Die Finanzaffäre der CDU hat nicht nur die Partei und die demokratische Kultur der Bundesrepublik in eine ihrer tiefsten Krisen gestürzt, sondern war auch der Auslöser für Wolfgang Schäubles Verzicht auf eine weitere Kandidatur als Parteivorsitzender. Im Rechenschaftsbericht über die Zeit seit der desaströsen Wahlniederlage der CDU von 1998 liefert er seine persönliche, aber zugleich objektiv nachvollziehbare Sicht der Dinge. Vor allem der Bruch und die Rivalität mit Helmut Kohl kommen zur Sprache, darüber hinaus beschreibt Schäuble schonungslos und selbstkritisch die sechzehn Monate seines Parteivorsitzes bis zum bitteren Ende. Er analysiert Veränderungen, Versäumnisse und Fehleinschätzungen der CDU und erläutert seine Vorstellungen über die Zukunftsperspektiven einer zur Mitte hin integrierenden Volkspartei im Rahmen des gesamteuropäischen Wertekonservatismus. Das Zusammenwachsen der Welt stellt schwerwiegende gesellschaftliche, wirtschaftliche, politische und kulturelle Her ausforderungen an Politik und Staat. Wolfgang Schäuble liefert mit seinem Buch einen der wichtigsten Beiträge von konservativer Seite zu ihrer Diskussion und langfristigen Bewältigung.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.10.2000Neben sich, außer sich
Wolfgang Schäuble bietet mehr als eine scharfe Abrechnung
Wolfgang Schäuble und der übermächtige Kanzler: Nicht nur physisch fühlte sich der ehemalige Bundesvorsitzende der CDU manchmal bedrängt.
Foto: dpa
WOLFGANG SCHÄUBLE: Mitten im Leben, C. Bertelsmann Verlag, München 2000. 347 Seiten, 42 Mark.
Manchmal zwischendurch, beim Atemholen oder Umziehen, fällt einen in dieser Hauptstadt die kleine Depression an und das Gefühl: Berlin knallt durch. Was hier zählt, sind wirklich nur noch die Oberfläche, der Schein, die schnelle Nachricht, der symbolische Augenblick und das Bild dazu. Alle sind ja jetzt Pop-Stars. Und niemand hat Zeit oder Interesse für wirkliche Analysen, für Zwischentöne, für komplizierte Sachthemen, für Thesen oder Prozessbeschreibungen, die sich nicht personalisieren und in Fünf-Zeilen-Meldungen unterbringen lassen.
Tagelang erhitzt man sich hier an der Frage, wer mit wem wo essen ging – und welche Koalitionsüberlegungen der politische Beobachter daraus ableiten soll. Oder, auch sehr lebensentscheidend: Wer stellt warum wessen Buch vor? Richard von Weizsäcker hat das von Kurt Biedenkopf vorgestellt, in dem leider nur sehr elegant mit Helmut Kohl abgerechnet wird. Heiner Geißler hat das Buch von Rita Süßmuth vorgestellt, das schon ein paar schärfere und auch sehr witzige Stellen zu bieten hat. Geißlers Buch – wer stellt eigentlich Geißlers Buch vor? Soll ja wirklich ganz schön happig sein.
Und dann hat Angela Merkel das Buch von Wolfgang Schäuble vorgestellt, was überhaupt nur ging, weil sie vorher Helmut Kohl wieder auf seinen schönen Denkmalssockel gehievt hatte. Schäuble stellt dafür das Buch von Hans-Olaf Henkel vor. Und in Henkels Buch steht: Schäuble ist der einzige und richtige Kanzlerkandidat der Union.
Falls es heiße Kapitel gibt in diesen Büchern, werden sie vorabgedruckt. Falls nicht, werden heiße Überschriften über die lauen Vorabdrucke gesetzt. Die Fahnen sind sowieso rechtzeitig herumgereicht worden. Und die Kollegen von dpa finden für uns alle zuverlässig die Stellen, aus denen man Schlagzeilen und Fünf-Zeilen-Meldungen machen kann. Ein paar Interviews und Talkshows. Und her mit dem nächsten Buch.
