Eine einzige Sprache wurde im Paradies gesprochen. Mithridates, der letzte Gegner des universalen römischen Imperiums, sprach dagegen zweiundzwanzig Sprachen und verlor den Kampf gegen Rom. "Paradies" und "Mithridates" sind die beiden Pole des europäischen Denkens der Sprache, deren jahrhundertelangen Streit das vorliegende Buch nachzeichnet und für deren höchst unwahrscheinliche Versöhnung es plädiert.
Sprache ist in der Geschichte des europäischen Denkens eher als störend empfunden worden, sei es daß sie als Mittel der Verführung (Eva, Babel) vorgeführt wurde, sei es daß man sie als Hindernis der wahren Erkenntnis ausmachte. Daß Sprache außerdem noch in der Mannigfaltigkeit der vielen verschiedenen Sprache auftrat, konnte daher nur als eine zusätzliche Bestrafung des Menschengeschlechts verstanden werden. Im Grunde hat sich an diesem allgemeinen, von den europäischen Gründungsmythen erhobenen Befund bis heute wenig geändert. Sprachlosigkeit oder zumindest Einsprachigkeit- das Paradies - bleibt die Sehnsucht der westlichen Menschheit. Dabei hatte sich im Verlauf der historischen Entwicklung - ausgehend von der rhetorischen und poetischen Freude an sprachlicher Kreativität - durchaus eine Opposition zu dieser zähneknirschenden Sprachkritik herausgebildet: Seit der Renaissance gibt es eine Liebe zu den Sprachen, und insbesondere seit Leibniz entdeckt Europa die Sprachen als einen wunderbaren Reichtum des menschlichen Geistes. Das Projekt der Sprachwissenschaft verdankt sich eigentlich der Erkundung dieser kostbaren Verschiedenheit des Denkens. An seinem Ende vermählt es sich allerdings wieder mit dem alten Sprachhaß der Philosophie. Der exklusive Blick auf die angeborene biologische Sprachfähigkeit und die politisch-ökonomische Vereinheitlichung der Menschheit läßt der Liebe zur Sprache und den sprachlichen Verschiedenheiten immer weniger Raum im Denken und Fühlen der Menschen.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Sprache ist in der Geschichte des europäischen Denkens eher als störend empfunden worden, sei es daß sie als Mittel der Verführung (Eva, Babel) vorgeführt wurde, sei es daß man sie als Hindernis der wahren Erkenntnis ausmachte. Daß Sprache außerdem noch in der Mannigfaltigkeit der vielen verschiedenen Sprache auftrat, konnte daher nur als eine zusätzliche Bestrafung des Menschengeschlechts verstanden werden. Im Grunde hat sich an diesem allgemeinen, von den europäischen Gründungsmythen erhobenen Befund bis heute wenig geändert. Sprachlosigkeit oder zumindest Einsprachigkeit- das Paradies - bleibt die Sehnsucht der westlichen Menschheit. Dabei hatte sich im Verlauf der historischen Entwicklung - ausgehend von der rhetorischen und poetischen Freude an sprachlicher Kreativität - durchaus eine Opposition zu dieser zähneknirschenden Sprachkritik herausgebildet: Seit der Renaissance gibt es eine Liebe zu den Sprachen, und insbesondere seit Leibniz entdeckt Europa die Sprachen als einen wunderbaren Reichtum des menschlichen Geistes. Das Projekt der Sprachwissenschaft verdankt sich eigentlich der Erkundung dieser kostbaren Verschiedenheit des Denkens. An seinem Ende vermählt es sich allerdings wieder mit dem alten Sprachhaß der Philosophie. Der exklusive Blick auf die angeborene biologische Sprachfähigkeit und die politisch-ökonomische Vereinheitlichung der Menschheit läßt der Liebe zur Sprache und den sprachlichen Verschiedenheiten immer weniger Raum im Denken und Fühlen der Menschen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.2003Scheidungswaise Goethe
Muntermacher für abtörnende Literaturwissenschaften: Jürgen Trabant rettet die Dichter / Von Wolfgang Frühwald
Mithridates - wohl nur noch wenigen unter uns aus dem Lateinunterricht bekannt - war jener kriegerische König, der den Römern in der Zeit zwischen etwa 132 und 63 vor Christus erheblich zu schaffen machte. Drei mithridatische Kriege mußten die Römer führen, ehe sie den Eroberer in sein Reich am Schwarzen Meer zurückjagen konnten, wo er vor dem Aufstand seines Sohnes in den Selbstmord entfloh. Dieser Mithridates aber war in den gebildeten (das heißt den erinnerungsfähigen) Epochen des alten Europa vor allem deshalb berühmt, weil er alle zweiundzwanzig Sprachen der von ihm beherrschten Völker gesprochen haben soll. Er hat, anders als die sprachimperialistisch verfahrenden Römer, die Soldaten und die Besiegten nicht in seiner, sondern in deren Sprache angesprochen. So ist Mithridates die ideale Allegorie für die Vielfalt der Sprachen, wie es das Paradies für deren Einheit ist.
