»Damit alles bleibt, wie es ist, muss sich alles ändern.« Der berühmte Satz aus dem Roman Der Leopard ist so etwas wie das inoffizielle Motto des gemäßigten Konservatismus. Parteien wie die CDU arrangierten sich mit Veränderungen und erwiesen sich als Anker der Stabilität. Heute ist nicht mehr sicher, ob die rechte Mitte hält: Setzen ihre Vertreter weiterhin auf Ausgleich und behutsame Modernisierung? Oder auf polarisierenden Kulturkampf?
In der Bundesrepublik waren die letzten Merkel-Jahre von unionsinternen Richtungsstreits geprägt. Doch nicht zuletzt der Aufstieg Donald Trumps hat gezeigt, dass die Identitätskrise der rechten Mitte kein exklusiv deutsches Phänomen ist: In Italien füllten Berlusconi und radikal rechte Parteien wie Giorgia Melonis Fratelli d'Italia das durch die Implosion der Democrazia Cristiana entstandene Vakuum. In Frankreich spielen die Républicains zwischen Macron und Le Pen kaum noch eine Rolle. Und die Tories versinken nach dem Brexit-Chaos in Unernstund Realitätsverweigerung. Thomas Biebricher widmet sich dieser internationalen Dimension und zeichnet die turbulenten Entwicklungen seit 1990 nach. Seine Befunde sind auch deshalb brisant, weil sich am gemäßigten Konservatismus die Zukunft der liberalen Demokratie entscheidet.
In der Bundesrepublik waren die letzten Merkel-Jahre von unionsinternen Richtungsstreits geprägt. Doch nicht zuletzt der Aufstieg Donald Trumps hat gezeigt, dass die Identitätskrise der rechten Mitte kein exklusiv deutsches Phänomen ist: In Italien füllten Berlusconi und radikal rechte Parteien wie Giorgia Melonis Fratelli d'Italia das durch die Implosion der Democrazia Cristiana entstandene Vakuum. In Frankreich spielen die Républicains zwischen Macron und Le Pen kaum noch eine Rolle. Und die Tories versinken nach dem Brexit-Chaos in Unernstund Realitätsverweigerung. Thomas Biebricher widmet sich dieser internationalen Dimension und zeichnet die turbulenten Entwicklungen seit 1990 nach. Seine Befunde sind auch deshalb brisant, weil sich am gemäßigten Konservatismus die Zukunft der liberalen Demokratie entscheidet.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Rezensentin Jasamin Ulfat-Seddiqzai lernt von Thomas Biebrichers Buch viel über die Notwendigkeit, aber auch die dieser Tage sichtbar werdenden Grenzen konservativer Positionen in der Politik. Biebricher zeige anhand von Fallanalysen aus Großbritannien, Frankreich und Italien auf, dass konservative Kräfte notwendig seien, um rechte Positionen in das demokratische Spektrum zu integrieren. Seine Analyse lege jedoch auch offen, warum das oft nicht funktioniere. Schuld sei unter anderem die Konzentration konservativer Politik auf Kulturkämpfe. Die Umstände des Erstarken der AfD bekomme man dank Biebrichers Analysen jedenfalls besser in den Blick, so Ulfat-Seddiqzais Fazit.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Überzeugend beschreibt Biebricher, wie seit den Neunzigerjahren anstelle des äußeren Feindes des Kommunismus vielfach innere Feindbilder getreten sind ...« Oliver Weber Frankfurter Allgemeine Zeitung 20230623
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.06.2023Mit den inneren Feindbildern ist nicht viel Staat zu machen
Folgen konservativer Verlegenheiten: Thomas Biebricher widmet sich ausführlich europäischen Entwicklungen im rechten politischen Spektrum
In seinem vorletzten Buch analysierte Thomas Biebricher, seit Kurzem Heisenberg-Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte in Frankfurt, die Entwicklung des bundesrepublikanischen Konservativismus seit den Achtzigerjahren, dem er schlechterdings eine "Erschöpfung" attestierte. Schon damals erschien die "Freidemokratisierung" der Union zugleich Ursache und Symptom des Niedergangs zu sein: Immerhin ist es außerordentlich schwer, das Eintreten für eine entfesselte Ökonomie mit der Hoffnung zu vereinbaren, die Gesellschaft könnte dabei so heimelig und gemütlich bleiben wie eh und je. Spät, aber umso kräftiger schien sich zu bestätigen, was der Ideenhistoriker Panajotis Kondylis bereits 1986 für ausgemacht hielt: Heutige Konservative sind nichts weiter als Liberale, die auf ein paar Gedankenfetzen über die natürliche Ungleichheit der Menschen nicht verzichten wollen (F.A.Z. vom 17. März).
