Hitler marschiert ins Rheinland ein - und die Welt schaut zu. Hitler besetzt das Sudetengebiet - und nichts passiert. Vielmehr versucht der britische Premier Neville Chamberlain noch 1938 in München ein Friedensabkommen mit Adolf Hitler zu schließen.
Der englische Historiker Tim Bouverie stellt den Erkenntnisprozess in Großbritannien während der 1930er Jahre dar, das lange unsicher war, wie es mit Deutschland und dessen politischen Provokationen umgehen sollte. Sein Buch ist der spannende Bericht einer historischen Eskalation und schildert den historischen Hintergrund zum Netflix-Film "München - Im Angesicht des Krieges".
Bouveries Buch liest sich wie ein historischer Roman, der in seiner Schilderung jener Jahre die Naivität und Inkompetenz seiner Landsleute nicht ausspart und auch nicht die Anbiederung Teile der Oberschicht an Hitler. Er beschreibt die Deutschland-Besuche der Mitford-Schwestern und die Kämpfe im Unterhaus zwischen Chamberlain und Winston Churchill angesichts der politischen Aggression aus Deutschland. Es ist eine historische Analyse und gleichzeitig ein Lehrstück über die Herausforderung, die autoritäre Figuren für Demokratien darstellen.
Der englische Historiker Tim Bouverie stellt den Erkenntnisprozess in Großbritannien während der 1930er Jahre dar, das lange unsicher war, wie es mit Deutschland und dessen politischen Provokationen umgehen sollte. Sein Buch ist der spannende Bericht einer historischen Eskalation und schildert den historischen Hintergrund zum Netflix-Film "München - Im Angesicht des Krieges".
Bouveries Buch liest sich wie ein historischer Roman, der in seiner Schilderung jener Jahre die Naivität und Inkompetenz seiner Landsleute nicht ausspart und auch nicht die Anbiederung Teile der Oberschicht an Hitler. Er beschreibt die Deutschland-Besuche der Mitford-Schwestern und die Kämpfe im Unterhaus zwischen Chamberlain und Winston Churchill angesichts der politischen Aggression aus Deutschland. Es ist eine historische Analyse und gleichzeitig ein Lehrstück über die Herausforderung, die autoritäre Figuren für Demokratien darstellen.
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Tim Bouverie erzählt Englands Weg in den Zweiten Weltkrieg als detailreiche Geschichte der hohen britischen Diplomatie
Es gibt Geschichten, die dauerhaft aktuell sind. Die kanonische Erzählung vom britischen Weg in den Zweiten Weltkrieg ist eine davon. Sie kennt Helden und Schurken, und sie hat eine klare Moral: Wer mit aggressiven Diktatoren Kompromisse eingeht, wird sich trotzdem früher oder später unterwerfen oder kämpfen müssen; er hat also nichts gewonnen, aber viel moralischen Kredit verspielt. Diese Kritik am Irrweg der "Beschwichtigung" Hitlers durch Neville Chamberlain wurde bereits im Juli 1940, kurz nach der Evakuierung von Dünkirchen, in dem Bestseller "Guilty Men" formuliert. Dabei ging es, wie bereits in der britischen Diskussion über den Ersten Weltkrieg, auch um die Verantwortung der für nur begrenzt kompetent gehaltenen Eliten für eine Misere, die die gesamte Bevölkerung ausbaden musste.
Mit wachsendem Abstand zum Krieg und zunehmender Forschung wurde das Bild freilich komplizierter, die Geschichte weniger eindeutig. War es wirklich so einfach, Politiker, die sich primär dem Ziel der Friedenssicherung verschrieben hatten, zu verdammen? Waren es nicht gerade die Jahre der Beschwichtigung und die zahlreichen Vertragsbrüche Hitlers, die es erlaubten, hinreichend aufgerüstet und mit der Unterstützung des ganzen Empire (außer Irlands) den Krieg fortzusetzen, als Großbritannien 1940 ohne weitere Verbündete dastand? War es bereits in den 1930er Jahren so einfach, sich zwischen Mussolini, Stalin und Hitler als möglichem Bündnispartner für einen Krieg in Europa zu entscheiden - wo selbst Churchill in dieser Frage lange keine klare Position einnahm? Wusste man immer schon, ob man zur See, in der Luft oder zu Lande aufrüsten sollte, ob der Hauptgegner also Deutschland, Japan, Italien oder doch die Sowjetunion sein würde?
Vor rund zwanzig Jahren hat John Lukacs in "Fünf Tage in London" die Entscheidung zwischen Kompromiss und Konfrontation auf den 24. bis 28. Mai 1940 zugespitzt, als in London ein letztes Verhandlungsangebot erwogen und mit dem Wechsel von Chamberlain zu Churchill verworfen wurde. Tim Bouveries Buch nimmt wieder den Zeitraum ab 1933 in den Blick. Dabei stehen weniger neue Entdeckungen im Mittelpunkt, denn die zahlreichen Archivfunde beinhalten vor allem sprechende Details, als die Kunst der Erzählung. Sie konzentriert sich auf Wendepunkte, an denen eine Intervention denkbar und vielleicht aussichtsreich gewesen wäre. Diese liegen anfangs, als das Buch auch die Wahrnehmung des "Dritten Reichs" vor allem in konservativen britischen Kreisen diskutiert, weiter auseinander, verdichten sich aber nach der Rheinlandbesetzung und dem "Anschluss" Österreichs zusehends; das Buch endet mit der Ernennung Winston Churchills zum Premierminister. Bouverie erzählt eine Geschichte der britischen hohen Diplomatie; andere Akteure betreten die Bühne nur als Verhandlungspartner, Objekt der Beobachtung oder Beurteilung.
