Zwei Brüder, ein Dorf in Ostsachsen und eine Wut, die immer größer wird
Philipp und Tobias wachsen in der Provinz Sachsens auf. Im Sommer flirrt hier die Luft über den Betonplatten, im Winter bricht der Frost die Straßen auf. Der Hausbau der Eltern scheint der Aufbruch in ein neues Leben zu sein. Doch hinter den Bäumen liegen vergessen die industriellen Hinterlassenschaften der DDR, schimmert die Oberfläche der Tagebauseen, hinter der Gleichförmigkeit des Alltags schwelt die Angst vor dem Verlust der Heimat. Die Perspektivlosigkeit wird für Philipp und Tobias immer bedrohlicher. Als es zu Aufmärschen in Dresden kommt und auch ihr Heimatort Flüchtlinge aufnehmen soll, eskaliert die Situation. Während sich der eine Bruder in sich selbst zurückzieht, sucht der andere ein Ventil für seine Wut. Und findet es.
Lukas Rietzschels Roman ist eine Chronik des Zusammenbruchs. Eine hochaktuelle literarischeAuseinandersetzung mit unserem zerrissenen Land.
Philipp und Tobias wachsen in der Provinz Sachsens auf. Im Sommer flirrt hier die Luft über den Betonplatten, im Winter bricht der Frost die Straßen auf. Der Hausbau der Eltern scheint der Aufbruch in ein neues Leben zu sein. Doch hinter den Bäumen liegen vergessen die industriellen Hinterlassenschaften der DDR, schimmert die Oberfläche der Tagebauseen, hinter der Gleichförmigkeit des Alltags schwelt die Angst vor dem Verlust der Heimat. Die Perspektivlosigkeit wird für Philipp und Tobias immer bedrohlicher. Als es zu Aufmärschen in Dresden kommt und auch ihr Heimatort Flüchtlinge aufnehmen soll, eskaliert die Situation. Während sich der eine Bruder in sich selbst zurückzieht, sucht der andere ein Ventil für seine Wut. Und findet es.
Lukas Rietzschels Roman ist eine Chronik des Zusammenbruchs. Eine hochaktuelle literarischeAuseinandersetzung mit unserem zerrissenen Land.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Thomas Thiel sieht in Lukas Rietzschels Debüt das Literarische die Aktualität überflügeln. Als Kommentar zu Chemnitz möchte er Rietzschels Spurensuche in der sächsischen Provinz nach den Wurzeln von Ohnmacht und Zorn nicht verstanden wissen, schon weil der Autor von Chemnitz nichts wissen konnte, als er seine zwischen 2000 und 2015 spielende Geschichte schrieb. Der Entwicklung zweier Brüder folgend zu Wutbürgertum und Fremdenhass, bietet das Buch Thiel die souveräne, sprachlich dichte Beschreibung von Kippmomenten, ohne allzu plakativ zu werden.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.11.2018Gebt uns unseren Zorn zurück
Sprachlos im Osten: Lukas Rietzschels glänzender Debütroman "Mit der Faust in die Welt schlagen"
Wer mit der Faust in die Welt schlägt, trifft sich selbst. Die Welt ist ja nur ein Wort und deshalb ein unsichtbarer, übermächtiger Gegner. Mit was für einer Welt man es gerade zu tun hat, diese Frage stellt sich besonders in den östlichen Bundesländern. Im Bordbistro der Deutschen Bahn, zwischen Eisenach und Erfurt, ist man sich schnell einig: Die Welt wird von einer postenschachernden Politik gemacht und einem egomanen Kosmopolitismus, der sein Weltwissen aus Displays bezieht und einem sauerstoffarmen Individualismus einen fröhlich-bunten Farbanstrich gibt. Man trauert der Vergangenheit nach, sieht machtlos zu, wie alte Fabriken gesprengt und neue Discounter hochgezogen werden. Hat mit der Unterschrift unter den Einheitsvertrag vorschnell eingewilligt, dass die Vergangenheit, in der man gelebt hat, falsch gewesen sein soll. So zu erleben im ICE von Frankfurt nach Berlin an diesem Dienstag.
Sicher: Man war nicht unbeteiligt. Der Videorekorder war willkommen. Dann kam das Internet. Die eigene Befindlichkeit stand plötzlich nackt in der Welt und wurde von der Wut der anderen angestachelt. Die Psychiatrie hat dafür den Terminus posttraumatische Verbitterungsstörung geprägt, die besonders auf dem Boden der östlichen Bundesländer in der Wendezeit gewachsen sei. Wer über die Wende-Wirren nicht schnell mit sich ins Reine kam, dem ist nach diesem Verständnis medizinisch zu helfen.
