Mitten im Dschungel stürzt die kleine Propellermaschine ab und plötzlich sind Fred, Con, Lila und ihr kleiner Bruder Max auf sich allein gestellt. Wo sollen sie einen Unterschlupf und etwas zu essen finden. Und wie kommen sie aus diesem Urwald überhaupt wieder heraus? Immerhin ist ein Fluss in der Nähe und wilde Früchte, und Fred hat genug Abenteuerbücher gelesen, um ein Floß zu bauen. Aber ob das zum Überleben in der Wildnis reicht?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.01.2019Schule im Regenwald
Katherine Rundell schickt vier Kinder durch den brasilianischen Dschungel
"Manchmal ist es ein Abenteuer, wenn man ins Unbekannte aufbricht. Manchmal ist es ein Wort für Heimkehr", schreibt die englische Autorin Katherine Rundell in ihrem neuen Roman. Vier Wohlstandskinder - die Geschwister Lila und Max aus Brasilien, der Londoner Junge Fred und das ebenfalls englische Mädchen Con, das in den Ferien eine Klosterschule in Brasilien besuchen sollte - bilden als Überlebende eines Flugzeugabsturzes im Amazonasgebiet eine Schicksalsgemeinschaft. Das Buch schildert zwischen Hoffnung, Humor und verlorenem Gottvertrauen den Lagerkoller der Dschungelkinder, die im gefährlich wuchernden Möglichkeitsraum der Tropen Wege diskutieren, um zum rettenden Manaus zu gelangen. Und von einer sorglosen Zukunft träumen: Mitten im Dschungel macht das Quartett für den Überlebensfall eine Verabredung in der Zivilisation bei Kaffee und Kuchen im Hotel Ritz.
Zunächst findet das Quartett in einer verlassenen Hütte Unterschlupf. Die Kinder lernen, sich zu bescheiden, Arbeitsteilungen, Hierarchien zu bilden. Sie betrachten selbstentfachte Flammen voll "Besitzerstolz". Schwindende Zivilisationsanbindung geht mit dem Hören auf die Natur einher, wenn die Kinder auf der Suche nach dem Fluss einer Ameisenstraße folgen oder, statt eine Whatsapp zu verschicken, "eine Nachricht in den Boden kratzen". In versteckten Referenzen spielt Rundell mit Vorbildern wie dem "Dschungelbuch". Und Fred, der Abenteuerbücherleser, baut schließlich aus mit Lianen zusammengezurrten Ästen ein Floß, das sie bis nach Manaus bringen soll.
Die Unendlichkeitspanoramen des Urwalds wechseln mit Bildern des Überlebenskampfes, der von Hunger, Allergien und Albträumen bestimmt ist. Subtexte im Roman bilden die Macht der Landkarten und die Tragik der kolonialen Vermessung der Welt.
In einem auf einem Baum deponierten Tabaksbeutel findet Fred den "Zettel, der alles veränderte": Er weist den Weg zu einem ominösen mit "X" markierten Ort, den die Kinder alsbald statt des ungleich ferneren Manaus per Floß ansteuern. Nach gefährlicher Überfahrt treffen sie auf eine verborgene Ruinenstadt und deren einzigen Bewohner. Der abweisende Schrat, den die Kinder "Abenteurer" nennen, erinnert den in Eldorado- und Entdeckerliteratur belesenen Fred an Percy Fawcett, der zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts im Amazonasgebiet die versunkene Stadt "Z" suchte.
Doch statt sie nach Manaus zu geleiten, gibt der beinkranke Abenteurer Hilfe zur Selbsthilfe, verrät Jagdgeheimnisse und Fallenstellertricks. Im Verdunstungskreislauf der heilenden Tropen erfährt das "Rudel" Kinder jene Nähe und Liebe, die ihnen sonst verwehrt ist. Belebte Natur wie der geradezu gewieft erscheinende Wind, kichernde Bäume und die "silbernen Rücken" der Flüsse, die sich in der Phantasie mit Menschen verbünden, konterkariert die Unbedarftheit der Städter.
Frei von Didaktik gelingt es Rundell, eine dezente Ökokritik der Genese unseres Wohlstands zu vermitteln. Als Max krank wird, eröffnet sich zuletzt die Möglichkeit einer Rettung, denn der Abenteurer entpuppt sich als gestrandeter Pilot, der für alle Fälle sein lädiertes Gefährt wieder in Gang gesetzt hatte. So steuert Fred die Kinder Richtung Manaus. Zu gern würde der Junge nun allen von der vergessenen Amazonas-Stadt erzählen und in die Riege gefeierter Entdecker aufsteigen, doch die Kinder fühlen sich an das Schweigegelübde gebunden, das sie dem zurückgebliebenen Abenteurer, der Helden als Erfindung des Medienzeitalters verabscheut, zum Schutz der Kulturgüter und der Biodiversität gegeben hatten.
Rundells Roman erscheint so zugleich als Bewährungserzählung und Initiationsgeschichte. Auf einem Ozeandampfer kehren die Kids in ihre Familien, Schulklassen und englische Etiketten zurück. Auch die Verabredung im Hotel Ritz wird zwölf Jahre später eingelöst. Und offenbart dabei, wie folgenreich ihr Abenteuer noch immer ist. Trotz feiner Garderobe haben die vier das "große, grüne Geheimnis" des Regenwalds verinnerlicht. Die Auszeit am Amazonas und die Erinnerung an die Tropen nun zur Überlebensversicherung im Großstadtdschungel.
STEFFEN GNAM
Katherine Rundell: "Mitten im Dschungel". Roman.