Der Text ist dicht recherchiert, anschaulich und quellennah. So erfährt man, mit welchen Anreizen man glaubte, die andere Seite milde stimmen zu können: Ländliche Jagdpartien schienen für Göring geeignet, Hitler erhoffte sich von einer Rheinschifffahrt mit Chamberlain einen Durchbruch (beides fand nicht statt). Tischsitten spielen eine wichtige Rolle (etwa Görings Vorliebe für besonders blutiges Rindfleisch), ebenso Kleidung und Aussehen - der Schneider Anthony Edens ist einer der geheimen Protagonisten des Buches. Man erfährt von der großen Resonanz des Münchener Abkommens, nach dem Chamberlain mit Geschenken überschüttet wurde, die von Angelruten und Ködern bis zu einem Haus an einem Forellenbach in Frankreich reichten, für das immerhin eine halbe Million Francs gesammelt wurde (dieses Geschenk wurde aber abgelehnt).
Das hat das Potential zu einer Alltags- oder Kulturgeschichte der Diplomatie, die aber nicht systematisch entfaltet wird; sehr deutlich werden dagegen die engen Beziehungen zwischen dem kleinen Kreis englischer Politiker, die sich oftmals seit der Schulzeit kannten, schätzten oder verachteten, die sich in ihren schlossähnlichen "Landhäusern" trafen und für die die Grenzen zwischen offizieller Diplomatie und privaten Initiativen oft fließend waren. Zumindest in Bouveries Wahrnehmung waren ihnen das Fischen, Jagen und Feiern allzu oft wichtiger als die Auseinandersetzung mit dem Gegner, und sei es auch nur durch Lektüre von "Mein Kampf". Entsprechend kennt auch diese Geschichte Weitsichtige (vor allem Churchill) und Fehlgeleitete, und sie endet ganz klassisch: mit dem Kapitel "Schuldige Männer".
Die Anti-Appeasement-Erzählung wird in diesem Buch hervorragend aktualisiert; trotzdem oder vielleicht gerade deswegen wirkt es etwas aus der Zeit gefallen. Das liegt zum einen daran, dass die Perspektive eine im Wesentlichen eurozentrische bleibt. Zwar werden die Vorgänge in der Mandschurei oder in Äthiopien erwähnt, auch die Rolle der Vereinigten Staaten für die Formulierung britischer Positionen gegenüber dem NS-Regime gerät gelegentlich in den Blick. Aber was die Existenz des Empire und dessen Probleme etwa in Indien für Handlungsoptionen (und die Bewertung der Protagonisten des Buches, man denke etwa an die aktuell heftigen Debatten über Winston Churchill als "Imperialist") bedeutet haben könnte, bleibt offen. Zum anderen transportiert die Übersetzung, die insgesamt sehr gut gelungen ist, auch wenn sie im Nachwort aus der beeindruckenden London Library (F.A.Z. vom 22. März) eine (beliebige) Londoner Bibliothek macht, das Werk in einen anderen Debattenkontext, in dem der ausschließliche Fokus auf die britische politische Elite weniger unmittelbar einleuchtet - zumal man die reiche deutschsprachige Forschung zum Thema in der Bibliographie der Übersetzung auch stärker vermissen dürfte als im Original.
ANDREAS FAHRMEIR
Tim Bouverie: "Mit Hitler reden". Der Weg vom Appeasement zum Zweiten Weltkrieg.
Aus dem Englischen von Karin Hielscher. Rowohlt Verlag, Hamburg 2021. 704 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Tim Bouverie erzählt Englands Weg in den Zweiten Weltkrieg als detailreiche Geschichte der hohen britischen Diplomatie
Es gibt Geschichten, die dauerhaft aktuell sind. Die kanonische Erzählung vom britischen Weg in den Zweiten Weltkrieg ist eine davon. Sie kennt Helden und Schurken, und sie hat eine klare Moral: Wer mit aggressiven Diktatoren Kompromisse eingeht, wird sich trotzdem früher oder später unterwerfen oder kämpfen müssen; er hat also nichts gewonnen, aber viel moralischen Kredit verspielt. Diese Kritik am Irrweg der "Beschwichtigung" Hitlers durch Neville Chamberlain wurde bereits im Juli 1940, kurz nach der Evakuierung von Dünkirchen, in dem Bestseller "Guilty Men" formuliert. Dabei ging es, wie bereits in der britischen Diskussion über den Ersten Weltkrieg, auch um die Verantwortung der für nur begrenzt kompetent gehaltenen Eliten für eine Misere, die die gesamte Bevölkerung ausbaden musste.
Mit wachsendem Abstand zum Krieg und zunehmender Forschung wurde das Bild freilich komplizierter, die Geschichte weniger eindeutig. War es wirklich so einfach, Politiker, die sich primär dem Ziel der Friedenssicherung verschrieben hatten, zu verdammen? Waren es nicht gerade die Jahre der Beschwichtigung und die zahlreichen Vertragsbrüche Hitlers, die es erlaubten, hinreichend aufgerüstet und mit der Unterstützung des ganzen Empire (außer Irlands) den Krieg fortzusetzen, als Großbritannien 1940 ohne weitere Verbündete dastand? War es bereits in den 1930er Jahren so einfach, sich zwischen Mussolini, Stalin und Hitler als möglichem Bündnispartner für einen Krieg in Europa zu entscheiden - wo selbst Churchill in dieser Frage lange keine klare Position einnahm? Wusste man immer schon, ob man zur See, in der Luft oder zu Lande aufrüsten sollte, ob der Hauptgegner also Deutschland, Japan, Italien oder doch die Sowjetunion sein würde?
Vor rund zwanzig Jahren hat John Lukacs in "Fünf Tage in London" die Entscheidung zwischen Kompromiss und Konfrontation auf den 24. bis 28. Mai 1940 zugespitzt, als in London ein letztes Verhandlungsangebot erwogen und mit dem Wechsel von Chamberlain zu Churchill verworfen wurde. Tim Bouveries Buch nimmt wieder den Zeitraum ab 1933 in den Blick. Dabei stehen weniger neue Entdeckungen im Mittelpunkt, denn die zahlreichen Archivfunde beinhalten vor allem sprechende Details, als die Kunst der Erzählung. Sie konzentriert sich auf Wendepunkte, an denen eine Intervention denkbar und vielleicht aussichtsreich gewesen wäre. Diese liegen anfangs, als das Buch auch die Wahrnehmung des "Dritten Reichs" vor allem in konservativen britischen Kreisen diskutiert, weiter auseinander, verdichten sich aber nach der Rheinlandbesetzung und dem "Anschluss" Österreichs zusehends; das Buch endet mit der Ernennung Winston Churchills zum Premierminister. Bouverie erzählt eine Geschichte der britischen hohen Diplomatie; andere Akteure betreten die Bühne nur als Verhandlungspartner, Objekt der Beobachtung oder Beurteilung.
