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Produktdetails
  • Verlag: Agimos
  • Seitenzahl: 150
  • Deutsch
  • Abmessung: 197mm x 142mm
  • Gewicht: 263g
  • ISBN-13: 9783931903251
  • ISBN-10: 3931903257
  • Artikelnr.: 09605853
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.02.2002

Die Afköhlung folgt auf dem Fuße

Eine Befragung, vor rund fünfzehn Jahren durchgeführt, ergab: Gut fünf Millionen Menschen in der alten Bundesrepublik sprachen Plattdeutsch. Das sind dann heute vielleicht sieben Millionen Plattsprecher. Wer möchte, kann diese Sprache der Mütter und Väter sogar ordnungsgemäß studieren. Als Studienorte bieten sich die Universitäten in Münster, Göttingen, Hamburg, Bremen, Kiel, Rostock und Greifswald an. Um den Lehrstuhl für Niederdeutsche Philologie scharen sich im Schnitt zwanzig Studenten. Das macht einhundertvierzig junge Menschen, die auf dem Weg ins Berufsleben als Nebenfach Platt wählen. Dabei sind längst nicht alle hochdeutschen Klassiker ins Platt übersetzt worden.

Ein bedrückendes Desiderat in jeder plattdeutschen Bibliothek sind bislang die Gedichte von Erich Fried gewesen. Denn gerade seine Gedichte sind - und gerade das mag der Plattdeutschsprecher - leicht verständlich sowie in ihrem Grundgestus schwesterlich und brüderlich gesinnt. Nicht jedes hochdeutsche Wort, das dem Dichter Fried nur so aufs Papier flutschte, hat sein direktes Pendant im Platt gefunden. Die heikle, aber unaufhaltsame "Entmystifizierung des Sex" läßt sich nur mit den Plattworten wiedergeben: "Mit den Holthamer op dat sööte Geheemnis" (so auch der Titel eines Buches mit Gedichten Erich Frieds in plattdüütsch und deutsch, herausgegeben und übertragen von Marlies Jensen, amigos Verlag, Kiel 2001, 146 Seiten, 15,29 Euro).

Sehen wir uns die zweite Strophe des gleichlautenden Gedichtes einmal genauer an. Der hochdeutsche Fried: "Nun ja / ich kann natürlich / auch die Zähne zusammenbeißen / und Bumsen sagen / oder vielleicht sogar / Ficken sagen / wie du / doch du weißt gar nicht / wie mich das / abregt". Auf Plattdeutsch: "Na ja / kloor ik kann / uk de Tähn tosamenbieten / und disset elste nüe Woort seggen / oder amenn sogor / dat dore gräsige oole / da du / man du weest gor nich / wat mi / dat / afköhlt". Hätte die Übersetzerin nicht durch Einplatten von "bumsen" und "ficken" das Plattdeutsche auf das hochdeutsche Niveau hieven sollen? Nein, gerade nicht. Frieds Utopie der Liebe - wo hätte sie ein Zuhause, wenn nicht im platten Norden, der nicht jeden Wortunfug mitmacht? Umgekehrt: Fried selbst kennt im Hochdeutschen keine Grenzen und erfindet das Wort "abregt" - lange nicht so gut wie "afköhlt". Völlig anders nun die solide, aber überraschende Solidarität zwischen dem Dialekt und der Hochsprache bei dem Wort "Genossen". Im Gedicht "Guter Vorsatz" heißt es beim Hochdeutsch-Fried: "Nein ich muß auch / meine Genossen fragen / diese und jene / die miteinander gar nicht sprechen". Im Platt: "Nee ik mutt uk / mien Genossen fraagen / de een' und aanern / de gor nich mehr mit'anner snacken".

Wer glaubte, hinterm Berg - oder genauer: hinterm Deich - würden nur einfache Leute Platt sprechen, sieht sich hier eines Besseren belehrt. Genossen gab es offenbar überall; sie gingen friedlich, und ohne daß ihnen ein langes Haar gekrümmt wurde, in den Plattsprachschatz ein. Was beim Bumsen nicht drin war - bei den Genossen war es möglich. Schwierig ist nur die Vorstellung, daß die Genossen über die Theorie und Praxis des Marxismus-Leninismus nächtelang zusammen "snacken". Beruhigend dagegen wirkt die Erkenntnis, daß im niederdeutschen Raum die Botschafter einer besseren Welt nicht allein auf weiter Flur sind: Frieheit, de ik meen ("Freiheit, die ich meine") oder De bare Frieheit ("Wirkliche Freiheit") heißt es da. Man versteht: Noch keen Afrüsten ("Noch keine Abrüstung").

Manches wird durch die neue Übersetzung deutlicher. Was heißt "Herrschaftsfreiheit"? Im Platt regelt das ein Herr Övermann beziehungsweise eben: keen Övermann. Minderheiten heißen schlicht lütte Klüngel (wie klingt denn das: ein Lütte-Klüngel-Forschungsprogramm am Fachbereich für Soziologie). Oder nehmen wir die Revolution im Gedicht "Ähnlichkeiten". Beim Hochdeutsch-Fried stellt sich gerade keine Ähnlichkeit durch Lautmalerei ein: "Die Revolution / sagt noch immer". Um wieviel weiter ist da das Platt: "De Revolutschoon / seggt noch immer". Fazit: Es hat sich gelohnt. Für beide, die Genossen und das Volk. Der platte Erich überwindet den letzten Deich der Zeit.

EBERHARD RATHGEB

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