Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.02.2007Sternchen und Herbst
Der Dichter war erschöpft von einer langen Nachtfahrt im Zug und geruhte nicht zu schwärmen. Venedig habe "etwas von der Trostlosigkeit eines ungeheizten Zimmers, in dem man sich zu wärmen hoffte", schrieb Rainer Maria Rilke zu Beginn seines ersten längeren Aufenthalts in der Stadt im Jahre 1907. Dann jedoch verwandelte sich sein Unmut in eine lebenslange Liebe. Nun könnte man glauben, dass die Serenissima von damals nichts mehr mit der Touristenhochburg von heute zu tun hat. Dass das nicht stimmt, ja dass sich die Stadt heute noch lohnend mit Rilke entdecken lässt, beweist indes ein literarischer Reiseführer. Birgit Haustedt führt "Mit Rilke durch Venedig" und zeichnet dabei ein treffendes Bild der Stadt und eines ihrer größten Verehrer. Rilke ist ein guter Cicerone, denn seine Leidenschaft für die Stadt war keineswegs blindwütig-verträumt. Mit Ausdauer widmete er sich der Stadt, arbeitete sich durch Archive und Bibliotheken, studierte ihre Geschichte und Kultur. Rilkes Interesse galt auch Orten abseits der künstlerischen Zentren. Als vermutlich erster Schriftsteller überhaupt machte er das Getto, das älteste der Welt, zu einem Schauplatz literarischen Geschehens. Auf elf von der Autorin kundig zusammengestellten Spaziergängen kann der Leser Venedig durch die Augen Rilkes sehen - dabei aber auch - und das ist äußerst amüsant - einiges über den sensiblen Reisenden erfahren. Der logierte in der komfortablen Wohnung der Fürstin Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe mit Blick auf den Canal Grande, in die er "herzklopfig" vor Freude einzog; ließ sich von der schönen Venezianerin Mimi, die er bald sitzenließ, inspirieren; flanierte durch Kunstgalerien und Gärten; mietete ein Badehäuschen am Lido und schimpfte über die Touristen sowie über den Baedeker mit seinen "rechthaberischen Sternchen". Statt sich den Urteilen von Kunstgeschichtsprofessoren zu unterwerfen, grollte er, sollten die Besucher sich lieber der "Fülle von Freuden" hingeben, die ihnen "reich und reif in den Schoß fallen". Von Rilke reisen lernen: auch das kann man mit diesem Buch.
vero.
"Mit Rilke durch Venedig. Literarische Spaziergänge, herausgegeben von Birgit Haustedt. Insel Taschenbuch, Frankfurt 2006. 230 Seiten, zahlreiche Fotografien. Broschiert, neun Euro. ISBN 3458348743.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Dichter war erschöpft von einer langen Nachtfahrt im Zug und geruhte nicht zu schwärmen. Venedig habe "etwas von der Trostlosigkeit eines ungeheizten Zimmers, in dem man sich zu wärmen hoffte", schrieb Rainer Maria Rilke zu Beginn seines ersten längeren Aufenthalts in der Stadt im Jahre 1907. Dann jedoch verwandelte sich sein Unmut in eine lebenslange Liebe. Nun könnte man glauben, dass die Serenissima von damals nichts mehr mit der Touristenhochburg von heute zu tun hat. Dass das nicht stimmt, ja dass sich die Stadt heute noch lohnend mit Rilke entdecken lässt, beweist indes ein literarischer Reiseführer. Birgit Haustedt führt "Mit Rilke durch Venedig" und zeichnet dabei ein treffendes Bild der Stadt und eines ihrer größten Verehrer. Rilke ist ein guter Cicerone, denn seine Leidenschaft für die Stadt war keineswegs blindwütig-verträumt. Mit Ausdauer widmete er sich der Stadt, arbeitete sich durch Archive und Bibliotheken, studierte ihre Geschichte und Kultur. Rilkes Interesse galt auch Orten abseits der künstlerischen Zentren. Als vermutlich erster Schriftsteller überhaupt machte er das Getto, das älteste der Welt, zu einem Schauplatz literarischen Geschehens. Auf elf von der Autorin kundig zusammengestellten Spaziergängen kann der Leser Venedig durch die Augen Rilkes sehen - dabei aber auch - und das ist äußerst amüsant - einiges über den sensiblen Reisenden erfahren. Der logierte in der komfortablen Wohnung der Fürstin Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe mit Blick auf den Canal Grande, in die er "herzklopfig" vor Freude einzog; ließ sich von der schönen Venezianerin Mimi, die er bald sitzenließ, inspirieren; flanierte durch Kunstgalerien und Gärten; mietete ein Badehäuschen am Lido und schimpfte über die Touristen sowie über den Baedeker mit seinen "rechthaberischen Sternchen". Statt sich den Urteilen von Kunstgeschichtsprofessoren zu unterwerfen, grollte er, sollten die Besucher sich lieber der "Fülle von Freuden" hingeben, die ihnen "reich und reif in den Schoß fallen". Von Rilke reisen lernen: auch das kann man mit diesem Buch.
vero.
"Mit Rilke durch Venedig. Literarische Spaziergänge, herausgegeben von Birgit Haustedt. Insel Taschenbuch, Frankfurt 2006. 230 Seiten, zahlreiche Fotografien. Broschiert, neun Euro. ISBN 3458348743.
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