Die so bewegende wie einsichtsvolle Geschichte einer rätselhaften Frau: Nuanciert und mitreißend erzählt Julia Schoch vom Untergang der DDR und dem Ende aller Träume mit der Erfüllung des Wunschs nach Freiheit.
Vor allem die Frauen waren übermütig, ihre Gesichter leuchteten, und ihr Lachen hörte man die ganze Nacht hindurch. Als hätte ihnen nun der Lauf der Geschichte, die Auflösung unseres Staates, ein Argument für ein eigenes Leben gegeben. Meine Schwester aber, die in der Abgeschiedenheit der Kiefernwälder und des Stettiner Haffs von der Freiheit geträumt hatte, hatte noch nichts, das sich zu verlassen lohnte. Nur die Familie, den Ehemann. Aber sie blieb, traf sich wieder mit ihrem alten Liebhaber und gab sich fast schwärmerisch der verlockenden Vorstellung hin, dass in diesem anderen Staat ein anderer Lebenslauf für sie bereitgestanden hätte. Wäre ich aufmerksamer gewesen, hätte ich ihre verhängnisvolle Entscheidung vielleicht rückgängig machen können.
Vor allem die Frauen waren übermütig, ihre Gesichter leuchteten, und ihr Lachen hörte man die ganze Nacht hindurch. Als hätte ihnen nun der Lauf der Geschichte, die Auflösung unseres Staates, ein Argument für ein eigenes Leben gegeben. Meine Schwester aber, die in der Abgeschiedenheit der Kiefernwälder und des Stettiner Haffs von der Freiheit geträumt hatte, hatte noch nichts, das sich zu verlassen lohnte. Nur die Familie, den Ehemann. Aber sie blieb, traf sich wieder mit ihrem alten Liebhaber und gab sich fast schwärmerisch der verlockenden Vorstellung hin, dass in diesem anderen Staat ein anderer Lebenslauf für sie bereitgestanden hätte. Wäre ich aufmerksamer gewesen, hätte ich ihre verhängnisvolle Entscheidung vielleicht rückgängig machen können.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.03.2009Das Echo des Schellenrings
In ihrem Roman „Mit der Geschwindigkeit des Sommers” zeichnet Julia Schoch den Schatten der untergegangenen DDR in einem abgelegenen Landstrich in Mecklenburg-Vorpommern nach Von Ijoma Mangold
Landschaft und Geschichte: logisch haben sie wenig miteinander zu tun, aber sie verzahnen sich in der kontingenten Erfahrung ineinander und durchdringen sich dann nur umso unauflöslicher. In den Weiten der russischen Steppe wird für immer Napoleons Armee aufgerieben werden. Die roten Mohnfelder Flanderns erzählen auch heute noch von den Materialschlachten des Ersten Weltkriegs. Und die weiten Wüsten- und Prärielandschaften Nordamerikas werden bleibend der Schauplatz jener Pioniere sein, die die US-Grenze nach Westen verschoben.
Manchmal spielt die Landschaft eine militär-strategische Rolle, aber meist ist sie nur Kulisse, die gleichwohl bedeutungsvoll aufsaugt, was sich vor ihren Augen an geschichtlichen Ereignissen abspielt. Der märkische Kiefernwald wird dem Betrachter immer preußisch und sozialistisch anmuten(zwei Gedankenwelten, die sich viel zwangloser vermählten, als man sich das am grünen Tisch vorgestellt haben würde). Indem die Geschichte sich in der Landschaft breitmacht und die Landschaft die Geschichte in sich aufnimmt und sich von ihr gestalten lässt, verliert die Landschaft ihre Unschuld – sie ist ideologischer als die bloße Natur. Umgekehrt aber wäre auch das, sagen wir einmal: dissidentische Bedürfnis vorstellbar, die Landschaft vor ihrer politischen Okkupation zu schützen.
