individualismus selbst widrigste Umstände als Ergebnisse eigener Entscheidungen präsentiert werden. Ob es allerdings tatsächlich schade ist, das persönliche Unglück nicht mehr auf eine Zwangsheirat schieben zu können, bleibt dahingestellt. Auch der Ein-Satz-Gedanke, dass es kollektiven Protest nur noch im Bürgertum zu geben scheint, der sich zum Beispiel in der Flucht an Privatschulen äußert, könnte vertieft werden. Fest steht, dass sich Nassehi für dieses quecksilbrige Gebilde, das sich Gesellschaft nennt, ehrlich begeistert. Dieser „pulsierende Zusammenhang unterschiedlichster unvermittelter Gegenwarten“ ist sein liebstes Forschungsobjekt. Es begeistert ihn so sehr, dass er am Ende, bei seinem letzten Kapitel, das er das „Buch im Buch“ nennt, Hase und Igel in Personalunion gibt. Und vielleicht noch ein bisschen mehr: Er werde von den eigenen Worten als Autor hervorgebracht, „wie übrigens auch Gott als Geschöpf der von ihm geoffenbarten Schriften erscheint“. Sei’s drum: Soziologe mit Leib und Seele – kleine bis mittelgroße déformation professionelle inklusive. JULIA AMALIA HEYER
ARMIN NASSEHI: Mit dem Taxi durch die Gesellschaft. Soziologische Storys. Murmann Verlag, Hamburg 2010. 224 Seiten, 19, 90 Euro.
Ist es wirklich Protest, wenn
das Bürgertum seine Kinder
in Privatschulen schickt?
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Den Autor nennt die Rezensentin Julia Amalia Heyer einen Soziologen mit Leib und Seele. Daran dass Armin Nassehi an einer ganz schönen deformation professionelle leidet, lässt sie aber auch keinen Zweifel. Man muss es so hart wiedergeben: Penetrant, unsäglich parlierend, beiläufig-wichtigtuerisch, gewollt nicht-dozierend, alleswisserisch, aber vor allem auch "relativ Wurst" findet Heyer, was sie hier liest. Wenn der Professor U-Bahn fährt (die O-Töne!) oder ein Glas Wein trinkt, immer sieht sich Heyer konfrontiert mit Bildungskanon und Professorenhabitus, mit Bedeutung, Soziologen-Sprech - und Langeweile. Mehrwert für den Leser gleich null, ärgert sich die Rezensentin. Obwohl: Interessante Thesen, etwa zur "Entscheidungsgesellschaft", so räumt Heyer ein, hat der Autor schon dabei, wenn er ins Taxi steigt. Schwatzend fährt er nur leider in die falsche Richtung.

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