Aber nicht "Mithridates und das Paradies" heißt Jürgen Trabants gelehrte und zugleich verständliche Geschichte des Sprachdenkens, sondern "Mithridates im Paradies". Schon der Titel also enthält eine Botschaft, die nicht nur für das Sprachdenken, für Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft, sondern auch für das um seine Identität ringende Europa, sogar für jene Wissenschaften von Bedeutung ist, die ihre (weltweiten) Verständigungsprobleme durch BE (Broken English) oder, wie es hier heißt: durch "Globanglisierung" gelöst zu haben meinen. Den Reichtum der Vielheit in der Einheit zu bewahren, lautet diese Botschaft, Mithridates mit Adam (oder mit Rom) zu versöhnen und nicht nochmals (wie die Ideologen des konsequenten Rationalismus) in die "paradiesische Sprach-Hölle der einzigen, eindeutigen, willkürlichen, effizienten, rationalen Zeichen-Sprache" zurückzufallen.
Derzeit nämlich scheint nur eines der beiden Leibniz-Projekte, das der Suche nach der Universal-Sprache - nicht das Projekt der Verschiedenheit der Sprachen -, für die Wissenschaft überhaupt noch von Interesse. Wieder einmal erleben wir den zumindest seit Dante bekannten "Austritt aus der Geschichte", jetzt freilich "nicht durch die dichterische Sublimierung der Sprache zu einer neuen Grammatica, sondern durch den Eintritt in die Ewige Biologie". In der Tat, was Nichtbiologen der Biologie heute an Lösungs-, sogar an Erlösungskraft zuschreiben, geht, um es drastisch auszudrücken, auf keine Kuhhaut. Die Lösung des alten Problems einer Ursprache - nach Steven Pinkers Motto "differences between individuals are so boring" - ist nur eine dieser Spekulationen. Insgesamt ist unser Problem wohl, daß der Sprache oder besser: den Sprachen mehr und mehr ein wesentlicher Beitrag zur Existenzdeutung des Menschen nicht mehr zugetraut wird. "There can be no doubt", meinte Theodore Savory schon 1967, "that science is in many ways the natural enemy of languages."
Der Rückzug der Sprachen aus der Existenzdeutung des Menschen wirkt sich dabei in einem unumschränkt herrschenden Glauben an die weltaufschließende Bedeutung des Experiments aus, in der deutlichen Theoriemüdigkeit der Naturwissenschaften, in der Vision einer neuen "menschlichen" Spezies, jenseits von Wünschen und Begehren, wie sie etwa in Michel Houellebecqs Roman "Elementarteilchen" für das Jahr 2029 angekündigt ist. Insofern kommt Trabants Buch zur rechten Zeit. Es ist ein aufregender, historischer Beitrag zu einer höchst aktuellen Problematik: der Frage nach dem Verlust der Sprachen als Anzeichen dafür, daß wir uns der Vorstellung eines "sicheren Wissens" nähern, der Vorstellung eines "von der Wissenschaft geregelten irdischen Paradieses, das die totalitäre Hölle wäre".