Julia Schoch, Jahrgang 1974, erzählt in ihrem Roman „Mit der Geschwindigkeit des Sommers” die kurze und ziemlich ereignislose Geschichte einer jungen Frau, die in der DDR aufwächst, kurz vor der Wende heiratet, zwei Kinder bekommt, einen alten Liebhaber reaktiviert, ehe sie plötzlich den Ort ihres Lebens verlässt, nach New York geht und dort an einer Überdosis Schlaftabletten stirbt. Erzählt wird diese Geschichte von ihrer Schwester, der Ich-Erzählerin, die das eine oder andere biographische Datum mit der Autorin Schoch teilt.
Es ist ein Buch über eine depressive Person, aber ein Krankenbericht im strengen Sinne ist es keineswegs. Denn es bleibt durchgängig in der Schwebe und unentscheidbar, ob das Unglück der Protagonistin klinischer oder zeitgeschichtlicher Natur ist. Ist ihr Selbstmord eine Reaktion auf den Mauerfall, der die Protagonistin in eine Freiheit entlässt, in der es, wie mehrfach angedeutet wird, keine Träume mehr gibt? Oder ist diese junge Frau ein Depressionspatient, der seine Krankheit als politische Metapher überhöht?
Der Roman entwirft das erschreckende Bild einer zugleich unbarmherzig teilnahmslosen wie selbstbestimmten Frau, die dem Leser nicht anders als der Schwester bis zum Schluss ein Rätsel bleibt. Ein Rätsel allerdings, bei dessen Betrachtung einem die Augen für viele Fragen geöffnet werden.
Julia Schoch, Tochter eines NVA-Offiziers und schon bisher als Autorin einer sehr gedankenklaren und harten Prosa aufgefallen, hat ihre Geschichte in einer verlassenen Gegend Mecklenburg-Vorpommerns nahe dem Stettiner Haff angesiedelt. „Nach dem Krieg”, heißt es in dem Roman, „hatte der sozialistische Staat den Landstrich entdeckt, dieses dünnbesiedelte Land, dessen Nutzlosigkeit ein strategischer Vorteil war.” Hier wird ein Ort aus dem Boden gestampft, in dem vor allem die Familien der Armeeangehörigen wohnen. Höchst eindrucksvoll schildert Julia Schoch die Künstlichkeit, Trostlosigkeit und Leblosigkeit dieser Plattenbau gewordenen Planungsillusion: als Geisterstadt und Verbannungsort, aus dem kein Weg herausführt. Die Zugverbindungen in die Hauptstadt sind schlecht und in die andere Richtung versperrt, seit in Polen Kriegsrecht herrscht, eine gesicherte Grenze den Blick: „Während das Land neben uns verschwand, wurde die Gegend, in der wir lebten, zu einer Sackgasse.”
Julia Schoch, deren Prosa frei von Sentimentalität ist, hat ein ausgezeichnetes Gespür dafür, wie Landschaft und Zeitgeschichte einander durchdringen. Das politische System kolonisiert die Natur, um in ihr Menschenleben nach seinem Gesetz anzusiedeln. In einem bezwingenden Bild heißt es: „Der gerade Horizont. Die einzige Erhebung in dieser weitgestreckten Landschaft ist eine künstliche, ein aufgeschütteter Berg, über den eine Betonspur führt. Nachts üben dort Panzer das Anfahren am Berg, das Hinabrollen ins Tal. Nur im Winter, wenn es geschneit hat, nehmen die Kinder den Manöverhügel in Besitz. Sie zerteilen mit ihren Schlitten die dünne Decke aus Schnee, Hunderte Kinder, so lange, bis sie über den steinigen Grund schrammen, bis nichts mehr übriggeblieben ist als schmutziges Wasser auf Beton.”
Das ist ein höchst unheimlicher sozialistischer Realismus, der bei aller Kälte des Blicks für Momente herzzerreißend wirkt, wenn sich Kinder und Panzer dieselbe Szenarie teilen, aber am Ende vom Kindheitsidyll nur „schmutziges Wasser auf Beton” übrigbleibt. Überhaupt entwirft Julia Schoch ein ätzendes Bild der DDR, ohne aber deshalb mit Sympathie auf das wiedervereinte Land zu schauen.
