This volume assembles thirteen essays by two of the greatest British Germanists, Elizabeth Mary Wilkinson and Leonard Ashley Willoughby. The essays are presented chronologically from 1942 to 1969 and offer extraordinary insights into Goethe's works and Schiller's aesthetics. They demonstrate the ways in which and the extent to which Wilkinson and Willoughby in their thirty-five years of collaboration reshaped the study of Goethe and Schiller in the United Kingdom with their combination of critical intelligence, historical awareness and literary panache. These essays are fresh and immediate - not simply because Wilkinson and Willoughby wrote so well, but also because their arguments have much to contribute to literary studies in the present Age of Theory. By their analyses they show how Goethe and Schiller provide us with intellectual models and an understanding of the importance of art for life. 'Wholeness' is the key concept which permeates these essays; it is testimony to what criticism can achieve when the whole man and the whole woman act in unison.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2022Auch die Unendlichkeit braucht ein Gesicht
Der Anfang von fast allem: Jeremy Adlers Goethe-Biographie überhöht den Dichter zur Gründerfigur der europäischen Moderne.
Von Andreas Kilb
Mut hat dieses Buch. Es reiht sich ein in eine lange und ehrwürdige Prozession von Goethe-Biographien, die von Georg Simmel und Friedrich Gundolf bis zu Richard Friedenthal und Emil Staiger reicht und mit den Tausend- und Zweitausend-Seiten-Werken von Karl Otto Conrady und Nicholas Boyle gerade erst ein neues Gipfelplateau erreicht hat. Aber diese Ahnenreihe schreckt Jeremy Adler nicht, sie beflügelt im Gegenteil seine Entschlossenheit, den berühmten Vorgängern den Fehdehandschuh hinzuwerfen. Seine Studie soll, wie er anfangs erklärt, "eine neue Art von Buch" sein, eines, das "Goethes Rolle bei der Herausbildung der westlichen Zivilisation" darstellt - "und in gewisser Weise der modernen Zivilisation schlechthin". Nun könnte man einwenden, ebendiese Rolle hätten Simmel, Boyle und zahlreiche Goethe-Forscher von Ernst Cassirer bis Albrecht Schöne auch schon zu beleuchten versucht. Aber solche Nörgeleien prallen an der hochfliegenden Programmatik des Autors ab. Wie der Goethe-Verehrer Nietzsche tritt Jeremy Adler mit der Gewissheit eines Verkünders auf, und diese Haltung schützt ihn wie ein Harnisch vor jedem Zweifel an seiner Mission.
Adlers These lautet, überspitzt gesagt, dass Goethe am Anfang von fast allem steht, was sich in den vergangenen zweihundert Jahren entwickelt und ereignet hat. Mit ihm begannen die Romantik, aber auch der Historismus; die Erlebnislyrik und die Globalisierung des Denkens; die Autobiographistik und der moderne Kulturrelativismus; die Kritik an der kapitalistischen Arbeitsteilung und die Überwindung des Newton'schen Weltbilds. Vor allem aber - und dieser Akzent mag nicht nur Goethe-Kenner überraschen - ist der Dichter aus Weimar für den emeritierten Germanisten und Lyriker aus London der Mitbegründer des europäischen Liberalismus. Um diese Einschätzung zu belegen, hat Adler in Goethes Werk akribisch nach Fundstücken gesucht, denen er das Etikett "liberal" anheften kann. So bemerkt er zu Goethes Bonmot, die beste Regierung sei jene, "die uns lehrt, uns selber zu regieren", diese Betonung der "Selbstzucht" sei "ein zentrales Anliegen des liberalen Denkens".
Ein weiteres "Hauptmerkmal" dieses Denkens ist für ihn der "Wertepluralismus", den er in Goethes Lyrik wie in den zusammen mit Schiller verfassten Xenien erkennt. Den sichtbarsten Beleg für die liberale Gesinnung des Dichters aber findet Adler in dessen Bekanntenkreis: Goethe "verstand sich mit Humboldt und Constant gut", und es werde "allgemein anerkannt", dass Humboldt den deutschen Liberalismus begründet habe; seine Schriften, in denen er Goethes Werke zitiere, seien wiederum von John Stuart Mill rezipiert worden, bei dem man geradezu "von einer Goethe-Humboldt-Theorie sprechen" könne. Mit Benjamin Constant hingegen hat Goethe laut eigener Auskunft "angenehme, belehrende Stunden" verbracht, was es für Adler "kaum denkbar" erscheinen lässt, dass der Dichter nicht auch "mit seiner liberalen Politik sympathisiert" habe.