Der Flüchtling dringt als Ikone in diese Welt, die ihren Bewohnern fremd geworden ist. Von außen betrachtet, ist es um sie nicht schlecht bestellt. Zwischen die sanierten Fassaden der Bürgerhäuser schieben sich Fachmärkte für Kommunikationstechnik, mit denenr man sich von der Umwelt abschotten kann, wenn man sie als störend empfindet. So dringt ein Übermaß an Fiktion ins Bewusstsein, schafft gesteigerte, ortlose Erwartungen und Gleichgültigkeit für eine Umgebung, in der junge Menschen gen Westen ziehen und der Busfahrplan auf den Dörfern übersichtlich wird.
Man kann diese Entwicklung an der verbalen Außenseite erforschen, wie der Sonderforschungsbereich Invektivität an der Universität Dresden, oder aus Milieus und Gesten herauslesen, wie es Lukas Rietzschel in seinem souveränen Debütroman tut. Zeitlich ist das Buch eine Punktlandung und wurde entsprechend als literarischer Kommentar zu Chemnitz gehandelt. Das konnte Lukas Rietzschel nicht wissen, als er zu schreiben begann. Er folgt seinen Figuren über fünfzehn Jahre, von 2000 bis 2015.
Zwei Brüder, Philipp und Tobias. Sie stehen am Rand einer Grube, aus der das neue Familienhaus wachsen soll. Die Erde ist matschig. Die Eltern stehen fröstelnd herum. Spannungslose Körper, ungelenke Gesten. Ständig lehnt man sich irgendwo an, selten aneinander. Nachbarn werden skeptisch beäugt. Freunde gehen verloren. Wie der unglückliche Uwe Deibritz, den seine Frau erst verleumdet und dann Richtung Westen verlässt. Er endet in einem Pkw auf dem Grund eines Sees. Der Mund des Vaters, der ihn im Stich gelassen hat, "zittert, der Kiefer bewegt sich, aber er sagt nichts". Die Welt der Eltern steht also auf rutschigem Boden, ist starr und sprachlos.
Das Schweigen überträgt sich als Tabu in die Kindheit der beiden Jungen. Der Vulkan, den Philipp auf das Garagentor seiner Schule malt, wird auf Anweisung des Rektors überpinselt, wandert in die Phantasie und wird größer: "In seinem Kopf ging sie (die Lehrerin) mit ihren langen Fingernägeln an Gartenzäunen entlang und knipste die Blüten von den Blumen." Mit einer sinnlichen, feinporigen Sprache zeichnet Rietzschel das Wachstum von Wut und Empörung besonders in den Gesten der beiden Jugendlichen nach, vom Kratzen an den Unterarmen bis zum probeweisen Anspannen des Bizeps. So verfolgt er, wie sich die Hand langsam zur Faust ballt. Und wie es prickelt, wenn sich zwei Fäuste berühren.
Die sächsische Provinz, in der sich das alles abspielt, ist eine von Gruben und Brachen durchfräste Landschaft, in die der Fremdenhass wie beiläufig einsickert. Zunächst im Autobahn-Stau als Wut auf dicht auffahrende Polen. Dann im Freibad auf Sorben, die ihre eigene Kultur pflegen. Schließlich auf Asylanten, denen das Schulhaus frei geräumt werden soll. Ein Hakenkreuz auf dem Schulhof bringt den ersten Eklat. Über das Fernsehen dringt derweil die Weltpolitik in kurzen Schattenrissen nach Sachsen. Am Bildschirm flimmern die von den Twin Towers herunterspringenden Menschen, die ähnlich unwirklich erlebt werden wie die eigene Umgebung.
Das Brüderpaar und die rechte Szene, der es sich anschließt, werden von niemandem direkt provoziert. Es handelt sich um mehr oder weniger zufällige Projektionen von Ohnmacht und Zorn, um zur Schau gestellte Gesten. Sauerstoffarme Politikerworte wie "dezentral" werden zu unerträglichen Provokationen. Rietzschel beschreibt den Kippmoment mit einem guten Gespür für sprachliche Verdichtung, streut elliptische Sätze wie Synkopen ein, die den Erzählfluss stocken und strömen lassen, bis zum rauschhaften Moment, wenn das Tabu gebrochen wird, das Blut durch die Adern fließt und die Körperspannung zurückkehrt: "Er schleudert den Schweinekopf wie aus einer einzigen Bewegung heraus, fließend, athletisch." Der Schweinekopf trifft ein von Muslimen bewohntes Haus, die den Verzehr von Schweinefleisch ablehnen.