Der Text ist dicht recherchiert, anschaulich und quellennah. So erfährt man, mit welchen Anreizen man glaubte, die andere Seite milde stimmen zu können: Ländliche Jagdpartien schienen für Göring geeignet, Hitler erhoffte sich von einer Rheinschifffahrt mit Chamberlain einen Durchbruch (beides fand nicht statt). Tischsitten spielen eine wichtige Rolle (etwa Görings Vorliebe für besonders blutiges Rindfleisch), ebenso Kleidung und Aussehen - der Schneider Anthony Edens ist einer der geheimen Protagonisten des Buches. Man erfährt von der großen Resonanz des Münchener Abkommens, nach dem Chamberlain mit Geschenken überschüttet wurde, die von Angelruten und Ködern bis zu einem Haus an einem Forellenbach in Frankreich reichten, für das immerhin eine halbe Million Francs gesammelt wurde (dieses Geschenk wurde aber abgelehnt).
Das hat das Potential zu einer Alltags- oder Kulturgeschichte der Diplomatie, die aber nicht systematisch entfaltet wird; sehr deutlich werden dagegen die engen Beziehungen zwischen dem kleinen Kreis englischer Politiker, die sich oftmals seit der Schulzeit kannten, schätzten oder verachteten, die sich in ihren schlossähnlichen "Landhäusern" trafen und für die die Grenzen zwischen offizieller Diplomatie und privaten Initiativen oft fließend waren. Zumindest in Bouveries Wahrnehmung waren ihnen das Fischen, Jagen und Feiern allzu oft wichtiger als die Auseinandersetzung mit dem Gegner, und sei es auch nur durch Lektüre von "Mein Kampf". Entsprechend kennt auch diese Geschichte Weitsichtige (vor allem Churchill) und Fehlgeleitete, und sie endet ganz klassisch: mit dem Kapitel "Schuldige Männer".
Die Anti-Appeasement-Erzählung wird in diesem Buch hervorragend aktualisiert; trotzdem oder vielleicht gerade deswegen wirkt es etwas aus der Zeit gefallen. Das liegt zum einen daran, dass die Perspektive eine im Wesentlichen eurozentrische bleibt. Zwar werden die Vorgänge in der Mandschurei oder in Äthiopien erwähnt, auch die Rolle der Vereinigten Staaten für die Formulierung britischer Positionen gegenüber dem NS-Regime gerät gelegentlich in den Blick. Aber was die Existenz des Empire und dessen Probleme etwa in Indien für Handlungsoptionen (und die Bewertung der Protagonisten des Buches, man denke etwa an die aktuell heftigen Debatten über Winston Churchill als "Imperialist") bedeutet haben könnte, bleibt offen. Zum anderen transportiert die Übersetzung, die insgesamt sehr gut gelungen ist, auch wenn sie im Nachwort aus der beeindruckenden London Library (F.A.Z. vom 22. März) eine (beliebige) Londoner Bibliothek macht, das Werk in einen anderen Debattenkontext, in dem der ausschließliche Fokus auf die britische politische Elite weniger unmittelbar einleuchtet - zumal man die reiche deutschsprachige Forschung zum Thema in der Bibliographie der Übersetzung auch stärker vermissen dürfte als im Original.
ANDREAS FAHRMEIR
Tim Bouverie: "Mit Hitler reden". Der Weg vom Appeasement zum Zweiten Weltkrieg.
Aus dem Englischen von Karin Hielscher. Rowohlt Verlag, Hamburg 2021. 704 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Andreas Fahrmeir erkennt mit Tim Bouveries Perspektive auf Großbritanniens Weg in den Zweiten Weltkrieg ab 1933 mögliche Wendepunkte in der Diplomatie und allerhand über die Anreize, mit denen man Göring (Jagdpartien) und Hitler (Rheinschifffahrt) ködern wollte. Die gute Recherche und Quellennähe des Textes fallen Fahrmeir angenehm auf, aber auch, dass es zu einer Kulturgeschichte der Diplomatie nicht ganz reicht. Als aktualisierte "Anti-Appeasement"-Story taugt das Buch für sie allerdings hervorragend. Nur: Es bleibt eben eurozentristisch und damit etwas überholt, beklagt die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.02.2021Die Narren aus
der Downing Street
Tim Bouverie zeigt eindrucksvoll, wie die Briten
die Gefahren des NS-Regimes bewusst verharmlosten
VON JOACHIM KÄPPNER
Mit Eton-Abschluss, Pokerface und Schnauzbart schien Sir Horace Rumbold manchen Landsleuten „so englisch wie Eier und Speck“ zu sein, wie man von ihm sagte. Der britische Botschafter in Berlin war eine vornehme Erscheinung im Vergleich zu den neuen Machthabern im Deutschen Reich des Jahres 1933, deren Treiben Rumbold mit Widerwillen und kenntnisreich beobachtete. Vor allem hatte er als einer von wenigen Diplomaten Adolf Hitlers Buch „Mein Kampf“ gelesen und die Drohungen, die darin reichlich standen, zu Recht ernst genommen. Schon im April 1933 schickte er eine Denkschrift nach London: „Er beginnt mit Behauptungen, dass der Mensch ein kämpfendes Tier sei. Deshalb sei die Nation eine Gemeinschaft von Kämpfern. (. . .) Ein Land oder eine Rasse, die aufhört zu kämpfen, ist zum Scheitern verurteilt.“
Es war eine der klarsichtigsten frühen Warnungen vor dem bösen Geist, der Deutschland übermannt hatte und der nur acht Jahre später in Holocaust und Vernichtungskrieg führen würde. Rumbold erkannte, dass die Naziideologie Verständigung weder wollte noch erlaubte. Die Warnung war klug, präzise – und völlig wirkungslos. Rumbold ging im Juli 1933 in den Vorruhestand, und seine Mahnungen waren in London sehr bald vergessen. Es begann nun die verhängnisvolle Ära der Appeasement-Politik der Westmächte gegenüber Hitlerdeutschland, jenes Kurses der Beschwichtigung, den der junge britische Historiker Tim Bouverie in seinem Buch „Mit Hitler reden“ eindrucksvoll seziert (der englische Titel lautet, etwas passgenauer, „Appeasing Hitler“).
