Produktdetails
- Verlag: Herbig, F A
- ISBN-13: 9783776624243
- ISBN-10: 3776624248
- Artikelnr.: 13285963
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.07.2005Geboren im GULag
Sandra Kalniete rekonstruiert die Deportation ihrer Familie aus Lettland
Sandra Kalniete: Mit Ballschuhen im sibirischen Schnee. Die Geschichte meiner Familie. Herbig Verlag, München 2005. 352 Seiten, 22,90 [Euro].
Es dauerte nicht lange, daß dieses Buch in Ungnade fiel. "Unbeholfen, schwülstig, gefühlsüberfrachtet, selten analytisch" nannte es der Historiker Michael Wolffsohn, der damit eine Auseinandersetzung mit Sandra Kalniete fortsetzte, die vor der deutschen Übersetzung ihrer Familienbiographie auf der Leipziger Buchmesse begonnen hatte. Dort hielt Kalniete vor Jahr und Tag eine Rede, in der sie das hierzulande achtsam gehegte Tabu brach, kommunistische und nationalsozialistische Verbrechen nicht vergleichen, gar gleichsetzen zu dürfen. Der Vorwurf ließ nicht lange auf sich warten, sie relativiere damit den Holocaust und verhöhne die Opfer des Hitlerregimes. Sie war damals noch Außenministerin Lettlands, eines Landes mithin, das sich seit Wiederherstellung seiner Unabhängigkeit Anfang der neunziger Jahre erst gegenüber Rußland, der ehemaligen Besatzungsmacht, schließlich aber auch gegenüber der westlichen Öffentlichkeit dafür rechtfertigen mußte, die Verbrechen der sowjetischen Annexion und Okkupation mindestens so zu verabscheuen wie die der Nationalsozialisten.
Warum den Letten die geschichtspolitische Sauberkeit Moskaus und des Westens schwülstig und selten analytisch vorkommen muß, ist in diesem Buch nachzulesen. Es schildert den Weg ihrer Großeltern und Eltern in die Straflager und "Sonderansiedlungen" der "Hauptverwaltung der Sowjetischen Zwangsarbeitslager" (GULag). Sie waren die Opfer dreier Deportationswellen: 1941 nach dem Einmarsch der Roten Armee ins Baltikum, 1944 nach dem Rückzug deutscher Truppen und der sowjetischen Rückeroberung Lettlands sowie 1949, als eine dritte Verhaftungswelle über die besetzten Gebiete an der Ostsee hereinbrach.
Sandra Kalnietes Mutter Ligita Dreifelde wurde mit ihren Eltern am 14. Juni 1941 nach Sibirien deportiert (aus ihrem Kinderzimmer nahm sie nur die Ballschuhe mit, daher der Titel). Sie zählten zu den "sozial gefährlichen Elementen", die laut einem Befehl der sowjetischen Staatssicherheit aus dem Jahr 1939 zu deportieren waren. 1941 wurde dieser Befehl in einer generalstabsmäßig vorbereiteten Aktion an Tausenden Letten exekutiert. Großvater Janis Dreifelde starb - wie die Mutter erst 1990 vom KGB aus Moskau erfuhr - sechs Monate später in einem Straflager. Die Großmutter Emilija Dreifelde starb am 5. Februar 1950, getrennt von ihren Kindern, in der Verbannung an den Folgen von Unterernährung und Krankheit. Die drei Brüder der Mutter konnten sich verstecken und flohen vor Ende des Zweiten Weltkriegs über Deutschland nach Kanada und Großbritannien. Sandra Kalnietes Vater Aivars Kalniete wurde mit seiner Mutter am 25. März 1949 deportiert. Beide galten als "Familienangehörige eines Banditen", gemeint war der Großvater Aleksandrs, der im Untergrund als Partisan ("Waldbruder") nach 1944 gegen die sowjetischen Besatzungstruppen kämpfte. Er wurde im Herbst 1945 verraten und verhaftet, ebenfalls nach Sibirien deportiert und starb 1953 in einem Straflager.
Aivars Kalniete und Ligita Dreifelde lernten sich in der sibirischen Verbannung kennen und heirateten 1951. Ihr einziges Kind, das Einzelkind bleiben sollte, weil die Eltern der sowjetischen Verbannungspolitik nicht noch mehr Kinder "schenken" wollten, Sandra Kalniete also, wurde im Dezember 1952 in Togur im Oblast Tomsk geboren. Sie kehrte mit ihren Eltern 1957 nach Lettland zurück.