Jürgen Trabant hat keine Geschichte der Sprachphilosophie geschrieben, keine der Sprachunterschiede, keine der Sprachwissenschaft, sondern eine Geschichte des Sprachdenkens. Als roter Faden zieht sich der Antagonismus von Philosophie und Sprachwissenschaft durch diese Geschichte, von der Sehnsucht nach dem reinen, sprachlosen Denken im Unterschied zur historischen Beschreibung des Menschen, der nur in der Vielfalt seiner Kulturen und damit seiner Sprachen zu erfassen ist. Auch die Geschichte der modernen Sprachwissenschaft von Herder bis Chomsky und zu den Entwicklungen einer "universalistischen und biologischen" Linguistik ist nur ein Kapitel in der Geschichte des Sprachdenkens von den biblischen Ursprungserzählungen bis zur Gegenwart; nicht gerade das erfreulichste Kapitel.
Denn es berichtet vom vielleicht entwicklungsnotwendigen, aber "traurigen Ende der uralten Ehe von Sprach- und Textwissenschaft", die als Scheidungswaisen nichts Geringeres zurücklassen als die Sprachen und die Texte selbst. Den "okkulten Gegenständen aktueller Sprachwissenschaft", also den Lambda-Operatoren, Theta-Rollen und X-bar-Theorien, entsprechen die aktuellen Entwicklungen in sich auflösenden Literaturwissenschaften, allen voran in der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, denen es eben nicht mehr um "Vergil, Horaz, Boccaccio, Petrarca" geht, sondern um "solche aufregenden Sachen wie Dekonstruktion, Systemtheorie, New Historicism, Butlerism". Diese Methodendiskussion nun ist für einen "Sprach"-Wissenschaftler mindestens so okkult, "wie der erwähnte Lambda-Operator" für "Literatur"-Wissenschaftler.
Im übrigen: die Anführungszeichen stehen bei Trabant. Sie bezeichnen eine nahezu selbstmörderische Entfremdung nicht nur zweier - über Sprache, Schrift und Text - einst kritisch vereinter Wissenschaften. Sie bezeichnen vielmehr auch die Entfremdung dieser Wissenschaften von ihren tradierten Gegenständen und damit von ihrer Öffentlichkeit. Auf der Strecke geblieben sind dabei "die Modernisierungsverlierer und Scheidungswaisen: Griechisch, Latein, Deutsch, Französisch . . . und die Sprachen anderer wilder Völkerstämme der Vergangenheit. Auf der Strecke geblieben sind also Sophokles, Ovid, Goethe, Baudelaire, Cervantes, Dante, Dostojewski und wie sie alle heißen."
Hübsch polemisch und leider wahr! Nicht zufällig wurde dieses Buch vom Historischen Kolleg in München gefördert. Hier liest ein engagierter und belesener (Sprach-)Historiker den (einstigen) Philologien die Leviten und sagt ihnen, weshalb sie Ansehen und Einfluß innerhalb und außerhalb der Universität verloren haben; wie ihre angebliche Internationalität eher dem Einverständnis esoterischer Zirkel als einem wissenschaftlichen Austausch gleicht. Die Philosophie mit ihrem jahrhundertealten Hang, das reine Denken zu finden, also den Menschen in die Sprachlosigkeit zu entführen, nimmt Trabant gleich mit. Doch belegt er seine Polemik - und Polemik macht munter - mit den Großen des Sprachdenkens, mit Platon und Aristoteles, mit Locke, Leibniz, Vico und Wilhelm von Humboldt, mit Wittgenstein und Nietzsche, und weiß sie alle einzuordnen in eine ihm durchaus bewußte verkürzte, aber gerade deshalb so spannende Thesen- und Themenengeschichte des menschlichen Denkens, das sich doch einmal durch Sprache und in Sprache selbst definiert hat.