Mit "Mitte/Rechts" hat Biebricher nun eine Art Nachfolgebuch vorgelegt, das die Situation in der Bundesrepublik nur noch indirekt begutachten will, um stattdessen die "Schwächung, Radikalisierung oder das völlige Verschwinden der Kräfte eines gemäßigten Konservatismus" in Italien, Frankreich und Großbritannien zu erklären. Die Diagnose ist nicht ungewöhnlich, hält man sich zum Beispiel das Schicksal der Democrazia Cristiana vor Augen, die zuerst von Berlusconis Ein-Mann-Partei überrannt wurde, um schließlich der vornehmlich norditalienischen Lega und den Brüdern Italiens vollends das rechte Feld zu überlassen. In Frankreich existiert die gemäßigte Rechte zwar wenigstens noch, muss sich seit den Parlamentswahlen vor einem Jahr aber mit einer Nischenexistenz zufriedengeben.
Parteien, die einmal bedeutsam waren, verschwinden bisweilen - daran muss man per se keinen Anstoß nehmen. Biebricher geht allerdings von der einleuchtenden Annahme aus, dass das Schicksal moderner demokratischer Staaten zu guten Teilen daran hängt, ob diejenigen, die den projektierten Emanzipationsschritten und Kulturrevolutionen eher skeptisch gegenüberstehen, darauf aus sind, das "Rad der Zeit" mit aller Gewalt zurückzudrehen - egal, was das für die Stabilität des Gemeinwesens bedeutet. Denn ein radikalisierter Konservativismus, der sein Programm einer "normativen Natürlichkeit", die der Öffentlichkeit und dem Parlament entzogen sein soll, auch auf Kosten des "Metawerts der Stabilität" durchsetzen will, steht schnell quer zu den Institutionen des liberalen Rechtsstaats.
Der Hauptteil des Buches ist gegenüber dieser gedankenreichen Einleitung eher konventionell geraten: In drei Fallstudien widmet sich Biebricher ausgiebig der politischen Entwicklung des rechten Spektrums in Italien, Frankreich und Großbritannien seit dem Ende des Kalten Krieges, als der Konservatismus weitgehend auf einen wichtigen Angstgegner, den Kommunismus, verzichten musste. Die Rekonstruktion seiner programmatischen und personellen Einzelentscheidungen liegt nah an der Ereignisgeschichte, wie sie auch ein politischer Journalist erzählen würde. Das hat allerdings zur Folge, dass die abstrakt formulierte "Arbeitshypothese", der gemäßigte Konservatismus würde zwischen einem konsequenten Liberalismus und einem konsequenten Rechtsautoritarismus zerquetscht, sich am Material nur selten bewährt, was der Autor am Ende auch selbst zugibt.
Hilfreicher sind dagegen die induktiv gewonnenen fünf Gemeinsamkeiten, die im Schlusskapitel genannt werden: In allen drei Ländern kann seit den Neunzigerjahren eine Transformation des rechten Spektrums beobachtet werden, wobei altgediente Volksparteien mitsamt Gremienapparat durch sogenannte "Flash-Parteien" ersetzt werden (oder sich ihnen annähern), die eher den Charakter einer sozialen Bewegung haben, und - das ist die zweite Gemeinsamkeit - sich durch eine ausgeprägte Personalisierung der Führung auszeichnen. Das gilt für die Forza Italia des vor Kurzem verstorbenen Silvio Berlusconi ebenso wie für Emmanuel Macrons mittlerweile umbenannte La République En Marche oder die zwischenzeitlich auf Sebastian Kurz ausgerichtete Österreichische Volkspartei. Das bleibt nicht ohne Folgen, denn die Basis, auf die sich die Führungsfiguren berufen, ist meist radikaler eingestellt als die potentielle Wählerschaft.
