Das Mobiltelefon vereint nicht nur unterschiedliche Kommunikationsformen in einem Gerät, sondern interagiert auch in hohem Maße mit den kulturellen Kontexten seiner Nutzung. Dieses wechselseitige Verhältnis von Kultur und Medienkommunikation stellt Corinna Peil in den Mittelpunkt einer umfassenden Analyse und Systematisierung des Hybrid- und Konvergenzmediums »Handy«. Als Untersuchungsfeld dient ihr dabei die mobile Medienkultur Japans, welche schon seit Jahren durch eine hohe Alltagsintegration und Anwendungsvielfalt mobiler Kommunikationstechnologien gekennzeichnet ist.
Die kultur- und aneignungsorientierte Perspektive der Studie trägt zu einem erweiterten Verständnis von Mobilkommunikation bei.
Die kultur- und aneignungsorientierte Perspektive der Studie trägt zu einem erweiterten Verständnis von Mobilkommunikation bei.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.09.2011Kindmädchen geben den Klingelton an
Wie das Handy die Idee des Zuhauses verwandelt: Corinna Peil untersucht die japanische Mobilitätskultur
In Japans Mobilitätskultur und Tokios Transiträumen ist das Handy ein Vorreiter bei der Konstruktion von Heimat, symbolischen Räumen und selektiven Gemeinschaften. Stadtraum, so legt Corinna Peil dar, wird nicht mehr als Ort erfahren, an dem man sich auf Fremde einlassen muss, sondern im privaten Rahmen mit Sinngehalten gefüllt. In den Endgeräten klingen psychologische Resonanzen des Heims nach, werden häusliche Rituale "enträumlicht". Das Austauschen und Archivieren von Alltäglichkeiten über Keitai-Kommunikate und Handyfotos ermöglicht virtuelle Wohngemeinschaften, die Illusion von Zweisamkeit und "Idee des Zuhauses".
Orte und Gemeinschaften werden durch Navigieren und Kommunizieren in spontanen Aneignungen und Besetzungen des Raumes neu erschaffen. Als Accessoires der Subkulturen helfen Handys, die Machtgeometrie öffentlicher Plätze zu unterlaufen. Während Zeitung und Zigarette Symbole männlicher Informationskultur waren, belagern heute mit üppig dekorierten Handys und blond gefärbten Haaren ausgestattete kogyaru (wörtlich "Kindmädchen") mit nonchalantem Sozialverhalten die Straßen vor Bahnhöfen und in belebten Vierteln.
Japans neue mobile Leitmedien entsprechen der vom Philosophen Tetsurô Watsuji für Asien ausgemachten Zeitordnung der Integration, die weniger von einer Ordnung des Nacheinander geprägt sei und nicht auf die Überwindung vergangener Zustände ziele. Im "Erreichbarkeits-Dilemma" der Moderne ist die Kehrseite des Mobilen ein vorgezogener Arbeitsbeginn etwa durch morgendliches Lesen beruflicher E-Mails im Zug. Auch in der Liebe und beim "Emotions-Management" dient das Handy als Schaltzentrale der Netzwerkgesellschaft, das neue Arten von Geschlechterbeziehungen generiert.
Das Buch stellt Praktiken wie die Konstruktion eines "telecocoon", also festen virtuellen Freundeskreises, und das Konzept der intimate strangers als Teil einer "Dating-Industrie" vor. Es zeigt Spielarten der Kontaktanbahnung von arrangierten Ehen hin zur Vermittlung über Onlineportale im historischen Medienwandel auf. Dabei legt sich die Telefon- oder Internetverbindung im sanktionsfreien Cyberspace wie eine "schützende Membran" um die Gesprächspartner. In den Fabrikationen der Niedlichkeit, in den Emoticons der E-Mails und technosozialen Selbstinszenierungen junger Frauen und Mädchen erkennt die Autorin eine Lösung aus der männlichen Deutungshoheit von Informations- und Kommunikationstechnologien und kreative Einbindung in weibliche Lebenswelten. Schließlich entstanden sogar mit dem Mobiltelefon getippte und zu konsumierende "Handyromane", von Laienautorinnen verfasste tragische Liebesgeschichten als trivialliterarisches Genre.
So bleibt zwischen Spiel und Subversion offen, ob die "Mobilisierung der Lebensstile" im technikaffinen Japan die alten Strukturen, Gesellschaftsbilder und Geschlechterrollen auf lange Sicht bestätigt oder untergräbt.
STEFFEN GNAM.