Die Rekonstruktion der Schicksale ihrer Angehörigen gibt Sandra Kalniete nicht in Form von familiengeschichtlicher Betroffenheitslyrik wieder. Das unterscheidet ihr Buch von der Literatur, die während des Kalten Kriegs im Exil entstand und schnell dem Desinteresse und der Vergessenheit anheimfiel, die nur Alexander Solschenizyn durchbrechen konnte. Exemplare dieser Literatur (besonders ergreifend: Ruta Upites nach ihrem Tod von ihrem Vater veröffentlichtes Tagebuch "Ich wollte so gerne noch leben", das 1978 auf deutsch im Stockholmer Exilverlag des Lettischen Nationalfonds erschien) findet man allenfalls noch im Antiquariat.
Kalniete forschte in Archiven nach, führte Interviews mit Überlebenden, unter anderem mit ihrer Mutter, und verarbeitete die Sekundärliteratur über die sowjetische und deutsche Besatzungspolitik in Lettland und über die Straf- und Sonderlager des GULag. Der Text ist mit reichhaltigen Anmerkungen, aufschlußreichen Querverweisen und am Ende mit einer Zeittafel versehen. Die Autorin schildert damit exemplarisch die genozidalen Erfahrungen eines Zweimillionenvolkes, in dem fast jede Familie persönlich überlieferte Geschichten aus dem GULag erzählen kann - nicht anders ist es in Estland, Litauen, Tschetschenien, Moldau, in der Ukraine und so weiter.
Worin liegt nun das Anstößige? Es sind zwei Passagen in Sandra Kalnietes Buch, in denen sie offenbar gegen die Erinnerungsetikette verstößt, indem sie ihre Landsleute zu mehrfachen Opfern der Geschichte erklärt. Einmal verteidigt sie ihre Heimat gegen den Vorwurf, sich durch einen latenten Antisemitismus in die Arme der deutschen Besatzungstruppen geworfen zu haben. Sie verweist dafür auf die Bekämpfung des Antisemitismus im Lettland der dreißiger Jahre, auf zahlreiche Beispiele der Zivilcourage während der Zeit der deutschen Besatzung, die später von Israel honoriert wurden, und richtet sich gegen Versuche sowjetischer (neuerdings auch russischer) Propaganda, "mir und anderen anständigen Einwohnern Lettlands die ,angeborene Schuld' aufzubürden" - ein Satz wie ein Fremdkörper in dem Buch, der zudem verrät, daß es ihr an routiniert-vergangenheitsbewältigender Diplomatie fehlt.
Zum anderen war Aleksandrs Kalniete einer der "Freiwilligen", die 1943 als "Lettische Legion" der Waffen-SS unterstellt wurden. Diesen "SS-Veteranen" wird bis heute vorgeworfen, am Massenmord an Juden in Lettland unmittelbar nach dem Einmarsch deutscher Truppen im Jahr 1941 beteiligt gewesen zu sein. Richtig daran ist nur, daß Angehörige lettischer Erschießungskommandos, die sich an der Verfolgung und Ermordung der Juden beteiligt hatten, später in die "Legion" integriert wurden. Die 1943 eingezogenen "Freiwilligen", die alles andere als Freiwillige waren, beschreibt Sandra Kalniete anhand der Zwangsrekrutierung ihres Großvaters als Opfer, die sich mit dem kleineren Übel trösten konnten, gegen den nahenden und aus den Zeiten der ersten Besatzung allzubekannten Terror der Sowjets zu kämpfen. Wie sich in vielen Fällen erwies, stellten sie sich damit nur ihr Todesurteil aus.
Auf die Angriffe gegen ihr Buch hat Sandra Kalniete nicht reagiert. Wohl aber setzte sich ihr Übersetzer Matthias Knoll insbesondere mit den Vorwürfen Wolffsohns auseinander ("geradezu unerträgliche, beinahe provokative und unbelehrbare Schönfärberei"). Es gehört zur Ironie der Aufnahme dieses Buchs in Deutschland, daß Knoll die Lektüre zahlreicher Standardwerke zum Holocaust in Lettland empfehlen muß, damit einer Nation Gerechtigkeit widerfahre, die unter dem Eindruck des "roten Terrors", den Kalniete beschreibt, dem Untergang geweiht war.
JASPER VON ALTENBOCKUM
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sandra Kalniete rekonstruiert die Deportation ihrer Familie aus Lettland
Sandra Kalniete: Mit Ballschuhen im sibirischen Schnee. Die Geschichte meiner Familie. Herbig Verlag, München 2005. 352 Seiten, 22,90 [Euro].