Die drei weiteren Gemeinsamkeiten liegen auf der ideellen Ebene. Überzeugend beschreibt Biebricher, wie seit den Neunzigerjahren anstelle des äußeren Feindes des Kommunismus vielfach innere Feindbilder getreten sind: von der migrantischen, vornehmlich muslimischen Bevölkerung über die Technokraten der Europäischen Union bis zu den "woken" Kulturkämpfern an den Universitäten und in den Medien. Auffällig ist aber, dass alle drei für Christdemokraten denkbar wenig geeignet sind, langfristig größere Wählerschichten zu mobilisieren: In Sachen Flüchtlingspolitik beharrt nicht zuletzt der Vatikan immer wieder darauf, dass eine Anti-Willkommenskultur dem Gebot der Nächstenliebe widerstreitet. Die Wirtschaftsverbände schließen sich aufgrund des Arbeitskräftemangels der Empfehlung gerne an, zumal der Manövrierraum für eine grundsätzlich andere Politik auch verfassungsmäßig eng gesteckt ist. Wer hier reüssieren will, muss also christliche Grundsätze, wirtschaftliche Zukunftsfähigkeit und die eigene Verfassungstreue infrage stellen, wobei die rechtsautoritäre Konkurrenz immer im Vorteil sein dürfte, wie Biebricher überzeugend darlegt. Ähnliches gilt für "kulturelle Konflikte", bei denen es "regelmäßig ums Ganze" geht, und für die EU, auf die vielleicht ein Tory noch unbeschadet schimpfen darf, ein CDU-Mitglied aber nur zum Preis der Selbstverleugnung.
Ist der Untergang des gemäßigten Konservatismus, so fragt man sich am Ende, also auch hierzulande längst besiegelt? Man muss es nicht so sehen. Bei Biebricher finden sich immer wieder Episoden, in denen Mitte-rechts-Parteien eine außergewöhnliche Mobilisierungsfähigkeit bewiesen, ohne schlicht auf die erwähnten Feindbilder zurückzugreifen. Als Jacques Chirac 1995 das "Frankreich der sozialen Ungleichheit" anprangerte und "eine Art mitfühlenden Neo-Gaullismus" entwickelte, gewann er als anfänglicher Außenseiter die Präsidentschaftswahl, musste sein Vorhaben aber schließlich den Maastricht-Kriterien unterordnen. Nicolas Sarkozy, der für kurze Zeit einen ähnlichen Versuch machte, wurde 2008 von der Finanzkrise jäh gestoppt und schwenkte wieder auf migrationspolitische Polemiken um. Und Boris Johnson, dessen "Levelling up"-Agenda sogar eingefleischte Labor-Wahlkreise umpolte, scheiterte schließlich an sich selbst.
Gibt es hier nicht einen Möglichkeitsraum, den eine regierungserfahrene, aber oppositionelle Partei wie die CDU nutzen kann? Verspricht eine mittelschichtsfreundliche, den dogmatischen Wirtschaftsliberalismus hinter sich lassende Reformpolitik, die Kulturkämpfen und migrationspolitischer Radikalität in beiden Richtungen skeptisch gegenübersteht, nicht Erfolg bei Wahlen? Biebricher zieht diesen Schluss nicht explizit. Aber wer seine Darstellung gelesen hat, der erkennt womöglich, dass vielleicht gar keine großartigen Visionen gefordert sind, sondern schon so etwas Dröges wie reformierte Grenzsteuerbeträge ein Mittel sein könnten, den eigenen Abstieg und die Gefahr der Selbstradikalisierung gleichzeitig abzuwenden. OLIVER WEBER
Thomas Biebricher: "Mitte/Rechts". Die Internationale Krise des Konservatismus.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 638 S., geb., 30,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Folgen konservativer Verlegenheiten: Thomas Biebricher widmet sich ausführlich europäischen Entwicklungen im rechten politischen Spektrum
In seinem vorletzten Buch analysierte Thomas Biebricher, seit Kurzem Heisenberg-Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte in Frankfurt, die Entwicklung des bundesrepublikanischen Konservativismus seit den Achtzigerjahren, dem er schlechterdings eine "Erschöpfung" attestierte. Schon damals erschien die "Freidemokratisierung" der Union zugleich Ursache und Symptom des Niedergangs zu sein: Immerhin ist es außerordentlich schwer, das Eintreten für eine entfesselte Ökonomie mit der Hoffnung zu vereinbaren, die Gesellschaft könnte dabei so heimelig und gemütlich bleiben wie eh und je. Spät, aber umso kräftiger schien sich zu bestätigen, was der Ideenhistoriker Panajotis Kondylis bereits 1986 für ausgemacht hielt: Heutige Konservative sind nichts weiter als Liberale, die auf ein paar Gedankenfetzen über die natürliche Ungleichheit der Menschen nicht verzichten wollen (F.A.Z. vom 17. März).