Lesen? Von Seite eins bis zum Schluss lesen? Oder wenigstens fragen, warum die Verleger heuer unbedingt glauben, ein Geschäft mit Politiker-Büchern machen zu können? War da vielleicht etwas? Haben wir in den letzten zehn Jahren am Ende ein einzigartiges Kapitel Geschichte erlebt? Und in den letzten sechzehn Jahren ein lehrreiches? Und erleben jetzt die Schlacht um die Deutungshoheit? Die Sieger regieren? Die Opposition schreibt Bücher?
Lesen also! Wolfgang Schäubles 347 Seiten zum Beispiel sind lesenswert. Ein authentischer, harter, spannender und im Subtext unendlich trauriger politischer Bericht vom Verlust der Macht. Ein analytisches Tagebuch der letzten zwei Jahre. Ein Lehrstück über Politik und Macht, über Loyalität und Verrat, über Freundschaft und Egozentrik, über die Deformationen und Erstarrungen der politischen Klasse – und der sie beobachtenden Journaille. Scheinbar kühl und mit beklemmend gebremsten Emotionen geschrieben. Dann aber doch immer wieder mit aufrichtigen, bestürzenden Untertönen. Als sei da einer beim Schreiben gleichzeitig neben sich und außer sich gewesen.
Wolfgang Schäuble analysiert und beschreibt glasklar und ohne jedes Selbstmitleid, enthüllt dann aber doch mit seinen Metaphern und Überschriften auch die persönliche Tragik des Protagonisten und Ich-Erzählers. Da ist die Abwahl des Kanzlerwahlvereins CDU nach 16 Jahren: ein entsetzliches, offenbar alles lähmendes Ereignis. Und das Weiterleben und Einrichten in der Opposition ist wie das Weiterleben und Einrichten im Rollstuhl. Die Zeit nach der Abwahl: „Eine Volkspartei auf der Intensivstation”, CDU und CSU – „ein pflegebedürftiges Verhältnis”. Die ersten gewonnenen Landtagswahlen nach der verlorenen Bundestagswahl: „Die Zeit der Rekonvaleszenz”. Und am Ende steht die „schmerzhafte Erkenntnis”, zu sehr „ein wesentlicher Bestandteil der 16 Jahre gewesen zu sein, um in der existenziellen Krise der Partei die nötigen chirurgischen Schnitte anbringen zu können, ohne mich dabei selbst mit zu verletzen”. Und dann die lebensgefährliche Krise, in der, wie bei Schiller so auch bei Schäuble, der See rast und ein Opfer will. Und es ja auch bekommt. Mitten im Leben.
Angriff und Verletzlichkeit
Als Moral von der Geschichte gibt es einen kleinen Exkurs zum Thema politische Führung, der sich wie ein Vademecum für Angela Merkel liest. „Die Angreifbarkeit und auch die Verletzlichkeit, der man in der obersten Führungsposition ausgesetzt ist, die hat man zu kennen, ehe man die Position anstrebt. ” Nach einer fundamentalen – und leider berechtigten – Medienkritik ist das Buch dann eigentlich zu Ende.
Aber: Ein wenig pflichtschuldig angehängt und wie aus einem politologischen Oberseminar wirkt das letzte, das programmatische Kapitel „Warum die Union gebraucht wird”. Schäuble empfiehlt sich hier seiner Partei zu Recht noch einmal als einer von denen, die Zukunft und Zusammenhänge denken und formulieren können. Er stellt auch die richtigen Fragen, arbeitet dann aber doch nur sehr vorsichtig die bekannte CDU-Agenda ab, ohne entscheidend neue Gedanken zu offenbaren. Europa und europäische Verfassung, Migration und Einwanderung, Föderalismus im Reformstau, Bildung, die neue soziale Frage, Globalisierung und Gentechnik.