Die Appeasement-Politik der Regierungen von Stanley Baldwin und Neville Chamberlain ist oft beschrieben worden, allerdings zumeist in ihren finalen Monaten des Scheiterns 1938/39 und als düsterer Hintergrund von Inkompetenz und Schwäche, vor dem der Stern ihres Intimfeindes Winston Churchill nur umso heller strahlte. Historisch ist das korrekt, Churchill hatte von Beginn an gesehen, was die Appeaser nicht sahen, und vor Hitler und der Mordideologie der Nazis gewarnt, aber erst Glauben gefunden, als es beinahe zu spät war. Bouverie widmet seine Studie aber weniger dem Mann, an dem Hitler scheitern würde, sondern den Appeasern selbst, ihren Motiven, Beweggründen und Plänen von Anfang an.
Sie selbst und manche späteren Historiker haben versucht, ihre Nachgiebigkeit in Bezug auf Hitlerdeutschland zu rechtfertigen. Das Deutsche Reich brach sämtliche Verträge, trat aus dem Völkerbund aus, rüstete hemmungslos auf, schickte Soldaten und Bomber in den spanischen Bürgerkrieg, besetzte 1936 das entmilitarisierte Rheinland, 1938 das Sudetenland und Österreich und unterdrückte brutal die Juden und jede Opposition. All das ließen die Westmächte, die gegenüber der Weimarer Republik wenig Nachsicht gezeigt hatten, geschehen; im Münchner Abkommen 1938, einem Tag der Schande, opferten sie ihren eigenen Bündnispartner, die Tschechoslowakei; Chamberlain flog heim, von einer jubelnden Menge begrüßt, winkte er mit dem Papier des Vertrages und rief: „Frieden in unserer Zeit.“
Wie konnten die Demokratien, 1918 noch Sieger, so tief sinken? Großbritannien war nach dem Ersten Weltkrieg finanziell erschöpft und zutiefst kriegsmüde. Bouverie verzichtet auf jede Rechthaberei dessen, der das verheerende Ergebnis der Appeasement-Politik kennt und im Nachhinein Churchill recht gibt, „der nichts als Narrheit, Schwäche, Schande und Ruin darin sah“, wie Sebastian Haffner in seiner grandiosen Churchill-Biografie von 1967 schrieb. Aber gerade wegen seiner methodischen Gründlichkeit fällt Bouveries Urteil mindestens genauso vernichtend aus.
Wer sich während der späten Trump-Ära wunderte, wie massiv die Demokratie der USA von der Selbstzerstörung bedroht war, sollte dieses Buch lesen. Trump kommt darin nicht vor, wohl aber eine Demokratie, die britische, die erst den Kompass der Realität und politischen Vernunft und dann beinahe ihre Seele und ihre Freiheit verliert. Es sei, so das vernichtende, wenn auch mit britischem Understatement vorgebrachte Urteil Bouveries, „schwierig, für das Handeln der Appeasement-Befürworter und insbesondere für Neville Chamberlain mildernde Umstände in Anschlag zu bringen“. Sprich: Sie haben auf ganzer Linie versagt.
Sie verkannten, wie Rumbold es nannte, „den Charakter der Bestie“ Naziregime nicht nur vollständig, sie wollten ihn auch verkennen. Es war nicht wahr, was nicht wahr sein durfte. Sie taten alles, um Warner und Mahner wie Churchill und Rumbold zu diskreditieren; die Tories wollten Churchill nach dem Münchner Abkommen aus dem Unterhaus drängen, und die BBC, treues Sprachrohr der Appeaser, weigerte sich noch kurz nach Kriegsbeginn 1939, Sir Horace Rumbold im Radio sprechen zu lassen, da er ein zu einseitiger „Nazi-Gegner“ sei.
Die tschechische Tragödie hat schon Churchill in seiner legendären, seinerzeit als skandalös zurückgewiesen Unterhausrede in die passenden Worte gefasst. Die Tschechen hätten nichts als Not und Elend für ihr Bündnis mit den Demokratien erhalten: „Stumm, voller Trauer, verlassen, gebrochen, versinkt die Tschechoslowakei in der Finsternis.“ Die Tschechen, die deutschen Exilanten dort, die demokratisch eingestellten Sudetendeutschen, sie alle würden unter Hitlers Joch geraten, mit schrecklichen Folgen. Im März 1939 besetzte die Wehrmacht das tschechische Kernland, für das Chamberlains Regierung eine Schutzgarantie ausgesprochen hatte. Davon wollte der Premierminister nun nichts mehr wissen. Die deutschen Truppen stiefelten bereits durch Prag, und Chamberlain ließ mitteilen, die Garantie sei leider erloschen, da der Staat, dem sie galt, ja leider nicht bestehe. Auch hier sind Parallelen zur Gegenwart, wie Trumps Verrat an den Kurden Syriens, nicht zu übersehen. Trump machte sich noch lustig über die Kurden, die Appeaser ergingen sich in rassistischen Bemerkungen über die Tschechen.
Statt sich mit der Sowjetunion, dem eigentlichen Ziel der deutschen Eroberungsgelüste, zu vergleichen, hofften die Appeaser mehr oder weniger offen, Hitlers Reich möge den Kommunismus in Schach halten. Bouverie widerspricht der beliebten These, 1938 seien die Briten schon zu schwach gewesen, um die Wehrmacht noch zu stoppen: Sie waren schlecht gerüstet, die Deutschen waren aber auch „noch nicht in der Lage, einen großen Krieg zu führen“. Sie hatten es aber geschafft, dies den Westmächten vorzugaukeln.
