Der Tübinger Historiker Gerhard Schulz, der zur Gründergeneration der Zeitgeschichtsforschung in der Bundesrepublik gehört, hat Zeit seines Lebens Tagebuch geführt. Besonders dicht ist die Beschreibung über die Jahre von 1945 bis 1950, die er in der SBZ/DDR verbrachte. Als Neulehrer und Student wurde er mit dem Bolschewisierungsprozess durch die SED konfrontiert. Er entfernte sich zunehmend von dem System, bis er 1950 nach West-Berlin überwechselte. Das Mitteldeutsche Tagebuch dokumentiert nicht nur die SED-Diktatur in ihrer Entstehungsphase an einem Einzelschicksal; es ist ebenso ein Beitrag zur Ausprägung des Weltbildes des jungen Gerhard Schulz.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.07.2009Asketisch
Historikertagebuch
Der Tübinger Historiker Gerhard Schulz führte von Jugend an Tagebuch. Drei Problemkreise durchziehen die hier edierten Aufzeichnungen des jungen Studenten in der Ostzone: zunächst der tägliche Kampf der vertriebenen Familie um das Überleben seit Kriegsende 1945, dann die Sorge um die Berufswahl und schließlich die Auseinandersetzung mit der Realität des diktatorischen Sozialismus, der ihn im Frühjahr 1950 zur Flucht nach West-Berlin trieb. Seine zunächst eher unbestimmt allgemeinen Reflexionen zum politischen Geschehen, zu seiner persönlichen Eignung und Berufung als Wissenschaftler gewinnen im Laufe der Jahre an Schärfe. Beobachtungen von Land und Leuten haben mitunter dichterische Kraft. Köstlich ist sein locker entworfenes Bild des schnodderigen Berliners, impressionistisch zart sind seine Kindheitserinnerungen an die Besuche bei den Großeltern in Hamburg.
Freude an wissenschaftlicher Arbeit, Überlegungen zur Aufgabe des Staates, fortlaufende Reflexionen über Sinn und Notwendigkeit des Geschichtsstudiums, über die im Marxismus theoretisch angelegten Möglichkeiten und über "die Impotenz des Bolschewismus, intellektuellen Menschen einen Weg in die Zukunft zu weisen", sind Leitmotive dieses Tagebuchs. Schulz war ein politisch denkender und handelnder Student, er engagierte sich früh in der LDP und wurde in den Studentenrat der Universität Leipzig gewählt. Die zunehmende Ausschaltung dieses demokratisch verfassten Gremiums durch die SED war eine von vielen bitteren Erfahrungen und Schikanen, die dem selbständig Denkenden das Studium erschwerten. In seiner Einleitung gibt Udo Wengst ein knappes Lebensbild und erläutert die Editionsrichtlinien. Persönlicher gehaltene Einträge, etwa zu ersten Liebesbeziehungen, sind nicht publiziert. Mangels näherer Kommentierung bleibt so das Bild eines asketischen jungen Mannes, dem das Feuer der Wissenschaft und die politische Auseinandersetzung zur Selbstfindung genügten.
HANS JOCHEN PRETSCH
Udo Wengst (Herausgeber): Gerhard Schulz. Mitteldeutsches Tagebuch. Aufzeichnungen aus den Anfangsjahren der SED-Diktatur 1945-1950. R. Oldenbourg Verlag, München 2009. 269 S., 34,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Historikertagebuch
Der Tübinger Historiker Gerhard Schulz führte von Jugend an Tagebuch. Drei Problemkreise durchziehen die hier edierten Aufzeichnungen des jungen Studenten in der Ostzone: zunächst der tägliche Kampf der vertriebenen Familie um das Überleben seit Kriegsende 1945, dann die Sorge um die Berufswahl und schließlich die Auseinandersetzung mit der Realität des diktatorischen Sozialismus, der ihn im Frühjahr 1950 zur Flucht nach West-Berlin trieb. Seine zunächst eher unbestimmt allgemeinen Reflexionen zum politischen Geschehen, zu seiner persönlichen Eignung und Berufung als Wissenschaftler gewinnen im Laufe der Jahre an Schärfe. Beobachtungen von Land und Leuten haben mitunter dichterische Kraft. Köstlich ist sein locker entworfenes Bild des schnodderigen Berliners, impressionistisch zart sind seine Kindheitserinnerungen an die Besuche bei den Großeltern in Hamburg.
Freude an wissenschaftlicher Arbeit, Überlegungen zur Aufgabe des Staates, fortlaufende Reflexionen über Sinn und Notwendigkeit des Geschichtsstudiums, über die im Marxismus theoretisch angelegten Möglichkeiten und über "die Impotenz des Bolschewismus, intellektuellen Menschen einen Weg in die Zukunft zu weisen", sind Leitmotive dieses Tagebuchs. Schulz war ein politisch denkender und handelnder Student, er engagierte sich früh in der LDP und wurde in den Studentenrat der Universität Leipzig gewählt. Die zunehmende Ausschaltung dieses demokratisch verfassten Gremiums durch die SED war eine von vielen bitteren Erfahrungen und Schikanen, die dem selbständig Denkenden das Studium erschwerten. In seiner Einleitung gibt Udo Wengst ein knappes Lebensbild und erläutert die Editionsrichtlinien. Persönlicher gehaltene Einträge, etwa zu ersten Liebesbeziehungen, sind nicht publiziert. Mangels näherer Kommentierung bleibt so das Bild eines asketischen jungen Mannes, dem das Feuer der Wissenschaft und die politische Auseinandersetzung zur Selbstfindung genügten.
HANS JOCHEN PRETSCH
Udo Wengst (Herausgeber): Gerhard Schulz. Mitteldeutsches Tagebuch. Aufzeichnungen aus den Anfangsjahren der SED-Diktatur 1945-1950. R. Oldenbourg Verlag, München 2009. 269 S., 34,80 [Euro].
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"Beobachtungen von Land und Leuten haben mitunter dichterische Kraft. Köstlich sein locker entworfenes Bild des schnodderigen Berliners, impressionistisch zart sind seine Kindheitserinnerungen..." Hans Jochen Pretsch, Faz, 20.7.2009 "Diese sorgfältige Edition stellt eine wichtige biographische Quelle dar und vermittelt zugleich anschaulich und in ihrer nicht geglätteten Widersprüchlichkeit interessante Einsichten in den ostdeutschen Nachkriegsalltag." Ilko Sascha-Kowalczuk, Historische Zeitschrift, Bd. 291, 2010