Diese Ambivalenz ist intellektuell gewinnbringend. Wenn die Schulkarriere der Schwester beschrieben wird als Mischung aus Anpassung und Abtauchen, heißt es: „Ohne einen Zwischenfall, ohne zu widersprechen machte meine Schwester Meldung vor den Lehrern, zu Jubiläen rezitierte sie hin und wieder ein Gedicht, sie übernahm im Singeclub den Schellenring. An Gedenktagen legte sie Kränze nieder. . .”. Den Schellenring im Singeclub zu übernehmen, um der sozialistischen Vaterlandspflicht Genüge zu tun, das ist ein subtiles Bild der Durchgriffsmacht der Diktatur.
Der Landstrich, in dem Julia Schoch ihre Geschichte ansiedelt, kennt keine Tradition und kein Brauchtum: „In unserer Kindheit hat es weder den Singsang kirchlicher Litaneien gegeben noch bürgerliches Salongeschwätz, untermalt von Klavieren.” Es ist ein Maximum an Unbehaustheit, das Julia Schoch in den Kulissen der Plattenbauten beschwört. Doch auch der Impetus des Westens, hinter den sozialistischen Ödnissen die alten Kulturlandschaften auszugraben, wird nicht gutgeheißen: Die Schwester „verabscheute die plötzliche Besinnung auf diesen uralten, historischen Kram überall im Land, all die wiederentdeckten Burgen, Schlösser, Kirchen”.
Diese Schwester hat es nicht leicht mit sich selbst. Der Provinz, in der nichts passiert, ist sie nie entflohen. Aber sie hat – neben ihrem Mann und den zwei Kindern, über die aber weiter kein Wort verloren wird, als wären sie keiner Anteilnahme würdig – nach dem Mauerfall eine Affaire mit ihrem ersten Freund, der damals, zu ihren Schulzeiten, als Soldat hier stationiert war.
Ist diese Liebschaft der Versuch, in jene Vergangenheit zurückzukommen, die mit dem Mauerfall zu Ende ging? Die Schwester leidet an der Gegenwart, als wäre in dem damals untergegangenen Staat ein anderes Leben möglich gewesen. „Meine Schwester fühlte sich aufgehoben in der nicht probierten Version. Fast enttäuschend war es, dass einem der Lebensplan, der schon geschrieben gestanden hatte, nun zum Eigengebrauch zurückgegeben war.”
Sie will von der angebotenen Freiheit, die sie wie das Begrüßungsgeld als demütigend empfindet, keinen Gebrauch machen. Demütigend wie die Lautlosigkeit, mit der der DDR-Staat zusammenbrach. Und Scham kommt hinzu, Scham über die Lächerlichkeit dieses Staates, in dem man gelebt hatte. Zwanzig Jahre nach dem Mauerfall lässt sich jetzt offenbar auch vom Widerwillen vieler Ostdeutscher erzählen, das wiedervereinte Land als Heimat anzunehmen. Julia Schoch gelingt darin ein spannendes Psychogramm, das nichts mit Ostalgie und Jammer-Ossitum zu tun hat.
Darin ist das Buch stark. Seine Schwäche liegt darin, dass die politische Geschichte dieser Landschaft und Gesellschaft den Leser weit mehr interessiert als die individuelle Krankengeschichte der Schwester. Aber am Ende gehen die Menschen, die Landschaften bleiben.
Julia Schoch
Mit der Geschwindigkeit des Sommers
Roman. Piper Verlag, München 2009. 150 Seiten, 14,95 Euro.
Die Schwester verabscheut die plötzliche Besinnung auf all die alten Schlösser und Kirchen
Alles andere als ostalgisch: Julia Schoch erzählt, zwanzig Jahre nach dem Mauerfall, in einem spannenden Psychogramm davon, warum es für viele Ostdeutsche nicht einfach war, das wiedervereinte Deutschland als ihre Heimat anzunehmen. Foto: Regina Schmeken
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
In ihrem Roman „Mit der Geschwindigkeit des Sommers” zeichnet Julia Schoch den Schatten der untergegangenen DDR in einem abgelegenen Landstrich in Mecklenburg-Vorpommern nach Von Ijoma Mangold
Landschaft und Geschichte: logisch haben sie wenig miteinander zu tun, aber sie verzahnen sich in der kontingenten Erfahrung ineinander und durchdringen sich dann nur umso unauflöslicher. In den Weiten der russischen Steppe wird für immer Napoleons Armee aufgerieben werden. Die roten Mohnfelder Flanderns erzählen auch heute noch von den Materialschlachten des Ersten Weltkriegs. Und die weiten Wüsten- und Prärielandschaften Nordamerikas werden bleibend der Schauplatz jener Pioniere sein, die die US-Grenze nach Westen verschoben.
