Einst hielt es die Philosophie für ihre vorrangige Aufgabe, Menschen zu einem bewußten Verhältnis zu sich und ihrem Leben anzuleiten um auch zu einem angemessenen Umgang mit anderen in der Lage zu sein. Die moderne Philosophie geht dagegen zwar systematisch vom Subjekt aus, führt dieses in praktischer Hinsicht aber gerade nicht mehr zu sich selbst zurück, so, als könne nur der Umgang mit anderen ein seriöser Gegenstand der Ethik sein. Heute erscheint das Selbst als größte Schwachstelle der modernen Gesellschaft.
"Mit sich selbst befreundet sein", davon sprach schon Aristoteles. "Lebenskunst im Umgang mit sich selbst": Das ist die Tradition Senecas, Montaignes, Nietzsches und Foucaults. An diese Tradition knüpft Schmid an und schreibt vom Umgang mit sich selbst und wie er erlernt werden kann, ausgehend von der existenziellen Erfahrung der Angst und der möglichen Antwort darauf.
"Mit sich selbst befreundet sein", davon sprach schon Aristoteles. "Lebenskunst im Umgang mit sich selbst": Das ist die Tradition Senecas, Montaignes, Nietzsches und Foucaults. An diese Tradition knüpft Schmid an und schreibt vom Umgang mit sich selbst und wie er erlernt werden kann, ausgehend von der existenziellen Erfahrung der Angst und der möglichen Antwort darauf.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.08.2004Schön ist es mit dem Kernselbst nicht
Dieses Buch ersetzt ein Leben: Wilhelm Schmid löffelt die Suppe aus, die wir uns einbrocken
Diogenes saß in der Tonne. Wilhelm Schmid sitzt in der Sauna. Er sagt: Das Selbst soll sich selbst ein guter Freund sein. Wie schafft das Selbst das, sich selbst zu drücken und zu umarmen? Indem das Selbst in sich selbst einkehrt. Nicht wie ein Gast beim Wirt, sondern wie die Schnecke im Gehäuse. Im Selbst soll das Selbst mit Umsicht sich umschauen und vor allem die Ecken und Kanten seiner selbst ausmachen. Nicht um sich daran zu stoßen, sondern um sie zu loben und zu einem Kernselbst zu bündeln. Das Selbst im Zustand der Selbstbesinnung fragt sich selbst nach seinen wichtigsten Beziehungen, nach seinen wichtigsten Erfahrungen, nach Traum, Ideal und Ziel des eigenen Lebens, nach den Werten, die ihm am Herzen liegen, nach liebenswerten eigenen Charakterzügen und Gewohnheiten, nach Traumata und Ängsten und vor allem: nach dem Schönen. Denn die Schönheit macht den Sinn. Wilhelm Schmid kennt: das Beziehungsschöne, das Verhältnisschöne, das Erlebnisschöne, das Dingschöne, das Phantasieschöne, das Abstraktschöne und das Negativschöne (er meint, "unschöne Situationen" zu bewältigen kann eine "bejahenswerte Erfahrung" sein).
Das Selbst soll auf sich achten, den Körper pflegen, sich gut ernähren, es soll atmen, singen und tanzen lernen, das richtige Maß zwischen den Extremen suchen, den Beckenboden nicht vergessen, grundsätzlich die fünf Sinne gebrauchen und vor allem: Gerechtigkeit gegenüber sich selbst walten lassen. Wer gerecht gegenüber sich selbst ist, der wird es auch gegenüber anderen sein - allein schon deshalb, weil ansonsten das harmonische Gefühl gestört ist. Die Grundlage einer Ethik der Wellness ist eine Ästhetik des Lebens. Jeder Handgriff in diese Richtung ist Arbeit am Selbst. Schmid nennt das "Lebensarbeit". Wer auf diesem Weg zu sich selbst kommen mag, der wird nicht arbeitslos, sondern gelassen. Nun: Auch das Lachen ist eine Kunst und möchte gelernt sein, nicht bei jeder Gelegenheit, empfiehlt Schmid, dafür aber von Herzen.
Wilhelm Schmid lebt in der "Re-Zeit": Retrospektive, Recycling, Renaturierung, Reduktion, Renaissance, Reorganisation und Reform. Davor war das Pro-Zeitalter: Progreß, Progression, Programme, Prognosen, Projekte, Prospekte, Profite, Produzenten, Produktivität und Profanität. Das heißt: Schmid lebt in Deutschland. Mit sich befreundet sein und mit sich befreundet bleiben - das mag auch die Philosophie des amtierenden Bundeskanzlers sein. Kennen die beiden sich?