Viele Fragen. Wenig neue Antworten. Es ist der noch tastende Versuch, einer Volkspartei, der im postideologischen Zeitalter das Profil, die Feindbilder und die Moral abhanden gekommen sind, neue Konturen zu geben. Ein bisschen mehr und anderes sollte aber schon sein – mehr als der nackte Kampf um die Macht. Mehr als politisches Management. Mehr als blinder, austauschbarer Pragmatismus. Und die kleine Depression ist nach dem Lesen auch nicht verschwunden.
EVELYN ROLL
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Wolfgang Schäuble bietet mehr als eine scharfe Abrechnung
Wolfgang Schäuble und der übermächtige Kanzler: Nicht nur physisch fühlte sich der ehemalige Bundesvorsitzende der CDU manchmal bedrängt.
Foto: dpa
WOLFGANG SCHÄUBLE: Mitten im Leben, C. Bertelsmann Verlag, München 2000. 347 Seiten, 42 Mark.
Manchmal zwischendurch, beim Atemholen oder Umziehen, fällt einen in dieser Hauptstadt die kleine Depression an und das Gefühl: Berlin knallt durch. Was hier zählt, sind wirklich nur noch die Oberfläche, der Schein, die schnelle Nachricht, der symbolische Augenblick und das Bild dazu. Alle sind ja jetzt Pop-Stars. Und niemand hat Zeit oder Interesse für wirkliche Analysen, für Zwischentöne, für komplizierte Sachthemen, für Thesen oder Prozessbeschreibungen, die sich nicht personalisieren und in Fünf-Zeilen-Meldungen unterbringen lassen.
Tagelang erhitzt man sich hier an der Frage, wer mit wem wo essen ging – und welche Koalitionsüberlegungen der politische Beobachter daraus ableiten soll. Oder, auch sehr lebensentscheidend: Wer stellt warum wessen Buch vor? Richard von Weizsäcker hat das von Kurt Biedenkopf vorgestellt, in dem leider nur sehr elegant mit Helmut Kohl abgerechnet wird. Heiner Geißler hat das Buch von Rita Süßmuth vorgestellt, das schon ein paar schärfere und auch sehr witzige Stellen zu bieten hat. Geißlers Buch – wer stellt eigentlich Geißlers Buch vor? Soll ja wirklich ganz schön happig sein.
Und dann hat Angela Merkel das Buch von Wolfgang Schäuble vorgestellt, was überhaupt nur ging, weil sie vorher Helmut Kohl wieder auf seinen schönen Denkmalssockel gehievt hatte. Schäuble stellt dafür das Buch von Hans-Olaf Henkel vor. Und in Henkels Buch steht: Schäuble ist der einzige und richtige Kanzlerkandidat der Union.
Falls es heiße Kapitel gibt in diesen Büchern, werden sie vorabgedruckt. Falls nicht, werden heiße Überschriften über die lauen Vorabdrucke gesetzt. Die Fahnen sind sowieso rechtzeitig herumgereicht worden. Und die Kollegen von dpa finden für uns alle zuverlässig die Stellen, aus denen man Schlagzeilen und Fünf-Zeilen-Meldungen machen kann. Ein paar Interviews und Talkshows. Und her mit dem nächsten Buch.
Lesen? Von Seite eins bis zum Schluss lesen? Oder wenigstens fragen, warum die Verleger heuer unbedingt glauben, ein Geschäft mit Politiker-Büchern machen zu können? War da vielleicht etwas? Haben wir in den letzten zehn Jahren am Ende ein einzigartiges Kapitel Geschichte erlebt? Und in den letzten sechzehn Jahren ein lehrreiches? Und erleben jetzt die Schlacht um die Deutungshoheit? Die Sieger regieren? Die Opposition schreibt Bücher?