Mit "Mitte/Rechts" hat Biebricher nun eine Art Nachfolgebuch vorgelegt, das die Situation in der Bundesrepublik nur noch indirekt begutachten will, um stattdessen die "Schwächung, Radikalisierung oder das völlige Verschwinden der Kräfte eines gemäßigten Konservatismus" in Italien, Frankreich und Großbritannien zu erklären. Die Diagnose ist nicht ungewöhnlich, hält man sich zum Beispiel das Schicksal der Democrazia Cristiana vor Augen, die zuerst von Berlusconis Ein-Mann-Partei überrannt wurde, um schließlich der vornehmlich norditalienischen Lega und den Brüdern Italiens vollends das rechte Feld zu überlassen. In Frankreich existiert die gemäßigte Rechte zwar wenigstens noch, muss sich seit den Parlamentswahlen vor einem Jahr aber mit einer Nischenexistenz zufriedengeben.
Parteien, die einmal bedeutsam waren, verschwinden bisweilen - daran muss man per se keinen Anstoß nehmen. Biebricher geht allerdings von der einleuchtenden Annahme aus, dass das Schicksal moderner demokratischer Staaten zu guten Teilen daran hängt, ob diejenigen, die den projektierten Emanzipationsschritten und Kulturrevolutionen eher skeptisch gegenüberstehen, darauf aus sind, das "Rad der Zeit" mit aller Gewalt zurückzudrehen - egal, was das für die Stabilität des Gemeinwesens bedeutet. Denn ein radikalisierter Konservativismus, der sein Programm einer "normativen Natürlichkeit", die der Öffentlichkeit und dem Parlament entzogen sein soll, auch auf Kosten des "Metawerts der Stabilität" durchsetzen will, steht schnell quer zu den Institutionen des liberalen Rechtsstaats.
Der Hauptteil des Buches ist gegenüber dieser gedankenreichen Einleitung eher konventionell geraten: In drei Fallstudien widmet sich Biebricher ausgiebig der politischen Entwicklung des rechten Spektrums in Italien, Frankreich und Großbritannien seit dem Ende des Kalten Krieges, als der Konservatismus weitgehend auf einen wichtigen Angstgegner, den Kommunismus, verzichten musste. Die Rekonstruktion seiner programmatischen und personellen Einzelentscheidungen liegt nah an der Ereignisgeschichte, wie sie auch ein politischer Journalist erzählen würde. Das hat allerdings zur Folge, dass die abstrakt formulierte "Arbeitshypothese", der gemäßigte Konservatismus würde zwischen einem konsequenten Liberalismus und einem konsequenten Rechtsautoritarismus zerquetscht, sich am Material nur selten bewährt, was der Autor am Ende auch selbst zugibt.
Hilfreicher sind dagegen die induktiv gewonnenen fünf Gemeinsamkeiten, die im Schlusskapitel genannt werden: In allen drei Ländern kann seit den Neunzigerjahren eine Transformation des rechten Spektrums beobachtet werden, wobei altgediente Volksparteien mitsamt Gremienapparat durch sogenannte "Flash-Parteien" ersetzt werden (oder sich ihnen annähern), die eher den Charakter einer sozialen Bewegung haben, und - das ist die zweite Gemeinsamkeit - sich durch eine ausgeprägte Personalisierung der Führung auszeichnen. Das gilt für die Forza Italia des vor Kurzem verstorbenen Silvio Berlusconi ebenso wie für Emmanuel Macrons mittlerweile umbenannte La République En Marche oder die zwischenzeitlich auf Sebastian Kurz ausgerichtete Österreichische Volkspartei. Das bleibt nicht ohne Folgen, denn die Basis, auf die sich die Führungsfiguren berufen, ist meist radikaler eingestellt als die potentielle Wählerschaft.