Das Selbst muß die Suppe auslöffeln, die es sich mit sich selbst und seinen Einsichten und Erfahrungen eingebrockt hat. Das ist ein sehr negativer Gedanke aus dem Pro-Zeitalter. Schöner leben in der Re-Zeit heißt denn auch, die Suppe anders zu nehmen: als die Basisnahrung der Selbstreformierten. "Suppe zu essen ist die maßvolle Lust der Autarkie, die der Askese Genüge tut; sie ist eine entsagungsvolle Ernährung, die doch auch die Ekstase ermöglicht, denn das Selbst kann außer sich geraten bei ihrem Anblick und ihrem Genuß." Weit weg im Süden, wo die Bevölkerung ohne Schmid das Leben offenbar einigermaßen zu genießen in der Lage ist, dehnen sich jetzt die fruchtbaren Hügel der Toskana, wo deutsche Fraktionen ehemals beisammensaßen und kritisch klönten.
Wo eine Suppe ist, dort schwimmt auch das Prophetenhaar des Fastens. Den Gürtel enger zu schnallen bedeutet eine Einübung in die Entsagung, dank deren sich dann im Selbst drinnen "der Grund der Selbstmächtigkeit" festigt. Wer auf diese und andere Weise selbstmächtig ist, der schließt auch ein generelles Verbot der Gentechnik mit dem Hinweis auf den Einzelfall aus. An das eigene Selbst soll sich der Begriff der menschlichen Würde lehnen, die ja "eine Frage der Festlegung" ist. Der Selbstkünstler muß hellwach bleiben, damit er die Sorge um sich selbst nicht verschläft.
Dabei bietet ihm gerade die heutige Zeit, auch wenn sie eine Re-Zeit ist, Gründe genug, zu resignieren und alle Illusionen in den Wind zu schießen. Wilhelm Schmid liebäugelt deswegen mit einer "Kunst der Resignation": "in moderner Zeit könnte dies attraktiv erscheinen, um einem hemmungslosen Optimismus und manischen Perfektionismus frontal zu widersprechen, denn es gibt Gründe dafür, das Leben anders als nur ,positiv' zu sehen, ja, eine ,negativere' Sichtweise für die ehrlichere zu halten". Einer totalen Resignation (Deutschland geht den Bach runter) zieht Schmid, in Sorge um den Bestand des Selbst, eine selektive Resignation (die Rente geht flöten) vor. Noch einmal gefragt: Kennen sich die beiden, der Philosoph der Re-Zeit und der Reform-Kanzler?
Nach der Lektüre würden auch wir liebend gerne die selektive Resignation (soll doch Schmid die Sauna loben) der totalen Resignation (das Selbst dampft vor sich hin als Reformaufguß) vorziehen - und ziehen dabei den kürzeren. Wahrscheinlich weil wir uns nicht genug darauf konzentrieren, daß zwischen uns beiden, zwischen uns und unserem Selbst, ein Freundschaftsbund sei? Wahrscheinlich.
EBERHARD RATHGEB
Wilhelm Schmid: "Mit sich selbst befreundet sein". Von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 433 S., geb., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dieses Buch ersetzt ein Leben: Wilhelm Schmid löffelt die Suppe aus, die wir uns einbrocken
Diogenes saß in der Tonne. Wilhelm Schmid sitzt in der Sauna. Er sagt: Das Selbst soll sich selbst ein guter Freund sein. Wie schafft das Selbst das, sich selbst zu drücken und zu umarmen? Indem das Selbst in sich selbst einkehrt. Nicht wie ein Gast beim Wirt, sondern wie die Schnecke im Gehäuse. Im Selbst soll das Selbst mit Umsicht sich umschauen und vor allem die Ecken und Kanten seiner selbst ausmachen. Nicht um sich daran zu stoßen, sondern um sie zu loben und zu einem Kernselbst zu bündeln. Das Selbst im Zustand der Selbstbesinnung fragt sich selbst nach seinen wichtigsten Beziehungen, nach seinen wichtigsten Erfahrungen, nach Traum, Ideal und Ziel des eigenen Lebens, nach den Werten, die ihm am Herzen liegen, nach liebenswerten eigenen Charakterzügen und Gewohnheiten, nach Traumata und Ängsten und vor allem: nach dem Schönen. Denn die Schönheit macht den Sinn. Wilhelm Schmid kennt: das Beziehungsschöne, das Verhältnisschöne, das Erlebnisschöne, das Dingschöne, das Phantasieschöne, das Abstraktschöne und das Negativschöne (er meint, "unschöne Situationen" zu bewältigen kann eine "bejahenswerte Erfahrung" sein).
Das Selbst soll auf sich achten, den Körper pflegen, sich gut ernähren, es soll atmen, singen und tanzen lernen, das richtige Maß zwischen den Extremen suchen, den Beckenboden nicht vergessen, grundsätzlich die fünf Sinne gebrauchen und vor allem: Gerechtigkeit gegenüber sich selbst walten lassen. Wer gerecht gegenüber sich selbst ist, der wird es auch gegenüber anderen sein - allein schon deshalb, weil ansonsten das harmonische Gefühl gestört ist. Die Grundlage einer Ethik der Wellness ist eine Ästhetik des Lebens. Jeder Handgriff in diese Richtung ist Arbeit am Selbst. Schmid nennt das "Lebensarbeit". Wer auf diesem Weg zu sich selbst kommen mag, der wird nicht arbeitslos, sondern gelassen. Nun: Auch das Lachen ist eine Kunst und möchte gelernt sein, nicht bei jeder Gelegenheit, empfiehlt Schmid, dafür aber von Herzen.