Wie Trabant den Bogen von Leibniz und Condillac zur Französischen Revolution und Orwell schlägt, verrät fundiertes Wissen und darstellerisches Genie. "Wir aber", heißt es am Ende des Kapitels über das Reich des Menschen und die Sprache, "die modernen Wissens-, Geschäfts- und Spaßeliten machen es natürlich besser (als die Revolutionäre am Ende des achtzehnten Jahrhunderts). Das Licht der Wahrheit und der Effizienz wird in der Sprache des Neuen Paradieses (das heißt des Königreiches des Menschen, das auf Wissenschaften gegründet ist) strahlen, daß uns Sehen - und Hören - vergeht." Jürgen Trabants "Kleine Geschichte des Sprachdenkens" ist ein auf elegante Weise widerständiges Buch. Ich wünsche ihm viele aufmerksame Leser.
Jürgen Trabant: "Mithridates im Paradies". Kleine Geschichte des Sprachdenkens. C. H. Beck Verlag, München 2003. 348 S., geb., 26,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Muntermacher für abtörnende Literaturwissenschaften: Jürgen Trabant rettet die Dichter / Von Wolfgang Frühwald
Mithridates - wohl nur noch wenigen unter uns aus dem Lateinunterricht bekannt - war jener kriegerische König, der den Römern in der Zeit zwischen etwa 132 und 63 vor Christus erheblich zu schaffen machte. Drei mithridatische Kriege mußten die Römer führen, ehe sie den Eroberer in sein Reich am Schwarzen Meer zurückjagen konnten, wo er vor dem Aufstand seines Sohnes in den Selbstmord entfloh. Dieser Mithridates aber war in den gebildeten (das heißt den erinnerungsfähigen) Epochen des alten Europa vor allem deshalb berühmt, weil er alle zweiundzwanzig Sprachen der von ihm beherrschten Völker gesprochen haben soll. Er hat, anders als die sprachimperialistisch verfahrenden Römer, die Soldaten und die Besiegten nicht in seiner, sondern in deren Sprache angesprochen. So ist Mithridates die ideale Allegorie für die Vielfalt der Sprachen, wie es das Paradies für deren Einheit ist.
Aber nicht "Mithridates und das Paradies" heißt Jürgen Trabants gelehrte und zugleich verständliche Geschichte des Sprachdenkens, sondern "Mithridates im Paradies". Schon der Titel also enthält eine Botschaft, die nicht nur für das Sprachdenken, für Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft, sondern auch für das um seine Identität ringende Europa, sogar für jene Wissenschaften von Bedeutung ist, die ihre (weltweiten) Verständigungsprobleme durch BE (Broken English) oder, wie es hier heißt: durch "Globanglisierung" gelöst zu haben meinen. Den Reichtum der Vielheit in der Einheit zu bewahren, lautet diese Botschaft, Mithridates mit Adam (oder mit Rom) zu versöhnen und nicht nochmals (wie die Ideologen des konsequenten Rationalismus) in die "paradiesische Sprach-Hölle der einzigen, eindeutigen, willkürlichen, effizienten, rationalen Zeichen-Sprache" zurückzufallen.