Es ist großartiges, kluges, übrigens auch mit der stilistischen Lässigkeit und Brillanz angelsächsischer Historiker geschriebenes Buch, eine beklemmende und zugleich lohnende Lektüre. Demokratien, so ist Bouveries Lehre, müssen sich immer neu erfinden, rückversichern, bewähren; sie sind nicht davor gefeit, durch Irrlehren in ihren eigenen Untergang zu steuern.
Im Mittelpunkt stehen
die Motive, Beweggründe
und Pläne der Appeaser
Das Urteil über Chamberlain
fällt vernichtend aus – und das
nicht nur in der Rückschau
Tim Bouverie:
Mit Hitler reden.
Der Weg vom Appeasement zum Zweiten Weltkrieg. Aus dem Englischen von Karin Hielscher. Rowohlt-Verlag, Hamburg 2021.
704 Seiten, 28 Euro.
Freundlicher Gruß an den baldigen Feind: Arthur Neville Chamberlain 1938 auf dem Münchner Flughafen Oberwiesenfeld. Er wird von Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop (ganz links) begrüßt.
Foto: Scherl / SZ Photo
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
der Downing Street
Tim Bouverie zeigt eindrucksvoll, wie die Briten
die Gefahren des NS-Regimes bewusst verharmlosten
VON JOACHIM KÄPPNER
Mit Eton-Abschluss, Pokerface und Schnauzbart schien Sir Horace Rumbold manchen Landsleuten „so englisch wie Eier und Speck“ zu sein, wie man von ihm sagte. Der britische Botschafter in Berlin war eine vornehme Erscheinung im Vergleich zu den neuen Machthabern im Deutschen Reich des Jahres 1933, deren Treiben Rumbold mit Widerwillen und kenntnisreich beobachtete. Vor allem hatte er als einer von wenigen Diplomaten Adolf Hitlers Buch „Mein Kampf“ gelesen und die Drohungen, die darin reichlich standen, zu Recht ernst genommen. Schon im April 1933 schickte er eine Denkschrift nach London: „Er beginnt mit Behauptungen, dass der Mensch ein kämpfendes Tier sei. Deshalb sei die Nation eine Gemeinschaft von Kämpfern. (. . .) Ein Land oder eine Rasse, die aufhört zu kämpfen, ist zum Scheitern verurteilt.“
Es war eine der klarsichtigsten frühen Warnungen vor dem bösen Geist, der Deutschland übermannt hatte und der nur acht Jahre später in Holocaust und Vernichtungskrieg führen würde. Rumbold erkannte, dass die Naziideologie Verständigung weder wollte noch erlaubte. Die Warnung war klug, präzise – und völlig wirkungslos. Rumbold ging im Juli 1933 in den Vorruhestand, und seine Mahnungen waren in London sehr bald vergessen. Es begann nun die verhängnisvolle Ära der Appeasement-Politik der Westmächte gegenüber Hitlerdeutschland, jenes Kurses der Beschwichtigung, den der junge britische Historiker Tim Bouverie in seinem Buch „Mit Hitler reden“ eindrucksvoll seziert (der englische Titel lautet, etwas passgenauer, „Appeasing Hitler“).
Die Appeasement-Politik der Regierungen von Stanley Baldwin und Neville Chamberlain ist oft beschrieben worden, allerdings zumeist in ihren finalen Monaten des Scheiterns 1938/39 und als düsterer Hintergrund von Inkompetenz und Schwäche, vor dem der Stern ihres Intimfeindes Winston Churchill nur umso heller strahlte. Historisch ist das korrekt, Churchill hatte von Beginn an gesehen, was die Appeaser nicht sahen, und vor Hitler und der Mordideologie der Nazis gewarnt, aber erst Glauben gefunden, als es beinahe zu spät war. Bouverie widmet seine Studie aber weniger dem Mann, an dem Hitler scheitern würde, sondern den Appeasern selbst, ihren Motiven, Beweggründen und Plänen von Anfang an.
Sie selbst und manche späteren Historiker haben versucht, ihre Nachgiebigkeit in Bezug auf Hitlerdeutschland zu rechtfertigen. Das Deutsche Reich brach sämtliche Verträge, trat aus dem Völkerbund aus, rüstete hemmungslos auf, schickte Soldaten und Bomber in den spanischen Bürgerkrieg, besetzte 1936 das entmilitarisierte Rheinland, 1938 das Sudetenland und Österreich und unterdrückte brutal die Juden und jede Opposition. All das ließen die Westmächte, die gegenüber der Weimarer Republik wenig Nachsicht gezeigt hatten, geschehen; im Münchner Abkommen 1938, einem Tag der Schande, opferten sie ihren eigenen Bündnispartner, die Tschechoslowakei; Chamberlain flog heim, von einer jubelnden Menge begrüßt, winkte er mit dem Papier des Vertrages und rief: „Frieden in unserer Zeit.“
Wie konnten die Demokratien, 1918 noch Sieger, so tief sinken? Großbritannien war nach dem Ersten Weltkrieg finanziell erschöpft und zutiefst kriegsmüde. Bouverie verzichtet auf jede Rechthaberei dessen, der das verheerende Ergebnis der Appeasement-Politik kennt und im Nachhinein Churchill recht gibt, „der nichts als Narrheit, Schwäche, Schande und Ruin darin sah“, wie Sebastian Haffner in seiner grandiosen Churchill-Biografie von 1967 schrieb. Aber gerade wegen seiner methodischen Gründlichkeit fällt Bouveries Urteil mindestens genauso vernichtend aus.