Wilhelm Schmid lebt in der "Re-Zeit": Retrospektive, Recycling, Renaturierung, Reduktion, Renaissance, Reorganisation und Reform. Davor war das Pro-Zeitalter: Progreß, Progression, Programme, Prognosen, Projekte, Prospekte, Profite, Produzenten, Produktivität und Profanität. Das heißt: Schmid lebt in Deutschland. Mit sich befreundet sein und mit sich befreundet bleiben - das mag auch die Philosophie des amtierenden Bundeskanzlers sein. Kennen die beiden sich?
Das Selbst muß die Suppe auslöffeln, die es sich mit sich selbst und seinen Einsichten und Erfahrungen eingebrockt hat. Das ist ein sehr negativer Gedanke aus dem Pro-Zeitalter. Schöner leben in der Re-Zeit heißt denn auch, die Suppe anders zu nehmen: als die Basisnahrung der Selbstreformierten. "Suppe zu essen ist die maßvolle Lust der Autarkie, die der Askese Genüge tut; sie ist eine entsagungsvolle Ernährung, die doch auch die Ekstase ermöglicht, denn das Selbst kann außer sich geraten bei ihrem Anblick und ihrem Genuß." Weit weg im Süden, wo die Bevölkerung ohne Schmid das Leben offenbar einigermaßen zu genießen in der Lage ist, dehnen sich jetzt die fruchtbaren Hügel der Toskana, wo deutsche Fraktionen ehemals beisammensaßen und kritisch klönten.
Wo eine Suppe ist, dort schwimmt auch das Prophetenhaar des Fastens. Den Gürtel enger zu schnallen bedeutet eine Einübung in die Entsagung, dank deren sich dann im Selbst drinnen "der Grund der Selbstmächtigkeit" festigt. Wer auf diese und andere Weise selbstmächtig ist, der schließt auch ein generelles Verbot der Gentechnik mit dem Hinweis auf den Einzelfall aus. An das eigene Selbst soll sich der Begriff der menschlichen Würde lehnen, die ja "eine Frage der Festlegung" ist. Der Selbstkünstler muß hellwach bleiben, damit er die Sorge um sich selbst nicht verschläft.
Dabei bietet ihm gerade die heutige Zeit, auch wenn sie eine Re-Zeit ist, Gründe genug, zu resignieren und alle Illusionen in den Wind zu schießen. Wilhelm Schmid liebäugelt deswegen mit einer "Kunst der Resignation": "in moderner Zeit könnte dies attraktiv erscheinen, um einem hemmungslosen Optimismus und manischen Perfektionismus frontal zu widersprechen, denn es gibt Gründe dafür, das Leben anders als nur ,positiv' zu sehen, ja, eine ,negativere' Sichtweise für die ehrlichere zu halten". Einer totalen Resignation (Deutschland geht den Bach runter) zieht Schmid, in Sorge um den Bestand des Selbst, eine selektive Resignation (die Rente geht flöten) vor. Noch einmal gefragt: Kennen sich die beiden, der Philosoph der Re-Zeit und der Reform-Kanzler?
Nach der Lektüre würden auch wir liebend gerne die selektive Resignation (soll doch Schmid die Sauna loben) der totalen Resignation (das Selbst dampft vor sich hin als Reformaufguß) vorziehen - und ziehen dabei den kürzeren. Wahrscheinlich weil wir uns nicht genug darauf konzentrieren, daß zwischen uns beiden, zwischen uns und unserem Selbst, ein Freundschaftsbund sei? Wahrscheinlich.
EBERHARD RATHGEB
Wilhelm Schmid: "Mit sich selbst befreundet sein". Von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 433 S., geb., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Nein, als "Moralphilosoph" will Wilhelm Schmid, der sich auch in seinem neuesten Buch für die "Wiederentdeckung einer philosophischen Lebenskunst" stark macht, nicht verstanden wissen, erklärt Martin Bauer. Stattdessen wende sich der Autor an das ratlose Individuum, dem er seinen Begriff des mit "sich selbst befreundeten" "reflektierten Lebenskünstlers" anträgt. Dass es dabei zu "ermüdenden" Widerholungen kommt, verschweigt der Rezensent ebenso wenig wie er seine Ansicht verhehlen kann, es hätte der Darlegung dieser "Ethik des Optativen" nicht schlecht getan, auch die von ihm so geschmähten Vertreter der "Schulphilosophie" hin und wieder zu Rate zu ziehen. Denn die "analytischen Mühen", so der Rezensent unzufrieden, sind insgesamt doch eher "bescheiden ausgefallen". Bauer vermisst die "Qualen des Arguments" und eine gewisse Montaigne'sche "Skepsis" bei den Ausführungen, die stattdessen eher von "wohlmeinender Kompetenz" geprägt sind, wie der Rezensent nicht recht überzeugt feststellt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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