Was halten palästinensische Studenten von Platon? Was sagt die griechische Philosophie Bewohnern brasilianischer Slums oder jungen Muslimen in Indonesien. Carlos Fraenkel ist an Brennpunkte politischer, religiöser und sozialer Konflikte gereist, um dort Grundsatzfragen zu diskutieren: Was heißt Gerechtigkeit? Gibt es eine Rechtfertigung für Gewalt? Steht über dem menschlichen ein göttliches Recht? Die Philosophie kann die Gegensätze zwischen Religionen und Kulturen nicht aufheben. Aber sie zeigt uns, wie wir Positionen begründen und Argumente austauschen können - was in einer Welt der Sprachlosigkeit und Gewalt viel bedeutet. Ein ungewöhnliches Buch und ein großartiger Beweis für den praktischen Nutzen der Philosophie.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.02.2016Anstelle von Gewissheiten
Carlos Fraenkel setzt auf philosophische Praxis
Dies ist ein wichtiges philosophisches Buch. Obwohl es keine bestechenden Argumente oder Thesen präsentiert. Die Diskussionen, von denen der Autor in ihm berichtet, haben eher etwas von der rührenden Naivität eines Proseminars. Wie können wir sicher sein, dass wir uns auch bei dem, wovon wir felsenfest überzeugt sind, nicht irren? Ist die Erkenntnis des Wahren der Sinn des Lebens? Doch die Umstände dieser Lehrveranstaltungen und der Anspruch, den der Autor mit ihnen verfolgt, lassen ein wohlmeinendes Schmunzeln von oben herab gar nicht erst aufkommen.
Carlos Fraenkel, in Brasilien geborener, in Berlin und Jerusalem ausgebildeter und an der kanadischen McGill University lehrender Philosoph und Essayist, hat Klassiker von Platon über Maimonides und Al-Gazali bis Spinoza und Nietzsche eingepackt und mit ihnen Seminare an der palästinensischen Universität in Ost-Jerusalem, einer islamischen Universität in Indonesien, bei chassidischen Juden in New York, Schülern in Salvador da Bahia und bei den Mohawk, einem Indianerstamm in Nordamerika, gehalten.
Mit der Auswahl dieser Orte hat Fraenkel bewusst Konflikte gesammelt: der Islam und der Westen, Orthodoxie und Moderne, soziale Spaltung, Kolonialismus. Und er lehrt nicht Philosophiegeschichte, sondern nutzt die alten Texte, um die Diskussion auf die Gegenwart zu lenken: Kann man Gewalt rechtfertigen? Was ist soziale Gerechtigkeit? Macht Frömmigkeit sich bezahlt? Wer soll uns regieren? "Ich behaupte", schreibt Fraenkel, "dass man mit Hilfe der Philosophie diese Fragen klarer artikulieren und die Antworten genauer prüfen kann."
Fraenkel will eine philosophisch geschulte Debattenkultur befördern, in der Einsichten höher geschätzt werden als der Sieg in der Redeschlacht. Und in der die Irritation durch Andersdenkende als Chance, ja als Bedingung für Erkenntnis wahrgenommen wird, nicht als Bedrohung. Philosophie gehört für Fraenkel nicht nur in die Universitäten, sie sollte Teil des privaten und des öffentlichen Lebens sein, damit wir mit Meinungsvielfalt und Meinungsstreit besser umgehen lernen. Stimmt, denkt der Leser, so war das Unternehmen doch einmal gedacht, jenseits akademischer Debatten.