Manchmal spielt die Landschaft eine militär-strategische Rolle, aber meist ist sie nur Kulisse, die gleichwohl bedeutungsvoll aufsaugt, was sich vor ihren Augen an geschichtlichen Ereignissen abspielt. Der märkische Kiefernwald wird dem Betrachter immer preußisch und sozialistisch anmuten(zwei Gedankenwelten, die sich viel zwangloser vermählten, als man sich das am grünen Tisch vorgestellt haben würde). Indem die Geschichte sich in der Landschaft breitmacht und die Landschaft die Geschichte in sich aufnimmt und sich von ihr gestalten lässt, verliert die Landschaft ihre Unschuld – sie ist ideologischer als die bloße Natur. Umgekehrt aber wäre auch das, sagen wir einmal: dissidentische Bedürfnis vorstellbar, die Landschaft vor ihrer politischen Okkupation zu schützen.
Julia Schoch, Jahrgang 1974, erzählt in ihrem Roman „Mit der Geschwindigkeit des Sommers” die kurze und ziemlich ereignislose Geschichte einer jungen Frau, die in der DDR aufwächst, kurz vor der Wende heiratet, zwei Kinder bekommt, einen alten Liebhaber reaktiviert, ehe sie plötzlich den Ort ihres Lebens verlässt, nach New York geht und dort an einer Überdosis Schlaftabletten stirbt. Erzählt wird diese Geschichte von ihrer Schwester, der Ich-Erzählerin, die das eine oder andere biographische Datum mit der Autorin Schoch teilt.
Es ist ein Buch über eine depressive Person, aber ein Krankenbericht im strengen Sinne ist es keineswegs. Denn es bleibt durchgängig in der Schwebe und unentscheidbar, ob das Unglück der Protagonistin klinischer oder zeitgeschichtlicher Natur ist. Ist ihr Selbstmord eine Reaktion auf den Mauerfall, der die Protagonistin in eine Freiheit entlässt, in der es, wie mehrfach angedeutet wird, keine Träume mehr gibt? Oder ist diese junge Frau ein Depressionspatient, der seine Krankheit als politische Metapher überhöht?
Der Roman entwirft das erschreckende Bild einer zugleich unbarmherzig teilnahmslosen wie selbstbestimmten Frau, die dem Leser nicht anders als der Schwester bis zum Schluss ein Rätsel bleibt. Ein Rätsel allerdings, bei dessen Betrachtung einem die Augen für viele Fragen geöffnet werden.
Julia Schoch, Tochter eines NVA-Offiziers und schon bisher als Autorin einer sehr gedankenklaren und harten Prosa aufgefallen, hat ihre Geschichte in einer verlassenen Gegend Mecklenburg-Vorpommerns nahe dem Stettiner Haff angesiedelt. „Nach dem Krieg”, heißt es in dem Roman, „hatte der sozialistische Staat den Landstrich entdeckt, dieses dünnbesiedelte Land, dessen Nutzlosigkeit ein strategischer Vorteil war.” Hier wird ein Ort aus dem Boden gestampft, in dem vor allem die Familien der Armeeangehörigen wohnen. Höchst eindrucksvoll schildert Julia Schoch die Künstlichkeit, Trostlosigkeit und Leblosigkeit dieser Plattenbau gewordenen Planungsillusion: als Geisterstadt und Verbannungsort, aus dem kein Weg herausführt. Die Zugverbindungen in die Hauptstadt sind schlecht und in die andere Richtung versperrt, seit in Polen Kriegsrecht herrscht, eine gesicherte Grenze den Blick: „Während das Land neben uns verschwand, wurde die Gegend, in der wir lebten, zu einer Sackgasse.”