Auch bei der Beschreibung der rechten Szene verfällt Rietzschel nicht ins Klischee. Wie aus der Innensicht erfährt man, wie das ist: als Pack betrachtet zu werden und die Kränkung mit einem wortlosen Grinsen zurückgeben. Ebenso wenig wie ihre Umgebung ist die rechte Szene eine Solidargemeinschaft. Man wird mit demselben falschen Lächeln aus ihr ausgestoßen, das man dem ideologischen Gegner vorwirft. In langen Disputen wird erörtert, ob man ein Nazi ist oder ein aufrechter Widerstandskämpfer gegen eine Diktatur der Sauberkeit. Die Brüder gehen dabei unterschiedliche Wege. Philipp, der Stärkere, zieht sich zurück und verpuppt sich. Tobias, der Jüngere, mischt weiter mit und steigert sich in das Phantasma eines finalen Befreiungsschlags. Hier bedient Rietzschel gelegentlich das Plakative, wird passagenweise zu explizit, was dem Roman im Ganzen aber nicht schadet.
Die literarische Spurensuche in der sächsischen Wutlandschaft erscheint so als Protest gegen eine von stummen Menschen bewohnte Welt der Klingeltöne. Eine Gebrauchsanweisung für die politische Interpretation von Chemnitz ist das Buch nicht, aber andernfalls wäre es ja auch keine Literatur.
THOMAS THIEL
Lukas Rietzschel: "Mit der Faust in die Welt schlagen." Roman.
Ullstein Verlag, Berlin 2018. 320 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sprachlos im Osten: Lukas Rietzschels glänzender Debütroman "Mit der Faust in die Welt schlagen"
Wer mit der Faust in die Welt schlägt, trifft sich selbst. Die Welt ist ja nur ein Wort und deshalb ein unsichtbarer, übermächtiger Gegner. Mit was für einer Welt man es gerade zu tun hat, diese Frage stellt sich besonders in den östlichen Bundesländern. Im Bordbistro der Deutschen Bahn, zwischen Eisenach und Erfurt, ist man sich schnell einig: Die Welt wird von einer postenschachernden Politik gemacht und einem egomanen Kosmopolitismus, der sein Weltwissen aus Displays bezieht und einem sauerstoffarmen Individualismus einen fröhlich-bunten Farbanstrich gibt. Man trauert der Vergangenheit nach, sieht machtlos zu, wie alte Fabriken gesprengt und neue Discounter hochgezogen werden. Hat mit der Unterschrift unter den Einheitsvertrag vorschnell eingewilligt, dass die Vergangenheit, in der man gelebt hat, falsch gewesen sein soll. So zu erleben im ICE von Frankfurt nach Berlin an diesem Dienstag.
Sicher: Man war nicht unbeteiligt. Der Videorekorder war willkommen. Dann kam das Internet. Die eigene Befindlichkeit stand plötzlich nackt in der Welt und wurde von der Wut der anderen angestachelt. Die Psychiatrie hat dafür den Terminus posttraumatische Verbitterungsstörung geprägt, die besonders auf dem Boden der östlichen Bundesländer in der Wendezeit gewachsen sei. Wer über die Wende-Wirren nicht schnell mit sich ins Reine kam, dem ist nach diesem Verständnis medizinisch zu helfen.
Der Flüchtling dringt als Ikone in diese Welt, die ihren Bewohnern fremd geworden ist. Von außen betrachtet, ist es um sie nicht schlecht bestellt. Zwischen die sanierten Fassaden der Bürgerhäuser schieben sich Fachmärkte für Kommunikationstechnik, mit denenr man sich von der Umwelt abschotten kann, wenn man sie als störend empfindet. So dringt ein Übermaß an Fiktion ins Bewusstsein, schafft gesteigerte, ortlose Erwartungen und Gleichgültigkeit für eine Umgebung, in der junge Menschen gen Westen ziehen und der Busfahrplan auf den Dörfern übersichtlich wird.
Man kann diese Entwicklung an der verbalen Außenseite erforschen, wie der Sonderforschungsbereich Invektivität an der Universität Dresden, oder aus Milieus und Gesten herauslesen, wie es Lukas Rietzschel in seinem souveränen Debütroman tut. Zeitlich ist das Buch eine Punktlandung und wurde entsprechend als literarischer Kommentar zu Chemnitz gehandelt. Das konnte Lukas Rietzschel nicht wissen, als er zu schreiben begann. Er folgt seinen Figuren über fünfzehn Jahre, von 2000 bis 2015.