Es dauerte nicht lange, daß dieses Buch in Ungnade fiel. "Unbeholfen, schwülstig, gefühlsüberfrachtet, selten analytisch" nannte es der Historiker Michael Wolffsohn, der damit eine Auseinandersetzung mit Sandra Kalniete fortsetzte, die vor der deutschen Übersetzung ihrer Familienbiographie auf der Leipziger Buchmesse begonnen hatte. Dort hielt Kalniete vor Jahr und Tag eine Rede, in der sie das hierzulande achtsam gehegte Tabu brach, kommunistische und nationalsozialistische Verbrechen nicht vergleichen, gar gleichsetzen zu dürfen. Der Vorwurf ließ nicht lange auf sich warten, sie relativiere damit den Holocaust und verhöhne die Opfer des Hitlerregimes. Sie war damals noch Außenministerin Lettlands, eines Landes mithin, das sich seit Wiederherstellung seiner Unabhängigkeit Anfang der neunziger Jahre erst gegenüber Rußland, der ehemaligen Besatzungsmacht, schließlich aber auch gegenüber der westlichen Öffentlichkeit dafür rechtfertigen mußte, die Verbrechen der sowjetischen Annexion und Okkupation mindestens so zu verabscheuen wie die der Nationalsozialisten.
Warum den Letten die geschichtspolitische Sauberkeit Moskaus und des Westens schwülstig und selten analytisch vorkommen muß, ist in diesem Buch nachzulesen. Es schildert den Weg ihrer Großeltern und Eltern in die Straflager und "Sonderansiedlungen" der "Hauptverwaltung der Sowjetischen Zwangsarbeitslager" (GULag). Sie waren die Opfer dreier Deportationswellen: 1941 nach dem Einmarsch der Roten Armee ins Baltikum, 1944 nach dem Rückzug deutscher Truppen und der sowjetischen Rückeroberung Lettlands sowie 1949, als eine dritte Verhaftungswelle über die besetzten Gebiete an der Ostsee hereinbrach.
Sandra Kalnietes Mutter Ligita Dreifelde wurde mit ihren Eltern am 14. Juni 1941 nach Sibirien deportiert (aus ihrem Kinderzimmer nahm sie nur die Ballschuhe mit, daher der Titel). Sie zählten zu den "sozial gefährlichen Elementen", die laut einem Befehl der sowjetischen Staatssicherheit aus dem Jahr 1939 zu deportieren waren. 1941 wurde dieser Befehl in einer generalstabsmäßig vorbereiteten Aktion an Tausenden Letten exekutiert. Großvater Janis Dreifelde starb - wie die Mutter erst 1990 vom KGB aus Moskau erfuhr - sechs Monate später in einem Straflager. Die Großmutter Emilija Dreifelde starb am 5. Februar 1950, getrennt von ihren Kindern, in der Verbannung an den Folgen von Unterernährung und Krankheit. Die drei Brüder der Mutter konnten sich verstecken und flohen vor Ende des Zweiten Weltkriegs über Deutschland nach Kanada und Großbritannien. Sandra Kalnietes Vater Aivars Kalniete wurde mit seiner Mutter am 25. März 1949 deportiert. Beide galten als "Familienangehörige eines Banditen", gemeint war der Großvater Aleksandrs, der im Untergrund als Partisan ("Waldbruder") nach 1944 gegen die sowjetischen Besatzungstruppen kämpfte. Er wurde im Herbst 1945 verraten und verhaftet, ebenfalls nach Sibirien deportiert und starb 1953 in einem Straflager.
Aivars Kalniete und Ligita Dreifelde lernten sich in der sibirischen Verbannung kennen und heirateten 1951. Ihr einziges Kind, das Einzelkind bleiben sollte, weil die Eltern der sowjetischen Verbannungspolitik nicht noch mehr Kinder "schenken" wollten, Sandra Kalniete also, wurde im Dezember 1952 in Togur im Oblast Tomsk geboren. Sie kehrte mit ihren Eltern 1957 nach Lettland zurück.
Die Rekonstruktion der Schicksale ihrer Angehörigen gibt Sandra Kalniete nicht in Form von familiengeschichtlicher Betroffenheitslyrik wieder. Das unterscheidet ihr Buch von der Literatur, die während des Kalten Kriegs im Exil entstand und schnell dem Desinteresse und der Vergessenheit anheimfiel, die nur Alexander Solschenizyn durchbrechen konnte. Exemplare dieser Literatur (besonders ergreifend: Ruta Upites nach ihrem Tod von ihrem Vater veröffentlichtes Tagebuch "Ich wollte so gerne noch leben", das 1978 auf deutsch im Stockholmer Exilverlag des Lettischen Nationalfonds erschien) findet man allenfalls noch im Antiquariat.