Also liest Fraenkel mit seinen Studenten in Jerusalem antike Autoren in mittelalterlichen arabischen Übersetzungen, weil die in seinen Augen besser sind als die modernen. Er versucht, ihnen den sokratischen Gedanken des Hinterfragens aller Gewissheiten nahezubringen, verweist mit Herodot darauf, dass schon die alten Griechen über die Vielfalt der Sitten der Völker staunten, und schließt die Frage nach dem richtigen Leben und der Vertretbarkeit von Wahrheitsansprüchen an. Natürlich sei die sunnitische Interpretation des Islams die wahre, denn ihr hingen die meisten Muslime an, versichert eine Studentin. Aber entscheidet die Mehrheit, was wahr ist? Es gehe nicht ums Rechthaben, betont Fraenkel ein ums andere Mal, es gehe gegen monolithische Interpretationen, wie sie etwa der Wahhabismus im Islam durchsetzen will. Es gehe um das Verhältnis von Religion und Vernunft und das alte Ideal des besonnenen, nach eigener Einsicht handelnden Menschen.
Ähnlich, wenn auch mit anderen Schwerpunkten, verlaufen die übrigen Seminare: Bei orthodoxen Juden in New York steht das gute Leben zwischen Selbstverwirklichung und sozialer Bindung im Mittelpunkt, in Brasilien geht es vor allem um den allgegenwärtigen Fatalismus, bei den Mohawk kreisen die Debatten um Identität und politische Emanzipation.
Ist der erste Teil des Buches ein philosophischer Reisebericht, widmet sich der zweite dem theoretischen Fundament seines Unternehmens, das der Autor Fallibilismus nennt: die Einsicht, dass alle unsere Überzeugungen falsch sein könnten. Alle außer derjenigen, dass eine Debattenkultur mit kritischer Prüfung unserer Vorstellungen eine gute Sache ist und zwei Dinge für sie nötig sind: die Erfahrung anderer Meinungen, die uns aus intellektueller Bequemlichkeit reißt, und philosophische Techniken. Auch er selbst geriet, wie er schreibt, manches Mal ins Schwimmen, wenn die Studierenden seine so selbstverständlich geglaubte Sicht der Welt in Frage stellten.
Fraenkel gibt sich überzeugt: Man kann Muslim, Jude, Mohawk, Atheist oder was auch immer sein und trotzdem dem Ansinnen folgen, auf andere zu hören, um eigene Irrtümer und voreilige Gewissheiten zu korrigieren. Der Philosoph Michael Walzer bezeichnet Carlos Fraenkel in seinem Nachwort als Abenteurer. Ein wenig verrückt muss wohl in der Tat sein, wer heute loszieht und mit Philosophie die Welt retten will. Aber einen Versuch ist es wert.
MANUELA LENZEN
Carlos Fraenkel: "Mit Platon in Palästina". Vom Nutzen der Philosophie in einer
zerrissenen Welt.
Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. Carl Hanser Verlag, München 2015. 256 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Carlos Fraenkel setzt auf philosophische Praxis
Dies ist ein wichtiges philosophisches Buch. Obwohl es keine bestechenden Argumente oder Thesen präsentiert. Die Diskussionen, von denen der Autor in ihm berichtet, haben eher etwas von der rührenden Naivität eines Proseminars. Wie können wir sicher sein, dass wir uns auch bei dem, wovon wir felsenfest überzeugt sind, nicht irren? Ist die Erkenntnis des Wahren der Sinn des Lebens? Doch die Umstände dieser Lehrveranstaltungen und der Anspruch, den der Autor mit ihnen verfolgt, lassen ein wohlmeinendes Schmunzeln von oben herab gar nicht erst aufkommen.
Carlos Fraenkel, in Brasilien geborener, in Berlin und Jerusalem ausgebildeter und an der kanadischen McGill University lehrender Philosoph und Essayist, hat Klassiker von Platon über Maimonides und Al-Gazali bis Spinoza und Nietzsche eingepackt und mit ihnen Seminare an der palästinensischen Universität in Ost-Jerusalem, einer islamischen Universität in Indonesien, bei chassidischen Juden in New York, Schülern in Salvador da Bahia und bei den Mohawk, einem Indianerstamm in Nordamerika, gehalten.