Derzeit nämlich scheint nur eines der beiden Leibniz-Projekte, das der Suche nach der Universal-Sprache - nicht das Projekt der Verschiedenheit der Sprachen -, für die Wissenschaft überhaupt noch von Interesse. Wieder einmal erleben wir den zumindest seit Dante bekannten "Austritt aus der Geschichte", jetzt freilich "nicht durch die dichterische Sublimierung der Sprache zu einer neuen Grammatica, sondern durch den Eintritt in die Ewige Biologie". In der Tat, was Nichtbiologen der Biologie heute an Lösungs-, sogar an Erlösungskraft zuschreiben, geht, um es drastisch auszudrücken, auf keine Kuhhaut. Die Lösung des alten Problems einer Ursprache - nach Steven Pinkers Motto "differences between individuals are so boring" - ist nur eine dieser Spekulationen. Insgesamt ist unser Problem wohl, daß der Sprache oder besser: den Sprachen mehr und mehr ein wesentlicher Beitrag zur Existenzdeutung des Menschen nicht mehr zugetraut wird. "There can be no doubt", meinte Theodore Savory schon 1967, "that science is in many ways the natural enemy of languages."
Der Rückzug der Sprachen aus der Existenzdeutung des Menschen wirkt sich dabei in einem unumschränkt herrschenden Glauben an die weltaufschließende Bedeutung des Experiments aus, in der deutlichen Theoriemüdigkeit der Naturwissenschaften, in der Vision einer neuen "menschlichen" Spezies, jenseits von Wünschen und Begehren, wie sie etwa in Michel Houellebecqs Roman "Elementarteilchen" für das Jahr 2029 angekündigt ist. Insofern kommt Trabants Buch zur rechten Zeit. Es ist ein aufregender, historischer Beitrag zu einer höchst aktuellen Problematik: der Frage nach dem Verlust der Sprachen als Anzeichen dafür, daß wir uns der Vorstellung eines "sicheren Wissens" nähern, der Vorstellung eines "von der Wissenschaft geregelten irdischen Paradieses, das die totalitäre Hölle wäre".
Jürgen Trabant hat keine Geschichte der Sprachphilosophie geschrieben, keine der Sprachunterschiede, keine der Sprachwissenschaft, sondern eine Geschichte des Sprachdenkens. Als roter Faden zieht sich der Antagonismus von Philosophie und Sprachwissenschaft durch diese Geschichte, von der Sehnsucht nach dem reinen, sprachlosen Denken im Unterschied zur historischen Beschreibung des Menschen, der nur in der Vielfalt seiner Kulturen und damit seiner Sprachen zu erfassen ist. Auch die Geschichte der modernen Sprachwissenschaft von Herder bis Chomsky und zu den Entwicklungen einer "universalistischen und biologischen" Linguistik ist nur ein Kapitel in der Geschichte des Sprachdenkens von den biblischen Ursprungserzählungen bis zur Gegenwart; nicht gerade das erfreulichste Kapitel.
Denn es berichtet vom vielleicht entwicklungsnotwendigen, aber "traurigen Ende der uralten Ehe von Sprach- und Textwissenschaft", die als Scheidungswaisen nichts Geringeres zurücklassen als die Sprachen und die Texte selbst. Den "okkulten Gegenständen aktueller Sprachwissenschaft", also den Lambda-Operatoren, Theta-Rollen und X-bar-Theorien, entsprechen die aktuellen Entwicklungen in sich auflösenden Literaturwissenschaften, allen voran in der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, denen es eben nicht mehr um "Vergil, Horaz, Boccaccio, Petrarca" geht, sondern um "solche aufregenden Sachen wie Dekonstruktion, Systemtheorie, New Historicism, Butlerism". Diese Methodendiskussion nun ist für einen "Sprach"-Wissenschaftler mindestens so okkult, "wie der erwähnte Lambda-Operator" für "Literatur"-Wissenschaftler.
Im übrigen: die Anführungszeichen stehen bei Trabant. Sie bezeichnen eine nahezu selbstmörderische Entfremdung nicht nur zweier - über Sprache, Schrift und Text - einst kritisch vereinter Wissenschaften. Sie bezeichnen vielmehr auch die Entfremdung dieser Wissenschaften von ihren tradierten Gegenständen und damit von ihrer Öffentlichkeit. Auf der Strecke geblieben sind dabei "die Modernisierungsverlierer und Scheidungswaisen: Griechisch, Latein, Deutsch, Französisch . . . und die Sprachen anderer wilder Völkerstämme der Vergangenheit. Auf der Strecke geblieben sind also Sophokles, Ovid, Goethe, Baudelaire, Cervantes, Dante, Dostojewski und wie sie alle heißen."