Aus dem Englischen von Henning Ahrens. Carlsen Verlag, Hamburg 2018. 304 S., geb., 15,- [Euro]. Ab 11 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Katherine Rundell schickt vier Kinder durch den brasilianischen Dschungel
"Manchmal ist es ein Abenteuer, wenn man ins Unbekannte aufbricht. Manchmal ist es ein Wort für Heimkehr", schreibt die englische Autorin Katherine Rundell in ihrem neuen Roman. Vier Wohlstandskinder - die Geschwister Lila und Max aus Brasilien, der Londoner Junge Fred und das ebenfalls englische Mädchen Con, das in den Ferien eine Klosterschule in Brasilien besuchen sollte - bilden als Überlebende eines Flugzeugabsturzes im Amazonasgebiet eine Schicksalsgemeinschaft. Das Buch schildert zwischen Hoffnung, Humor und verlorenem Gottvertrauen den Lagerkoller der Dschungelkinder, die im gefährlich wuchernden Möglichkeitsraum der Tropen Wege diskutieren, um zum rettenden Manaus zu gelangen. Und von einer sorglosen Zukunft träumen: Mitten im Dschungel macht das Quartett für den Überlebensfall eine Verabredung in der Zivilisation bei Kaffee und Kuchen im Hotel Ritz.
Zunächst findet das Quartett in einer verlassenen Hütte Unterschlupf. Die Kinder lernen, sich zu bescheiden, Arbeitsteilungen, Hierarchien zu bilden. Sie betrachten selbstentfachte Flammen voll "Besitzerstolz". Schwindende Zivilisationsanbindung geht mit dem Hören auf die Natur einher, wenn die Kinder auf der Suche nach dem Fluss einer Ameisenstraße folgen oder, statt eine Whatsapp zu verschicken, "eine Nachricht in den Boden kratzen". In versteckten Referenzen spielt Rundell mit Vorbildern wie dem "Dschungelbuch". Und Fred, der Abenteuerbücherleser, baut schließlich aus mit Lianen zusammengezurrten Ästen ein Floß, das sie bis nach Manaus bringen soll.
Die Unendlichkeitspanoramen des Urwalds wechseln mit Bildern des Überlebenskampfes, der von Hunger, Allergien und Albträumen bestimmt ist. Subtexte im Roman bilden die Macht der Landkarten und die Tragik der kolonialen Vermessung der Welt.
In einem auf einem Baum deponierten Tabaksbeutel findet Fred den "Zettel, der alles veränderte": Er weist den Weg zu einem ominösen mit "X" markierten Ort, den die Kinder alsbald statt des ungleich ferneren Manaus per Floß ansteuern. Nach gefährlicher Überfahrt treffen sie auf eine verborgene Ruinenstadt und deren einzigen Bewohner. Der abweisende Schrat, den die Kinder "Abenteurer" nennen, erinnert den in Eldorado- und Entdeckerliteratur belesenen Fred an Percy Fawcett, der zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts im Amazonasgebiet die versunkene Stadt "Z" suchte.
Doch statt sie nach Manaus zu geleiten, gibt der beinkranke Abenteurer Hilfe zur Selbsthilfe, verrät Jagdgeheimnisse und Fallenstellertricks. Im Verdunstungskreislauf der heilenden Tropen erfährt das "Rudel" Kinder jene Nähe und Liebe, die ihnen sonst verwehrt ist. Belebte Natur wie der geradezu gewieft erscheinende Wind, kichernde Bäume und die "silbernen Rücken" der Flüsse, die sich in der Phantasie mit Menschen verbünden, konterkariert die Unbedarftheit der Städter.
Frei von Didaktik gelingt es Rundell, eine dezente Ökokritik der Genese unseres Wohlstands zu vermitteln. Als Max krank wird, eröffnet sich zuletzt die Möglichkeit einer Rettung, denn der Abenteurer entpuppt sich als gestrandeter Pilot, der für alle Fälle sein lädiertes Gefährt wieder in Gang gesetzt hatte. So steuert Fred die Kinder Richtung Manaus. Zu gern würde der Junge nun allen von der vergessenen Amazonas-Stadt erzählen und in die Riege gefeierter Entdecker aufsteigen, doch die Kinder fühlen sich an das Schweigegelübde gebunden, das sie dem zurückgebliebenen Abenteurer, der Helden als Erfindung des Medienzeitalters verabscheut, zum Schutz der Kulturgüter und der Biodiversität gegeben hatten.
Rundells Roman erscheint so zugleich als Bewährungserzählung und Initiationsgeschichte. Auf einem Ozeandampfer kehren die Kids in ihre Familien, Schulklassen und englische Etiketten zurück. Auch die Verabredung im Hotel Ritz wird zwölf Jahre später eingelöst. Und offenbart dabei, wie folgenreich ihr Abenteuer noch immer ist. Trotz feiner Garderobe haben die vier das "große, grüne Geheimnis" des Regenwalds verinnerlicht. Die Auszeit am Amazonas und die Erinnerung an die Tropen nun zur Überlebensversicherung im Großstadtdschungel.
STEFFEN GNAM
Katherine Rundell: "Mitten im Dschungel". Roman.
Aus dem Englischen von Henning Ahrens. Carlsen Verlag, Hamburg 2018. 304 S., geb., 15,- [Euro]. Ab 11 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Katherine Rundell ist ein Naturtalent darin, Tiefgründiges in einfache Sprache zu verpacken und so ohne Pathos, aber auch ohne belehrend zu wirken, [...] auf eine unterhaltsame Weise Botschaften zu vermitteln, über die man noch lange nachdenkt." Natalie Korobzow Alliteratus 20211101