Mit der Auswahl dieser Orte hat Fraenkel bewusst Konflikte gesammelt: der Islam und der Westen, Orthodoxie und Moderne, soziale Spaltung, Kolonialismus. Und er lehrt nicht Philosophiegeschichte, sondern nutzt die alten Texte, um die Diskussion auf die Gegenwart zu lenken: Kann man Gewalt rechtfertigen? Was ist soziale Gerechtigkeit? Macht Frömmigkeit sich bezahlt? Wer soll uns regieren? "Ich behaupte", schreibt Fraenkel, "dass man mit Hilfe der Philosophie diese Fragen klarer artikulieren und die Antworten genauer prüfen kann."
Fraenkel will eine philosophisch geschulte Debattenkultur befördern, in der Einsichten höher geschätzt werden als der Sieg in der Redeschlacht. Und in der die Irritation durch Andersdenkende als Chance, ja als Bedingung für Erkenntnis wahrgenommen wird, nicht als Bedrohung. Philosophie gehört für Fraenkel nicht nur in die Universitäten, sie sollte Teil des privaten und des öffentlichen Lebens sein, damit wir mit Meinungsvielfalt und Meinungsstreit besser umgehen lernen. Stimmt, denkt der Leser, so war das Unternehmen doch einmal gedacht, jenseits akademischer Debatten.
Also liest Fraenkel mit seinen Studenten in Jerusalem antike Autoren in mittelalterlichen arabischen Übersetzungen, weil die in seinen Augen besser sind als die modernen. Er versucht, ihnen den sokratischen Gedanken des Hinterfragens aller Gewissheiten nahezubringen, verweist mit Herodot darauf, dass schon die alten Griechen über die Vielfalt der Sitten der Völker staunten, und schließt die Frage nach dem richtigen Leben und der Vertretbarkeit von Wahrheitsansprüchen an. Natürlich sei die sunnitische Interpretation des Islams die wahre, denn ihr hingen die meisten Muslime an, versichert eine Studentin. Aber entscheidet die Mehrheit, was wahr ist? Es gehe nicht ums Rechthaben, betont Fraenkel ein ums andere Mal, es gehe gegen monolithische Interpretationen, wie sie etwa der Wahhabismus im Islam durchsetzen will. Es gehe um das Verhältnis von Religion und Vernunft und das alte Ideal des besonnenen, nach eigener Einsicht handelnden Menschen.
Ähnlich, wenn auch mit anderen Schwerpunkten, verlaufen die übrigen Seminare: Bei orthodoxen Juden in New York steht das gute Leben zwischen Selbstverwirklichung und sozialer Bindung im Mittelpunkt, in Brasilien geht es vor allem um den allgegenwärtigen Fatalismus, bei den Mohawk kreisen die Debatten um Identität und politische Emanzipation.
Ist der erste Teil des Buches ein philosophischer Reisebericht, widmet sich der zweite dem theoretischen Fundament seines Unternehmens, das der Autor Fallibilismus nennt: die Einsicht, dass alle unsere Überzeugungen falsch sein könnten. Alle außer derjenigen, dass eine Debattenkultur mit kritischer Prüfung unserer Vorstellungen eine gute Sache ist und zwei Dinge für sie nötig sind: die Erfahrung anderer Meinungen, die uns aus intellektueller Bequemlichkeit reißt, und philosophische Techniken. Auch er selbst geriet, wie er schreibt, manches Mal ins Schwimmen, wenn die Studierenden seine so selbstverständlich geglaubte Sicht der Welt in Frage stellten.
Fraenkel gibt sich überzeugt: Man kann Muslim, Jude, Mohawk, Atheist oder was auch immer sein und trotzdem dem Ansinnen folgen, auf andere zu hören, um eigene Irrtümer und voreilige Gewissheiten zu korrigieren. Der Philosoph Michael Walzer bezeichnet Carlos Fraenkel in seinem Nachwort als Abenteurer. Ein wenig verrückt muss wohl in der Tat sein, wer heute loszieht und mit Philosophie die Welt retten will. Aber einen Versuch ist es wert.