Hübsch polemisch und leider wahr! Nicht zufällig wurde dieses Buch vom Historischen Kolleg in München gefördert. Hier liest ein engagierter und belesener (Sprach-)Historiker den (einstigen) Philologien die Leviten und sagt ihnen, weshalb sie Ansehen und Einfluß innerhalb und außerhalb der Universität verloren haben; wie ihre angebliche Internationalität eher dem Einverständnis esoterischer Zirkel als einem wissenschaftlichen Austausch gleicht. Die Philosophie mit ihrem jahrhundertealten Hang, das reine Denken zu finden, also den Menschen in die Sprachlosigkeit zu entführen, nimmt Trabant gleich mit. Doch belegt er seine Polemik - und Polemik macht munter - mit den Großen des Sprachdenkens, mit Platon und Aristoteles, mit Locke, Leibniz, Vico und Wilhelm von Humboldt, mit Wittgenstein und Nietzsche, und weiß sie alle einzuordnen in eine ihm durchaus bewußte verkürzte, aber gerade deshalb so spannende Thesen- und Themenengeschichte des menschlichen Denkens, das sich doch einmal durch Sprache und in Sprache selbst definiert hat.
Wie Trabant den Bogen von Leibniz und Condillac zur Französischen Revolution und Orwell schlägt, verrät fundiertes Wissen und darstellerisches Genie. "Wir aber", heißt es am Ende des Kapitels über das Reich des Menschen und die Sprache, "die modernen Wissens-, Geschäfts- und Spaßeliten machen es natürlich besser (als die Revolutionäre am Ende des achtzehnten Jahrhunderts). Das Licht der Wahrheit und der Effizienz wird in der Sprache des Neuen Paradieses (das heißt des Königreiches des Menschen, das auf Wissenschaften gegründet ist) strahlen, daß uns Sehen - und Hören - vergeht." Jürgen Trabants "Kleine Geschichte des Sprachdenkens" ist ein auf elegante Weise widerständiges Buch. Ich wünsche ihm viele aufmerksame Leser.
Jürgen Trabant: "Mithridates im Paradies". Kleine Geschichte des Sprachdenkens. C. H. Beck Verlag, München 2003. 348 S., geb., 26,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Als "ein auf elegante Weise widerständiges Buch" würdigt Rezensent Wolfgang Frühwald die "Kleine Geschichte des Sprachdenkens", die Jürgen Trabant vorgelegt hat. Frühwald erblickt darin vor allem ein Plädoyer für die Bewahrung des Reichtums der Vielheit der Sprachen und gegen einen Rückfall in die "paradiesische Sprach-Hölle der einzigen, eindeutigen, willkürlichen, effizienten, rationalen Zeichen-Sprache" (Trabant). Die Geschichte der modernen Sprachwissenschaft von Herder bis Chomsky und der Entwicklung einer "universalistischen und biologischen Linguistik" sei nur ein Kapitel in Trabants Geschichte des Sprachdenkens von den biblischen Ursprüngen bis zur Gegenwart. Für Frühwald "nicht gerade das erfreulichste Kapitel", schließlich berichte Trabant hier vom "traurigen Ende der uralten Ehe von Sprach- und Textwissenschaft" (Trabant), deren Folge nicht nur die Entfremdung zwischen Sprach- und Literaturwissenschaft, sondern auch die Entfremdung dieser Wissenschaften von ihren Gegenständen sei. Insgesamt zeichnet sich Trabants Buch nach Ansicht Frühwalds durch "fundiertes Wissen" und "darstellerisches Genie" aus. Ein Buch, dem der Rezensent "viele aufmerksame Leser" wünscht.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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