Zwei Brüder, Philipp und Tobias. Sie stehen am Rand einer Grube, aus der das neue Familienhaus wachsen soll. Die Erde ist matschig. Die Eltern stehen fröstelnd herum. Spannungslose Körper, ungelenke Gesten. Ständig lehnt man sich irgendwo an, selten aneinander. Nachbarn werden skeptisch beäugt. Freunde gehen verloren. Wie der unglückliche Uwe Deibritz, den seine Frau erst verleumdet und dann Richtung Westen verlässt. Er endet in einem Pkw auf dem Grund eines Sees. Der Mund des Vaters, der ihn im Stich gelassen hat, "zittert, der Kiefer bewegt sich, aber er sagt nichts". Die Welt der Eltern steht also auf rutschigem Boden, ist starr und sprachlos.
Das Schweigen überträgt sich als Tabu in die Kindheit der beiden Jungen. Der Vulkan, den Philipp auf das Garagentor seiner Schule malt, wird auf Anweisung des Rektors überpinselt, wandert in die Phantasie und wird größer: "In seinem Kopf ging sie (die Lehrerin) mit ihren langen Fingernägeln an Gartenzäunen entlang und knipste die Blüten von den Blumen." Mit einer sinnlichen, feinporigen Sprache zeichnet Rietzschel das Wachstum von Wut und Empörung besonders in den Gesten der beiden Jugendlichen nach, vom Kratzen an den Unterarmen bis zum probeweisen Anspannen des Bizeps. So verfolgt er, wie sich die Hand langsam zur Faust ballt. Und wie es prickelt, wenn sich zwei Fäuste berühren.
Die sächsische Provinz, in der sich das alles abspielt, ist eine von Gruben und Brachen durchfräste Landschaft, in die der Fremdenhass wie beiläufig einsickert. Zunächst im Autobahn-Stau als Wut auf dicht auffahrende Polen. Dann im Freibad auf Sorben, die ihre eigene Kultur pflegen. Schließlich auf Asylanten, denen das Schulhaus frei geräumt werden soll. Ein Hakenkreuz auf dem Schulhof bringt den ersten Eklat. Über das Fernsehen dringt derweil die Weltpolitik in kurzen Schattenrissen nach Sachsen. Am Bildschirm flimmern die von den Twin Towers herunterspringenden Menschen, die ähnlich unwirklich erlebt werden wie die eigene Umgebung.
Das Brüderpaar und die rechte Szene, der es sich anschließt, werden von niemandem direkt provoziert. Es handelt sich um mehr oder weniger zufällige Projektionen von Ohnmacht und Zorn, um zur Schau gestellte Gesten. Sauerstoffarme Politikerworte wie "dezentral" werden zu unerträglichen Provokationen. Rietzschel beschreibt den Kippmoment mit einem guten Gespür für sprachliche Verdichtung, streut elliptische Sätze wie Synkopen ein, die den Erzählfluss stocken und strömen lassen, bis zum rauschhaften Moment, wenn das Tabu gebrochen wird, das Blut durch die Adern fließt und die Körperspannung zurückkehrt: "Er schleudert den Schweinekopf wie aus einer einzigen Bewegung heraus, fließend, athletisch." Der Schweinekopf trifft ein von Muslimen bewohntes Haus, die den Verzehr von Schweinefleisch ablehnen.
Auch bei der Beschreibung der rechten Szene verfällt Rietzschel nicht ins Klischee. Wie aus der Innensicht erfährt man, wie das ist: als Pack betrachtet zu werden und die Kränkung mit einem wortlosen Grinsen zurückgeben. Ebenso wenig wie ihre Umgebung ist die rechte Szene eine Solidargemeinschaft. Man wird mit demselben falschen Lächeln aus ihr ausgestoßen, das man dem ideologischen Gegner vorwirft. In langen Disputen wird erörtert, ob man ein Nazi ist oder ein aufrechter Widerstandskämpfer gegen eine Diktatur der Sauberkeit. Die Brüder gehen dabei unterschiedliche Wege. Philipp, der Stärkere, zieht sich zurück und verpuppt sich. Tobias, der Jüngere, mischt weiter mit und steigert sich in das Phantasma eines finalen Befreiungsschlags. Hier bedient Rietzschel gelegentlich das Plakative, wird passagenweise zu explizit, was dem Roman im Ganzen aber nicht schadet.
Die literarische Spurensuche in der sächsischen Wutlandschaft erscheint so als Protest gegen eine von stummen Menschen bewohnte Welt der Klingeltöne. Eine Gebrauchsanweisung für die politische Interpretation von Chemnitz ist das Buch nicht, aber andernfalls wäre es ja auch keine Literatur.
THOMAS THIEL
Lukas Rietzschel: "Mit der Faust in die Welt schlagen." Roman.
Ullstein Verlag, Berlin 2018. 320 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Sehr gut beobachtet und schön und poetisch und genau geschrieben" Volker Weidermann Der Spiegel 20180908