Corinna Peil: "Mobilkommunikation in Japan". Zur kulturellen Infrastruktur der Handy-Aneignung.
transcript Verlag, Bielefeld 2011. 394 S., br., 33,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie das Handy die Idee des Zuhauses verwandelt: Corinna Peil untersucht die japanische Mobilitätskultur
In Japans Mobilitätskultur und Tokios Transiträumen ist das Handy ein Vorreiter bei der Konstruktion von Heimat, symbolischen Räumen und selektiven Gemeinschaften. Stadtraum, so legt Corinna Peil dar, wird nicht mehr als Ort erfahren, an dem man sich auf Fremde einlassen muss, sondern im privaten Rahmen mit Sinngehalten gefüllt. In den Endgeräten klingen psychologische Resonanzen des Heims nach, werden häusliche Rituale "enträumlicht". Das Austauschen und Archivieren von Alltäglichkeiten über Keitai-Kommunikate und Handyfotos ermöglicht virtuelle Wohngemeinschaften, die Illusion von Zweisamkeit und "Idee des Zuhauses".
Orte und Gemeinschaften werden durch Navigieren und Kommunizieren in spontanen Aneignungen und Besetzungen des Raumes neu erschaffen. Als Accessoires der Subkulturen helfen Handys, die Machtgeometrie öffentlicher Plätze zu unterlaufen. Während Zeitung und Zigarette Symbole männlicher Informationskultur waren, belagern heute mit üppig dekorierten Handys und blond gefärbten Haaren ausgestattete kogyaru (wörtlich "Kindmädchen") mit nonchalantem Sozialverhalten die Straßen vor Bahnhöfen und in belebten Vierteln.
Japans neue mobile Leitmedien entsprechen der vom Philosophen Tetsurô Watsuji für Asien ausgemachten Zeitordnung der Integration, die weniger von einer Ordnung des Nacheinander geprägt sei und nicht auf die Überwindung vergangener Zustände ziele. Im "Erreichbarkeits-Dilemma" der Moderne ist die Kehrseite des Mobilen ein vorgezogener Arbeitsbeginn etwa durch morgendliches Lesen beruflicher E-Mails im Zug. Auch in der Liebe und beim "Emotions-Management" dient das Handy als Schaltzentrale der Netzwerkgesellschaft, das neue Arten von Geschlechterbeziehungen generiert.
Das Buch stellt Praktiken wie die Konstruktion eines "telecocoon", also festen virtuellen Freundeskreises, und das Konzept der intimate strangers als Teil einer "Dating-Industrie" vor. Es zeigt Spielarten der Kontaktanbahnung von arrangierten Ehen hin zur Vermittlung über Onlineportale im historischen Medienwandel auf. Dabei legt sich die Telefon- oder Internetverbindung im sanktionsfreien Cyberspace wie eine "schützende Membran" um die Gesprächspartner. In den Fabrikationen der Niedlichkeit, in den Emoticons der E-Mails und technosozialen Selbstinszenierungen junger Frauen und Mädchen erkennt die Autorin eine Lösung aus der männlichen Deutungshoheit von Informations- und Kommunikationstechnologien und kreative Einbindung in weibliche Lebenswelten. Schließlich entstanden sogar mit dem Mobiltelefon getippte und zu konsumierende "Handyromane", von Laienautorinnen verfasste tragische Liebesgeschichten als trivialliterarisches Genre.
So bleibt zwischen Spiel und Subversion offen, ob die "Mobilisierung der Lebensstile" im technikaffinen Japan die alten Strukturen, Gesellschaftsbilder und Geschlechterrollen auf lange Sicht bestätigt oder untergräbt.
STEFFEN GNAM.
Corinna Peil: "Mobilkommunikation in Japan". Zur kulturellen Infrastruktur der Handy-Aneignung.
transcript Verlag, Bielefeld 2011. 394 S., br., 33,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ob die vernetzte mobile Kommunikation in der Lage ist, japanische Geschlechterrollen und gesellschaftliche Konstellationen auf lange Sicht zu verändern, kann Steffen Gnam dieser Studie von Corinna Peil nicht entnehmen. Wie die Verschiebung im Einzelnen aussieht, wie das Private durch Handy und E-Mail den öffentlichen Raum erobert und wie junge Frauen technosozial, etwa mit Handydekos, an ihrem Image arbeiten, setzt ihm das Buch auseinander. Zumindest momentan sieht Gnam den männlichen Zeitungsleser Japans als vom Aussterben bedroht. Hinweggefegt von blondierten, den neuesten Handyroman verschlingenden Mädchen mit knallbunten Smartphones.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Besprochen in:
GMK-Newsletter, 9 (2011)
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.09.2011, Steffen Gnam
http://globalmediajournal.de, 26.04.2012, Iren Schulz
MEDIENwissenschaft, 1 (2013), Timo Kaerlein
GMK-Newsletter, 9 (2011)
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.09.2011, Steffen Gnam
http://globalmediajournal.de, 26.04.2012, Iren Schulz
MEDIENwissenschaft, 1 (2013), Timo Kaerlein