Julia Schoch, deren Prosa frei von Sentimentalität ist, hat ein ausgezeichnetes Gespür dafür, wie Landschaft und Zeitgeschichte einander durchdringen. Das politische System kolonisiert die Natur, um in ihr Menschenleben nach seinem Gesetz anzusiedeln. In einem bezwingenden Bild heißt es: „Der gerade Horizont. Die einzige Erhebung in dieser weitgestreckten Landschaft ist eine künstliche, ein aufgeschütteter Berg, über den eine Betonspur führt. Nachts üben dort Panzer das Anfahren am Berg, das Hinabrollen ins Tal. Nur im Winter, wenn es geschneit hat, nehmen die Kinder den Manöverhügel in Besitz. Sie zerteilen mit ihren Schlitten die dünne Decke aus Schnee, Hunderte Kinder, so lange, bis sie über den steinigen Grund schrammen, bis nichts mehr übriggeblieben ist als schmutziges Wasser auf Beton.”
Das ist ein höchst unheimlicher sozialistischer Realismus, der bei aller Kälte des Blicks für Momente herzzerreißend wirkt, wenn sich Kinder und Panzer dieselbe Szenarie teilen, aber am Ende vom Kindheitsidyll nur „schmutziges Wasser auf Beton” übrigbleibt. Überhaupt entwirft Julia Schoch ein ätzendes Bild der DDR, ohne aber deshalb mit Sympathie auf das wiedervereinte Land zu schauen.
Diese Ambivalenz ist intellektuell gewinnbringend. Wenn die Schulkarriere der Schwester beschrieben wird als Mischung aus Anpassung und Abtauchen, heißt es: „Ohne einen Zwischenfall, ohne zu widersprechen machte meine Schwester Meldung vor den Lehrern, zu Jubiläen rezitierte sie hin und wieder ein Gedicht, sie übernahm im Singeclub den Schellenring. An Gedenktagen legte sie Kränze nieder. . .”. Den Schellenring im Singeclub zu übernehmen, um der sozialistischen Vaterlandspflicht Genüge zu tun, das ist ein subtiles Bild der Durchgriffsmacht der Diktatur.
Der Landstrich, in dem Julia Schoch ihre Geschichte ansiedelt, kennt keine Tradition und kein Brauchtum: „In unserer Kindheit hat es weder den Singsang kirchlicher Litaneien gegeben noch bürgerliches Salongeschwätz, untermalt von Klavieren.” Es ist ein Maximum an Unbehaustheit, das Julia Schoch in den Kulissen der Plattenbauten beschwört. Doch auch der Impetus des Westens, hinter den sozialistischen Ödnissen die alten Kulturlandschaften auszugraben, wird nicht gutgeheißen: Die Schwester „verabscheute die plötzliche Besinnung auf diesen uralten, historischen Kram überall im Land, all die wiederentdeckten Burgen, Schlösser, Kirchen”.
Diese Schwester hat es nicht leicht mit sich selbst. Der Provinz, in der nichts passiert, ist sie nie entflohen. Aber sie hat – neben ihrem Mann und den zwei Kindern, über die aber weiter kein Wort verloren wird, als wären sie keiner Anteilnahme würdig – nach dem Mauerfall eine Affaire mit ihrem ersten Freund, der damals, zu ihren Schulzeiten, als Soldat hier stationiert war.
Ist diese Liebschaft der Versuch, in jene Vergangenheit zurückzukommen, die mit dem Mauerfall zu Ende ging? Die Schwester leidet an der Gegenwart, als wäre in dem damals untergegangenen Staat ein anderes Leben möglich gewesen. „Meine Schwester fühlte sich aufgehoben in der nicht probierten Version. Fast enttäuschend war es, dass einem der Lebensplan, der schon geschrieben gestanden hatte, nun zum Eigengebrauch zurückgegeben war.”