Kalniete forschte in Archiven nach, führte Interviews mit Überlebenden, unter anderem mit ihrer Mutter, und verarbeitete die Sekundärliteratur über die sowjetische und deutsche Besatzungspolitik in Lettland und über die Straf- und Sonderlager des GULag. Der Text ist mit reichhaltigen Anmerkungen, aufschlußreichen Querverweisen und am Ende mit einer Zeittafel versehen. Die Autorin schildert damit exemplarisch die genozidalen Erfahrungen eines Zweimillionenvolkes, in dem fast jede Familie persönlich überlieferte Geschichten aus dem GULag erzählen kann - nicht anders ist es in Estland, Litauen, Tschetschenien, Moldau, in der Ukraine und so weiter.
Worin liegt nun das Anstößige? Es sind zwei Passagen in Sandra Kalnietes Buch, in denen sie offenbar gegen die Erinnerungsetikette verstößt, indem sie ihre Landsleute zu mehrfachen Opfern der Geschichte erklärt. Einmal verteidigt sie ihre Heimat gegen den Vorwurf, sich durch einen latenten Antisemitismus in die Arme der deutschen Besatzungstruppen geworfen zu haben. Sie verweist dafür auf die Bekämpfung des Antisemitismus im Lettland der dreißiger Jahre, auf zahlreiche Beispiele der Zivilcourage während der Zeit der deutschen Besatzung, die später von Israel honoriert wurden, und richtet sich gegen Versuche sowjetischer (neuerdings auch russischer) Propaganda, "mir und anderen anständigen Einwohnern Lettlands die ,angeborene Schuld' aufzubürden" - ein Satz wie ein Fremdkörper in dem Buch, der zudem verrät, daß es ihr an routiniert-vergangenheitsbewältigender Diplomatie fehlt.
Zum anderen war Aleksandrs Kalniete einer der "Freiwilligen", die 1943 als "Lettische Legion" der Waffen-SS unterstellt wurden. Diesen "SS-Veteranen" wird bis heute vorgeworfen, am Massenmord an Juden in Lettland unmittelbar nach dem Einmarsch deutscher Truppen im Jahr 1941 beteiligt gewesen zu sein. Richtig daran ist nur, daß Angehörige lettischer Erschießungskommandos, die sich an der Verfolgung und Ermordung der Juden beteiligt hatten, später in die "Legion" integriert wurden. Die 1943 eingezogenen "Freiwilligen", die alles andere als Freiwillige waren, beschreibt Sandra Kalniete anhand der Zwangsrekrutierung ihres Großvaters als Opfer, die sich mit dem kleineren Übel trösten konnten, gegen den nahenden und aus den Zeiten der ersten Besatzung allzubekannten Terror der Sowjets zu kämpfen. Wie sich in vielen Fällen erwies, stellten sie sich damit nur ihr Todesurteil aus.
Auf die Angriffe gegen ihr Buch hat Sandra Kalniete nicht reagiert. Wohl aber setzte sich ihr Übersetzer Matthias Knoll insbesondere mit den Vorwürfen Wolffsohns auseinander ("geradezu unerträgliche, beinahe provokative und unbelehrbare Schönfärberei"). Es gehört zur Ironie der Aufnahme dieses Buchs in Deutschland, daß Knoll die Lektüre zahlreicher Standardwerke zum Holocaust in Lettland empfehlen muß, damit einer Nation Gerechtigkeit widerfahre, die unter dem Eindruck des "roten Terrors", den Kalniete beschreibt, dem Untergang geweiht war.
JASPER VON ALTENBOCKUM
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Ralf Althof zeigt sich von der Familiengeschichte der lettischen Außenministerin Sandra Kalniete, deren Eltern mit ihren Familien als Kinder nach Sibirien verschleppt wurden und dort unter schwierigsten Bedingungen bis 1957 leben mussten, sehr beeindruckt. Er lobt die Autorin für die Anschaulichkeit ihrer Schilderungen und betont, dass sich die Leser ein eindrückliches "Bild" von den extremen klimatischen und hygienischen Bedingungen vom Sibirien der 50er Jahre machen können. Kalniete wendet sich in ihrem Buch zudem auch gegen den Universalvorwurf, die Letten seien dem Faschismus durchweg zugeneigt gewesen. Das "Verdienst" der Autorin bestehe darin, dass sie mit ihrem Buch dazu beiträgt, die "Schrecken" der sibirischen Verschleppungen ins allgemeine Bewusstsein zu bringen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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