MANUELA LENZEN
Carlos Fraenkel: "Mit Platon in Palästina". Vom Nutzen der Philosophie in einer
zerrissenen Welt.
Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. Carl Hanser Verlag, München 2015. 256 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Voller Sympathie berichtet Uwe Justus Wenzel von Carlos Fraenkels Projekt, die Philosophie an die Brennpunkte der Weltpolitik zu tragen: Platon zu palästinensische Studenten in Jerusalem, Aristoteles nach Indonesien, die Hermeneutik zu chassidischen Juden in New York, Fragen der Gerechtigkeit zu dem Mohawk in Akwesasne. Philosophie, das macht der Rezensent klar, ist für Fraenkel nicht die Verkündung von Gewissheiten, sondern die Liebe und die Suche nach Wahrheit, und zwar am liebsten am Kreuzungspuntk von Religion und Politik. Wenzel betont auch, dass Fraenkel ein Verfechter der Debattenkultur ist, weswegen er jede Indifferenz ablehnt, die er im Relativismus des Multikulturalismus ebenso ausmacht wie im Laizismus.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Ein sehr aktuelles Buch, das in dialogischer Form belegt, dass der Rückzug auf Unhinterfragbares keine Basis darstellen kann für eine Gemeinschaft, deren Codes kommunikativ verhandelt werden." Guido Kalberer, Tages-Anzeiger, 14.05.16
"Das Buch ist lehrreich und unterhaltsam." Professor Volker Gerhardt, Forschung & Lehre, 05.05.16
"Fraenkel liefert mit seinem Werk ein engagiertes [...] Plädoyer für geistige Offenheit und differenzierte Wahrheitssuche." Aurel Jörg, SRF 2 Kultur, 28.04.16
"Ein wunderbares Beispiel für das, was man auch philosophische Praxis nennen könnte." Konrad Paul Liessmann, buchreport express, 01.04.16
"...ein äusserst lesenswertes Buch." Uwe-Justus Wenzel, Neue Zürcher Zeitung, 08.03.16
"Dies ist ein wichtiges philosophisches Buch. (...) Ein wenig verrückt muss wohl in der Tat sein, wer heute loszieht und mit Philosophie die Welt retten will. Aber einen Versuch ist es wert." Manuela Lenzen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.02.16
"Carlos Fraenkel liefert ein beherztes Plädoyer für den Nutzen der Philosophie als Instrument der Verständigung über kulturelle und religiöse Differenzen hinweg." Catherine Newmark, Deutschlandradio Kultur, 22.02.16
"Dieses Buch liest man mit Begeisterung." Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon, 10.03.16
"Das Buch ist lehrreich und unterhaltsam." Professor Volker Gerhardt, Forschung & Lehre, 05.05.16
"Fraenkel liefert mit seinem Werk ein engagiertes [...] Plädoyer für geistige Offenheit und differenzierte Wahrheitssuche." Aurel Jörg, SRF 2 Kultur, 28.04.16
"Ein wunderbares Beispiel für das, was man auch philosophische Praxis nennen könnte." Konrad Paul Liessmann, buchreport express, 01.04.16
"...ein äusserst lesenswertes Buch." Uwe-Justus Wenzel, Neue Zürcher Zeitung, 08.03.16
"Dies ist ein wichtiges philosophisches Buch. (...) Ein wenig verrückt muss wohl in der Tat sein, wer heute loszieht und mit Philosophie die Welt retten will. Aber einen Versuch ist es wert." Manuela Lenzen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.02.16
"Carlos Fraenkel liefert ein beherztes Plädoyer für den Nutzen der Philosophie als Instrument der Verständigung über kulturelle und religiöse Differenzen hinweg." Catherine Newmark, Deutschlandradio Kultur, 22.02.16
"Dieses Buch liest man mit Begeisterung." Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon, 10.03.16