Sie will von der angebotenen Freiheit, die sie wie das Begrüßungsgeld als demütigend empfindet, keinen Gebrauch machen. Demütigend wie die Lautlosigkeit, mit der der DDR-Staat zusammenbrach. Und Scham kommt hinzu, Scham über die Lächerlichkeit dieses Staates, in dem man gelebt hatte. Zwanzig Jahre nach dem Mauerfall lässt sich jetzt offenbar auch vom Widerwillen vieler Ostdeutscher erzählen, das wiedervereinte Land als Heimat anzunehmen. Julia Schoch gelingt darin ein spannendes Psychogramm, das nichts mit Ostalgie und Jammer-Ossitum zu tun hat.
Darin ist das Buch stark. Seine Schwäche liegt darin, dass die politische Geschichte dieser Landschaft und Gesellschaft den Leser weit mehr interessiert als die individuelle Krankengeschichte der Schwester. Aber am Ende gehen die Menschen, die Landschaften bleiben.
Julia Schoch
Mit der Geschwindigkeit des Sommers
Roman. Piper Verlag, München 2009. 150 Seiten, 14,95 Euro.
Die Schwester verabscheut die plötzliche Besinnung auf all die alten Schlösser und Kirchen
Alles andere als ostalgisch: Julia Schoch erzählt, zwanzig Jahre nach dem Mauerfall, in einem spannenden Psychogramm davon, warum es für viele Ostdeutsche nicht einfach war, das wiedervereinte Deutschland als ihre Heimat anzunehmen. Foto: Regina Schmeken
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.05.2009Damals, in der anderen Zeit
Julia Schoch liest in der Romanfabrik
Eggesin liegt am Meer. Oder vielmehr: am Haff, einem falschen, gigantisch stehenden Meer bei Stettin. Nicht einmal das Leben nehmen kann man sich dort, weil das Wasser nur knietief ist. Um mit einer Überdosis Schlaftabletten sicherzugehen, sollte man nach New York reisen. Wie die Schwester des erzählenden Ichs in Julia Schochs jüngstem Roman. Nie ist diese Frau über die Grenzen der mecklenburgischen Garnisonsstadt an der polnischen Grenze gekommen. Erst als sie entschlossen ist zu sterben, bricht sie auf in die weite Welt und befreit sich von der inneren Teilnahmslosigkeit, mit der sie der Trauer über ihr verlorenes Leben zu begegnen versuchte - ein Leben, das mit der politischen "Wende" wertlos geworden war.
In der Romanfabrik stellte die Autorin aus Potsdam nun ihr Buch vor, das unter dem Titel "Mit der Geschwindigkeit des Sommers" im Piper Verlag erschienen ist. Auf 150 Seiten versucht die Ich-Erzählerin, sich dem Leben und dem selbstgewählten Tod ihrer verschwiegenen Schwester zu nähern. Dabei stößt sie auf "den Soldaten", einen Liebhaber, der die Schwester mit der Vergangenheit ihres realsozialistischen Daseins verband: "damals, in dieser anderen Zeit". Mit ihm betrügt sie ihre Familie, ihm liefert sie sich in einem Hotelzimmer aus bis zur totalen Selbstpreisgabe. Anders die Jüngere, die sich, noch nicht hinreichend verbogen, in der neuen Gesellschaft Träume leistet, ohne sich dafür verachten zu müssen.
Ob der lakonische "Schoch-Sound" ein Garant für Authentizität sei, wollte Hausherr Michael Hohmann wissen. Die Autorin lächelte hoffnungsfroh und gab zu, an diesem Buch gern gearbeitet zu haben: "ohne zu kämpfen" wie sonst. Hohmann glaubte, die Erzählhaltung der französischen Schriftstellerin Marguerite Duras herausgehört zu haben. "Sie ist mir nicht fremd", erwiderte Schoch sibyllinisch. Zumindest die Schilderung der erotischen Begegnungen, auf die sich die Autorin diesmal kapriziert hatte, erinnern an die plastische Erotik der Duras. Dass sich "Küsse" auf "Bisse" reimen, wusste allerdings schon Kleists Penthesilea. Aber die Wildheit der DDR-Amazone, die sich um ihr Leben betrogen fühlt, ist nicht Leidenschaft oder Hingabe, sondern eine Form schulterzuckender Selbstaufgabe.