Wer sich während der späten Trump-Ära wunderte, wie massiv die Demokratie der USA von der Selbstzerstörung bedroht war, sollte dieses Buch lesen. Trump kommt darin nicht vor, wohl aber eine Demokratie, die britische, die erst den Kompass der Realität und politischen Vernunft und dann beinahe ihre Seele und ihre Freiheit verliert. Es sei, so das vernichtende, wenn auch mit britischem Understatement vorgebrachte Urteil Bouveries, „schwierig, für das Handeln der Appeasement-Befürworter und insbesondere für Neville Chamberlain mildernde Umstände in Anschlag zu bringen“. Sprich: Sie haben auf ganzer Linie versagt.
Sie verkannten, wie Rumbold es nannte, „den Charakter der Bestie“ Naziregime nicht nur vollständig, sie wollten ihn auch verkennen. Es war nicht wahr, was nicht wahr sein durfte. Sie taten alles, um Warner und Mahner wie Churchill und Rumbold zu diskreditieren; die Tories wollten Churchill nach dem Münchner Abkommen aus dem Unterhaus drängen, und die BBC, treues Sprachrohr der Appeaser, weigerte sich noch kurz nach Kriegsbeginn 1939, Sir Horace Rumbold im Radio sprechen zu lassen, da er ein zu einseitiger „Nazi-Gegner“ sei.
Die tschechische Tragödie hat schon Churchill in seiner legendären, seinerzeit als skandalös zurückgewiesen Unterhausrede in die passenden Worte gefasst. Die Tschechen hätten nichts als Not und Elend für ihr Bündnis mit den Demokratien erhalten: „Stumm, voller Trauer, verlassen, gebrochen, versinkt die Tschechoslowakei in der Finsternis.“ Die Tschechen, die deutschen Exilanten dort, die demokratisch eingestellten Sudetendeutschen, sie alle würden unter Hitlers Joch geraten, mit schrecklichen Folgen. Im März 1939 besetzte die Wehrmacht das tschechische Kernland, für das Chamberlains Regierung eine Schutzgarantie ausgesprochen hatte. Davon wollte der Premierminister nun nichts mehr wissen. Die deutschen Truppen stiefelten bereits durch Prag, und Chamberlain ließ mitteilen, die Garantie sei leider erloschen, da der Staat, dem sie galt, ja leider nicht bestehe. Auch hier sind Parallelen zur Gegenwart, wie Trumps Verrat an den Kurden Syriens, nicht zu übersehen. Trump machte sich noch lustig über die Kurden, die Appeaser ergingen sich in rassistischen Bemerkungen über die Tschechen.
Statt sich mit der Sowjetunion, dem eigentlichen Ziel der deutschen Eroberungsgelüste, zu vergleichen, hofften die Appeaser mehr oder weniger offen, Hitlers Reich möge den Kommunismus in Schach halten. Bouverie widerspricht der beliebten These, 1938 seien die Briten schon zu schwach gewesen, um die Wehrmacht noch zu stoppen: Sie waren schlecht gerüstet, die Deutschen waren aber auch „noch nicht in der Lage, einen großen Krieg zu führen“. Sie hatten es aber geschafft, dies den Westmächten vorzugaukeln.
Es ist großartiges, kluges, übrigens auch mit der stilistischen Lässigkeit und Brillanz angelsächsischer Historiker geschriebenes Buch, eine beklemmende und zugleich lohnende Lektüre. Demokratien, so ist Bouveries Lehre, müssen sich immer neu erfinden, rückversichern, bewähren; sie sind nicht davor gefeit, durch Irrlehren in ihren eigenen Untergang zu steuern.
Im Mittelpunkt stehen
die Motive, Beweggründe
und Pläne der Appeaser
Das Urteil über Chamberlain
fällt vernichtend aus – und das
nicht nur in der Rückschau
Tim Bouverie:
Mit Hitler reden.
Der Weg vom Appeasement zum Zweiten Weltkrieg. Aus dem Englischen von Karin Hielscher. Rowohlt-Verlag, Hamburg 2021.
704 Seiten, 28 Euro.
Freundlicher Gruß an den baldigen Feind: Arthur Neville Chamberlain 1938 auf dem Münchner Flughafen Oberwiesenfeld. Er wird von Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop (ganz links) begrüßt.
Foto: Scherl / SZ Photo
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.04.2021Kennen Sie Anthony Edens Schneider?
Tim Bouverie erzählt Englands Weg in den Zweiten Weltkrieg als detailreiche Geschichte der hohen britischen Diplomatie
Es gibt Geschichten, die dauerhaft aktuell sind. Die kanonische Erzählung vom britischen Weg in den Zweiten Weltkrieg ist eine davon. Sie kennt Helden und Schurken, und sie hat eine klare Moral: Wer mit aggressiven Diktatoren Kompromisse eingeht, wird sich trotzdem früher oder später unterwerfen oder kämpfen müssen; er hat also nichts gewonnen, aber viel moralischen Kredit verspielt. Diese Kritik am Irrweg der "Beschwichtigung" Hitlers durch Neville Chamberlain wurde bereits im Juli 1940, kurz nach der Evakuierung von Dünkirchen, in dem Bestseller "Guilty Men" formuliert. Dabei ging es, wie bereits in der britischen Diskussion über den Ersten Weltkrieg, auch um die Verantwortung der für nur begrenzt kompetent gehaltenen Eliten für eine Misere, die die gesamte Bevölkerung ausbaden musste.
Mit wachsendem Abstand zum Krieg und zunehmender Forschung wurde das Bild freilich komplizierter, die Geschichte weniger eindeutig. War es wirklich so einfach, Politiker, die sich primär dem Ziel der Friedenssicherung verschrieben hatten, zu verdammen? Waren es nicht gerade die Jahre der Beschwichtigung und die zahlreichen Vertragsbrüche Hitlers, die es erlaubten, hinreichend aufgerüstet und mit der Unterstützung des ganzen Empire (außer Irlands) den Krieg fortzusetzen, als Großbritannien 1940 ohne weitere Verbündete dastand? War es bereits in den 1930er Jahren so einfach, sich zwischen Mussolini, Stalin und Hitler als möglichem Bündnispartner für einen Krieg in Europa zu entscheiden - wo selbst Churchill in dieser Frage lange keine klare Position einnahm? Wusste man immer schon, ob man zur See, in der Luft oder zu Lande aufrüsten sollte, ob der Hauptgegner also Deutschland, Japan, Italien oder doch die Sowjetunion sein würde?