Lesen also! Wolfgang Schäubles 347 Seiten zum Beispiel sind lesenswert. Ein authentischer, harter, spannender und im Subtext unendlich trauriger politischer Bericht vom Verlust der Macht. Ein analytisches Tagebuch der letzten zwei Jahre. Ein Lehrstück über Politik und Macht, über Loyalität und Verrat, über Freundschaft und Egozentrik, über die Deformationen und Erstarrungen der politischen Klasse – und der sie beobachtenden Journaille. Scheinbar kühl und mit beklemmend gebremsten Emotionen geschrieben. Dann aber doch immer wieder mit aufrichtigen, bestürzenden Untertönen. Als sei da einer beim Schreiben gleichzeitig neben sich und außer sich gewesen.
Wolfgang Schäuble analysiert und beschreibt glasklar und ohne jedes Selbstmitleid, enthüllt dann aber doch mit seinen Metaphern und Überschriften auch die persönliche Tragik des Protagonisten und Ich-Erzählers. Da ist die Abwahl des Kanzlerwahlvereins CDU nach 16 Jahren: ein entsetzliches, offenbar alles lähmendes Ereignis. Und das Weiterleben und Einrichten in der Opposition ist wie das Weiterleben und Einrichten im Rollstuhl. Die Zeit nach der Abwahl: „Eine Volkspartei auf der Intensivstation”, CDU und CSU – „ein pflegebedürftiges Verhältnis”. Die ersten gewonnenen Landtagswahlen nach der verlorenen Bundestagswahl: „Die Zeit der Rekonvaleszenz”. Und am Ende steht die „schmerzhafte Erkenntnis”, zu sehr „ein wesentlicher Bestandteil der 16 Jahre gewesen zu sein, um in der existenziellen Krise der Partei die nötigen chirurgischen Schnitte anbringen zu können, ohne mich dabei selbst mit zu verletzen”. Und dann die lebensgefährliche Krise, in der, wie bei Schiller so auch bei Schäuble, der See rast und ein Opfer will. Und es ja auch bekommt. Mitten im Leben.
Angriff und Verletzlichkeit
Als Moral von der Geschichte gibt es einen kleinen Exkurs zum Thema politische Führung, der sich wie ein Vademecum für Angela Merkel liest. „Die Angreifbarkeit und auch die Verletzlichkeit, der man in der obersten Führungsposition ausgesetzt ist, die hat man zu kennen, ehe man die Position anstrebt. ” Nach einer fundamentalen – und leider berechtigten – Medienkritik ist das Buch dann eigentlich zu Ende.
Aber: Ein wenig pflichtschuldig angehängt und wie aus einem politologischen Oberseminar wirkt das letzte, das programmatische Kapitel „Warum die Union gebraucht wird”. Schäuble empfiehlt sich hier seiner Partei zu Recht noch einmal als einer von denen, die Zukunft und Zusammenhänge denken und formulieren können. Er stellt auch die richtigen Fragen, arbeitet dann aber doch nur sehr vorsichtig die bekannte CDU-Agenda ab, ohne entscheidend neue Gedanken zu offenbaren. Europa und europäische Verfassung, Migration und Einwanderung, Föderalismus im Reformstau, Bildung, die neue soziale Frage, Globalisierung und Gentechnik.
Viele Fragen. Wenig neue Antworten. Es ist der noch tastende Versuch, einer Volkspartei, der im postideologischen Zeitalter das Profil, die Feindbilder und die Moral abhanden gekommen sind, neue Konturen zu geben. Ein bisschen mehr und anderes sollte aber schon sein – mehr als der nackte Kampf um die Macht. Mehr als politisches Management. Mehr als blinder, austauschbarer Pragmatismus. Und die kleine Depression ist nach dem Lesen auch nicht verschwunden.
EVELYN ROLL
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