Die drei weiteren Gemeinsamkeiten liegen auf der ideellen Ebene. Überzeugend beschreibt Biebricher, wie seit den Neunzigerjahren anstelle des äußeren Feindes des Kommunismus vielfach innere Feindbilder getreten sind: von der migrantischen, vornehmlich muslimischen Bevölkerung über die Technokraten der Europäischen Union bis zu den "woken" Kulturkämpfern an den Universitäten und in den Medien. Auffällig ist aber, dass alle drei für Christdemokraten denkbar wenig geeignet sind, langfristig größere Wählerschichten zu mobilisieren: In Sachen Flüchtlingspolitik beharrt nicht zuletzt der Vatikan immer wieder darauf, dass eine Anti-Willkommenskultur dem Gebot der Nächstenliebe widerstreitet. Die Wirtschaftsverbände schließen sich aufgrund des Arbeitskräftemangels der Empfehlung gerne an, zumal der Manövrierraum für eine grundsätzlich andere Politik auch verfassungsmäßig eng gesteckt ist. Wer hier reüssieren will, muss also christliche Grundsätze, wirtschaftliche Zukunftsfähigkeit und die eigene Verfassungstreue infrage stellen, wobei die rechtsautoritäre Konkurrenz immer im Vorteil sein dürfte, wie Biebricher überzeugend darlegt. Ähnliches gilt für "kulturelle Konflikte", bei denen es "regelmäßig ums Ganze" geht, und für die EU, auf die vielleicht ein Tory noch unbeschadet schimpfen darf, ein CDU-Mitglied aber nur zum Preis der Selbstverleugnung.
Ist der Untergang des gemäßigten Konservatismus, so fragt man sich am Ende, also auch hierzulande längst besiegelt? Man muss es nicht so sehen. Bei Biebricher finden sich immer wieder Episoden, in denen Mitte-rechts-Parteien eine außergewöhnliche Mobilisierungsfähigkeit bewiesen, ohne schlicht auf die erwähnten Feindbilder zurückzugreifen. Als Jacques Chirac 1995 das "Frankreich der sozialen Ungleichheit" anprangerte und "eine Art mitfühlenden Neo-Gaullismus" entwickelte, gewann er als anfänglicher Außenseiter die Präsidentschaftswahl, musste sein Vorhaben aber schließlich den Maastricht-Kriterien unterordnen. Nicolas Sarkozy, der für kurze Zeit einen ähnlichen Versuch machte, wurde 2008 von der Finanzkrise jäh gestoppt und schwenkte wieder auf migrationspolitische Polemiken um. Und Boris Johnson, dessen "Levelling up"-Agenda sogar eingefleischte Labor-Wahlkreise umpolte, scheiterte schließlich an sich selbst.
Gibt es hier nicht einen Möglichkeitsraum, den eine regierungserfahrene, aber oppositionelle Partei wie die CDU nutzen kann? Verspricht eine mittelschichtsfreundliche, den dogmatischen Wirtschaftsliberalismus hinter sich lassende Reformpolitik, die Kulturkämpfen und migrationspolitischer Radikalität in beiden Richtungen skeptisch gegenübersteht, nicht Erfolg bei Wahlen? Biebricher zieht diesen Schluss nicht explizit. Aber wer seine Darstellung gelesen hat, der erkennt womöglich, dass vielleicht gar keine großartigen Visionen gefordert sind, sondern schon so etwas Dröges wie reformierte Grenzsteuerbeträge ein Mittel sein könnten, den eigenen Abstieg und die Gefahr der Selbstradikalisierung gleichzeitig abzuwenden. OLIVER WEBER
Thomas Biebricher: "Mitte/Rechts". Die Internationale Krise des Konservatismus.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 638 S., geb., 30,- Euro.
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