Vor rund zwanzig Jahren hat John Lukacs in "Fünf Tage in London" die Entscheidung zwischen Kompromiss und Konfrontation auf den 24. bis 28. Mai 1940 zugespitzt, als in London ein letztes Verhandlungsangebot erwogen und mit dem Wechsel von Chamberlain zu Churchill verworfen wurde. Tim Bouveries Buch nimmt wieder den Zeitraum ab 1933 in den Blick. Dabei stehen weniger neue Entdeckungen im Mittelpunkt, denn die zahlreichen Archivfunde beinhalten vor allem sprechende Details, als die Kunst der Erzählung. Sie konzentriert sich auf Wendepunkte, an denen eine Intervention denkbar und vielleicht aussichtsreich gewesen wäre. Diese liegen anfangs, als das Buch auch die Wahrnehmung des "Dritten Reichs" vor allem in konservativen britischen Kreisen diskutiert, weiter auseinander, verdichten sich aber nach der Rheinlandbesetzung und dem "Anschluss" Österreichs zusehends; das Buch endet mit der Ernennung Winston Churchills zum Premierminister. Bouverie erzählt eine Geschichte der britischen hohen Diplomatie; andere Akteure betreten die Bühne nur als Verhandlungspartner, Objekt der Beobachtung oder Beurteilung.
Der Text ist dicht recherchiert, anschaulich und quellennah. So erfährt man, mit welchen Anreizen man glaubte, die andere Seite milde stimmen zu können: Ländliche Jagdpartien schienen für Göring geeignet, Hitler erhoffte sich von einer Rheinschifffahrt mit Chamberlain einen Durchbruch (beides fand nicht statt). Tischsitten spielen eine wichtige Rolle (etwa Görings Vorliebe für besonders blutiges Rindfleisch), ebenso Kleidung und Aussehen - der Schneider Anthony Edens ist einer der geheimen Protagonisten des Buches. Man erfährt von der großen Resonanz des Münchener Abkommens, nach dem Chamberlain mit Geschenken überschüttet wurde, die von Angelruten und Ködern bis zu einem Haus an einem Forellenbach in Frankreich reichten, für das immerhin eine halbe Million Francs gesammelt wurde (dieses Geschenk wurde aber abgelehnt).
Das hat das Potential zu einer Alltags- oder Kulturgeschichte der Diplomatie, die aber nicht systematisch entfaltet wird; sehr deutlich werden dagegen die engen Beziehungen zwischen dem kleinen Kreis englischer Politiker, die sich oftmals seit der Schulzeit kannten, schätzten oder verachteten, die sich in ihren schlossähnlichen "Landhäusern" trafen und für die die Grenzen zwischen offizieller Diplomatie und privaten Initiativen oft fließend waren. Zumindest in Bouveries Wahrnehmung waren ihnen das Fischen, Jagen und Feiern allzu oft wichtiger als die Auseinandersetzung mit dem Gegner, und sei es auch nur durch Lektüre von "Mein Kampf". Entsprechend kennt auch diese Geschichte Weitsichtige (vor allem Churchill) und Fehlgeleitete, und sie endet ganz klassisch: mit dem Kapitel "Schuldige Männer".
Die Anti-Appeasement-Erzählung wird in diesem Buch hervorragend aktualisiert; trotzdem oder vielleicht gerade deswegen wirkt es etwas aus der Zeit gefallen. Das liegt zum einen daran, dass die Perspektive eine im Wesentlichen eurozentrische bleibt. Zwar werden die Vorgänge in der Mandschurei oder in Äthiopien erwähnt, auch die Rolle der Vereinigten Staaten für die Formulierung britischer Positionen gegenüber dem NS-Regime gerät gelegentlich in den Blick. Aber was die Existenz des Empire und dessen Probleme etwa in Indien für Handlungsoptionen (und die Bewertung der Protagonisten des Buches, man denke etwa an die aktuell heftigen Debatten über Winston Churchill als "Imperialist") bedeutet haben könnte, bleibt offen. Zum anderen transportiert die Übersetzung, die insgesamt sehr gut gelungen ist, auch wenn sie im Nachwort aus der beeindruckenden London Library (F.A.Z. vom 22. März) eine (beliebige) Londoner Bibliothek macht, das Werk in einen anderen Debattenkontext, in dem der ausschließliche Fokus auf die britische politische Elite weniger unmittelbar einleuchtet - zumal man die reiche deutschsprachige Forschung zum Thema in der Bibliographie der Übersetzung auch stärker vermissen dürfte als im Original.
ANDREAS FAHRMEIR
Tim Bouverie: "Mit Hitler reden". Der Weg vom Appeasement zum Zweiten Weltkrieg.
Aus dem Englischen von Karin Hielscher. Rowohlt Verlag, Hamburg 2021. 704 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Tim Bouverie erzählt Englands Weg in den Zweiten Weltkrieg als detailreiche Geschichte der hohen britischen Diplomatie
Es gibt Geschichten, die dauerhaft aktuell sind. Die kanonische Erzählung vom britischen Weg in den Zweiten Weltkrieg ist eine davon. Sie kennt Helden und Schurken, und sie hat eine klare Moral: Wer mit aggressiven Diktatoren Kompromisse eingeht, wird sich trotzdem früher oder später unterwerfen oder kämpfen müssen; er hat also nichts gewonnen, aber viel moralischen Kredit verspielt. Diese Kritik am Irrweg der "Beschwichtigung" Hitlers durch Neville Chamberlain wurde bereits im Juli 1940, kurz nach der Evakuierung von Dünkirchen, in dem Bestseller "Guilty Men" formuliert. Dabei ging es, wie bereits in der britischen Diskussion über den Ersten Weltkrieg, auch um die Verantwortung der für nur begrenzt kompetent gehaltenen Eliten für eine Misere, die die gesamte Bevölkerung ausbaden musste.