CLAUDIA SCHÜLKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Julia Schoch liest in der Romanfabrik
Eggesin liegt am Meer. Oder vielmehr: am Haff, einem falschen, gigantisch stehenden Meer bei Stettin. Nicht einmal das Leben nehmen kann man sich dort, weil das Wasser nur knietief ist. Um mit einer Überdosis Schlaftabletten sicherzugehen, sollte man nach New York reisen. Wie die Schwester des erzählenden Ichs in Julia Schochs jüngstem Roman. Nie ist diese Frau über die Grenzen der mecklenburgischen Garnisonsstadt an der polnischen Grenze gekommen. Erst als sie entschlossen ist zu sterben, bricht sie auf in die weite Welt und befreit sich von der inneren Teilnahmslosigkeit, mit der sie der Trauer über ihr verlorenes Leben zu begegnen versuchte - ein Leben, das mit der politischen "Wende" wertlos geworden war.
In der Romanfabrik stellte die Autorin aus Potsdam nun ihr Buch vor, das unter dem Titel "Mit der Geschwindigkeit des Sommers" im Piper Verlag erschienen ist. Auf 150 Seiten versucht die Ich-Erzählerin, sich dem Leben und dem selbstgewählten Tod ihrer verschwiegenen Schwester zu nähern. Dabei stößt sie auf "den Soldaten", einen Liebhaber, der die Schwester mit der Vergangenheit ihres realsozialistischen Daseins verband: "damals, in dieser anderen Zeit". Mit ihm betrügt sie ihre Familie, ihm liefert sie sich in einem Hotelzimmer aus bis zur totalen Selbstpreisgabe. Anders die Jüngere, die sich, noch nicht hinreichend verbogen, in der neuen Gesellschaft Träume leistet, ohne sich dafür verachten zu müssen.
Ob der lakonische "Schoch-Sound" ein Garant für Authentizität sei, wollte Hausherr Michael Hohmann wissen. Die Autorin lächelte hoffnungsfroh und gab zu, an diesem Buch gern gearbeitet zu haben: "ohne zu kämpfen" wie sonst. Hohmann glaubte, die Erzählhaltung der französischen Schriftstellerin Marguerite Duras herausgehört zu haben. "Sie ist mir nicht fremd", erwiderte Schoch sibyllinisch. Zumindest die Schilderung der erotischen Begegnungen, auf die sich die Autorin diesmal kapriziert hatte, erinnern an die plastische Erotik der Duras. Dass sich "Küsse" auf "Bisse" reimen, wusste allerdings schon Kleists Penthesilea. Aber die Wildheit der DDR-Amazone, die sich um ihr Leben betrogen fühlt, ist nicht Leidenschaft oder Hingabe, sondern eine Form schulterzuckender Selbstaufgabe.
CLAUDIA SCHÜLKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Jochen Schimmang bewundert die geschliffene und präzise Prosa, mit der Julia Schoch die Geschichte einer Frau ins Werk setzt, die sich mit dem Fall der Mauer um ihren Lebensentwurf gebracht sieht und sich bestürzend konsequent in der Postwendezeit im fernen New York für den Freitod entscheidet. Der knappe und dichte Roman bezieht seine fragile Atmosphäre nicht zuletzt aus dem soldatisch geprägten Milieu einer mecklenburgischen Garnisonsstadt, deren untergegangene Tristesse die Autorin zum Leuchten bringt, so der Rezensent, der sich an Benns Ausruf: "Nichts Träumerisches als eine Kaserne!" erinnert fühlt. Schoch schildere mit diesem "todtraurigen, überaus schönen Buch" auf merkwürdig geräuschlose Weise den gewaltsamen Abbruch von Beziehungen zwischen den namenlos bleibenden Individuen und dem Fortgang der Welt, so Schimmang.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Julia Schoch ist eine emphatische Lakonikerin. Ihre strengen, zugleich sensiblen Sätze strahlen etwas bezwingend Selbstverständliches aus und ergeben gerade deshalb einen ganz unverwechselbaren Stil. Jochen Hieber Frankfurter Allgemeine Zeitung 20090312