Mit wachsendem Abstand zum Krieg und zunehmender Forschung wurde das Bild freilich komplizierter, die Geschichte weniger eindeutig. War es wirklich so einfach, Politiker, die sich primär dem Ziel der Friedenssicherung verschrieben hatten, zu verdammen? Waren es nicht gerade die Jahre der Beschwichtigung und die zahlreichen Vertragsbrüche Hitlers, die es erlaubten, hinreichend aufgerüstet und mit der Unterstützung des ganzen Empire (außer Irlands) den Krieg fortzusetzen, als Großbritannien 1940 ohne weitere Verbündete dastand? War es bereits in den 1930er Jahren so einfach, sich zwischen Mussolini, Stalin und Hitler als möglichem Bündnispartner für einen Krieg in Europa zu entscheiden - wo selbst Churchill in dieser Frage lange keine klare Position einnahm? Wusste man immer schon, ob man zur See, in der Luft oder zu Lande aufrüsten sollte, ob der Hauptgegner also Deutschland, Japan, Italien oder doch die Sowjetunion sein würde?
Vor rund zwanzig Jahren hat John Lukacs in "Fünf Tage in London" die Entscheidung zwischen Kompromiss und Konfrontation auf den 24. bis 28. Mai 1940 zugespitzt, als in London ein letztes Verhandlungsangebot erwogen und mit dem Wechsel von Chamberlain zu Churchill verworfen wurde. Tim Bouveries Buch nimmt wieder den Zeitraum ab 1933 in den Blick. Dabei stehen weniger neue Entdeckungen im Mittelpunkt, denn die zahlreichen Archivfunde beinhalten vor allem sprechende Details, als die Kunst der Erzählung. Sie konzentriert sich auf Wendepunkte, an denen eine Intervention denkbar und vielleicht aussichtsreich gewesen wäre. Diese liegen anfangs, als das Buch auch die Wahrnehmung des "Dritten Reichs" vor allem in konservativen britischen Kreisen diskutiert, weiter auseinander, verdichten sich aber nach der Rheinlandbesetzung und dem "Anschluss" Österreichs zusehends; das Buch endet mit der Ernennung Winston Churchills zum Premierminister. Bouverie erzählt eine Geschichte der britischen hohen Diplomatie; andere Akteure betreten die Bühne nur als Verhandlungspartner, Objekt der Beobachtung oder Beurteilung.
Der Text ist dicht recherchiert, anschaulich und quellennah. So erfährt man, mit welchen Anreizen man glaubte, die andere Seite milde stimmen zu können: Ländliche Jagdpartien schienen für Göring geeignet, Hitler erhoffte sich von einer Rheinschifffahrt mit Chamberlain einen Durchbruch (beides fand nicht statt). Tischsitten spielen eine wichtige Rolle (etwa Görings Vorliebe für besonders blutiges Rindfleisch), ebenso Kleidung und Aussehen - der Schneider Anthony Edens ist einer der geheimen Protagonisten des Buches. Man erfährt von der großen Resonanz des Münchener Abkommens, nach dem Chamberlain mit Geschenken überschüttet wurde, die von Angelruten und Ködern bis zu einem Haus an einem Forellenbach in Frankreich reichten, für das immerhin eine halbe Million Francs gesammelt wurde (dieses Geschenk wurde aber abgelehnt).
Das hat das Potential zu einer Alltags- oder Kulturgeschichte der Diplomatie, die aber nicht systematisch entfaltet wird; sehr deutlich werden dagegen die engen Beziehungen zwischen dem kleinen Kreis englischer Politiker, die sich oftmals seit der Schulzeit kannten, schätzten oder verachteten, die sich in ihren schlossähnlichen "Landhäusern" trafen und für die die Grenzen zwischen offizieller Diplomatie und privaten Initiativen oft fließend waren. Zumindest in Bouveries Wahrnehmung waren ihnen das Fischen, Jagen und Feiern allzu oft wichtiger als die Auseinandersetzung mit dem Gegner, und sei es auch nur durch Lektüre von "Mein Kampf". Entsprechend kennt auch diese Geschichte Weitsichtige (vor allem Churchill) und Fehlgeleitete, und sie endet ganz klassisch: mit dem Kapitel "Schuldige Männer".
Die Anti-Appeasement-Erzählung wird in diesem Buch hervorragend aktualisiert; trotzdem oder vielleicht gerade deswegen wirkt es etwas aus der Zeit gefallen. Das liegt zum einen daran, dass die Perspektive eine im Wesentlichen eurozentrische bleibt. Zwar werden die Vorgänge in der Mandschurei oder in Äthiopien erwähnt, auch die Rolle der Vereinigten Staaten für die Formulierung britischer Positionen gegenüber dem NS-Regime gerät gelegentlich in den Blick. Aber was die Existenz des Empire und dessen Probleme etwa in Indien für Handlungsoptionen (und die Bewertung der Protagonisten des Buches, man denke etwa an die aktuell heftigen Debatten über Winston Churchill als "Imperialist") bedeutet haben könnte, bleibt offen. Zum anderen transportiert die Übersetzung, die insgesamt sehr gut gelungen ist, auch wenn sie im Nachwort aus der beeindruckenden London Library (F.A.Z. vom 22. März) eine (beliebige) Londoner Bibliothek macht, das Werk in einen anderen Debattenkontext, in dem der ausschließliche Fokus auf die britische politische Elite weniger unmittelbar einleuchtet - zumal man die reiche deutschsprachige Forschung zum Thema in der Bibliographie der Übersetzung auch stärker vermissen dürfte als im Original.
ANDREAS FAHRMEIR
Tim Bouverie: "Mit Hitler reden". Der Weg vom Appeasement zum Zweiten Weltkrieg.
Aus dem Englischen von Karin Hielscher. Rowohlt Verlag, Hamburg 2021. 704 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Es ist großartiges, kluges, übrigens auch mit der stilistischen Lässigkeit und Brillanz angelsächsischer Historiker geschriebenes Buch, eine beklemmende und zugleich lohnende Lektüre. Joachim Käppner Süddeutsche Zeitung 20210215