Das Einzige, was dem Biographen in seiner Beweisführung fehlt, ist eine konkrete Textstelle, in der Goethe sich als Liberaler outet. Diese Stelle gibt es nicht, so sehr sich Adler bemüht, etwa den "Faust" zur "Dichtung des Liberalismus katexochën" zu erheben, nur weil eine "damalige Definition" (aus dem "Brockhaus" von 1839) das "Ringen nach den höhern Gütern der Menschheit" den Liberalen zuschreibe. Dieselbe philologische Schwäche kennzeichnet jene Kapitel, in denen Adler den Dichter zum Vordenker von Marx und Engels, Karl Polanyi und Adam Smith, Ernst Mach und Einstein zu erklären versucht. In den Werken, auf die er sich bezieht, finden seine Thesen keinen Halt, und wenn man in Texten nachliest, die er zitiert, sagen sie oft das Gegenteil des ihnen Unterstellten - die erträumte Wiederbelebung der Zünfte in "Wilhelm Meisters Wanderjahre" beispielsweise meint keine "Vorläufer von Gewerkschaften" (Adler), sondern die Rückkehr zur vormodernen Gewerbeordnung, zu Ständestaat und Protektionismus.
Der Grund für dieses Missverhältnis zwischen schmaler, aus vielen Einzelteilen zusammengepuzzelter Textgrundlage und freihändiger Interpretation liegt in einem Strukturfehler der Studie. Adlers Ankündigung, es gehe ihm "weniger um die chronologische Nacherzählung eines Lebens", ist leider nur allzu ernst gemeint. Tatsächlich erfährt man, von einigen groben Skizzen abgesehen, über Goethes Lebensweg bei Adler so gut wie nichts. Cornelia, die Schwester, wird ein einziges Mal genannt, die Eltern, Charlotte von Stein, Marianne von Willemer, Carl August von Weimar und selbst Eckermann bleiben blasse Schatten. Zum "Werther" fällt Adler nichts ein, weil er Goethe nicht nach Wetzlar folgt ist, und die Qualen Tassos verortet er "auf dem Streckbett zwischen Mittelalter und Neuzeit" statt in der Weimarer Hofgesellschaft. In Ermangelung biographischer Bezüge verlegt sich Adler auf Spekulationen: Der "Egmont" ist für ihn von Rembrandt statt von Machiavelli inspiriert, und zu Tischbeins Gemälde fällt ihm Baldassare Castiglione ein, obwohl es "keine sicheren Belege" dafür gebe, dass Goethe dessen "Hofmann" gelesen hat.
Besonders bitter macht sich das Fehlen einer chronologischen Ordnung im interessantesten Kapitel des Buches bemerkbar: dem zu Goethes Antisemitismus. Hier reiht Adler Äußerungen verschiedener Lebensphasen aneinander, in denen Goethe mal als Verächter, mal als Verteidiger der Juden erscheint. Aufgabe eines Biographen wäre gewesen, die Zitate in Beziehung zum Umfeld zu setzen, in dem sie entstanden. Adler stellt nur lapidar fest, Goethes Haltung entspreche "dem schalen Vorurteil jener Zeit". So wird der dichtende Proteus, dessen Wandlungsfähigkeit er sonst nicht genug bewundern kann, zum starren Monolithen.
Dieses mutige Buch hat einen mächtigen Haken. Es verfehlt seinen Gegenstand, indem es ihn in den Himmel hebt, zum Phänomen macht, in dem "die Unendlichkeit selbst zum Ausdruck" komme, und darüber den Menschen vergisst, der er war. So tappt es im Dunkeln seiner eigenen Klugheit.
Jeremy Adler: "Goethe". Die Erfindung der Moderne. Eine Biographie.
Verlag C. H. Beck, München 2022.
655 S., Abb., geb., 34,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Anfang von fast allem: Jeremy Adlers Goethe-Biographie überhöht den Dichter zur Gründerfigur der europäischen Moderne.
Von Andreas Kilb
Mut hat dieses Buch. Es reiht sich ein in eine lange und ehrwürdige Prozession von Goethe-Biographien, die von Georg Simmel und Friedrich Gundolf bis zu Richard Friedenthal und Emil Staiger reicht und mit den Tausend- und Zweitausend-Seiten-Werken von Karl Otto Conrady und Nicholas Boyle gerade erst ein neues Gipfelplateau erreicht hat. Aber diese Ahnenreihe schreckt Jeremy Adler nicht, sie beflügelt im Gegenteil seine Entschlossenheit, den berühmten Vorgängern den Fehdehandschuh hinzuwerfen. Seine Studie soll, wie er anfangs erklärt, "eine neue Art von Buch" sein, eines, das "Goethes Rolle bei der Herausbildung der westlichen Zivilisation" darstellt - "und in gewisser Weise der modernen Zivilisation schlechthin". Nun könnte man einwenden, ebendiese Rolle hätten Simmel, Boyle und zahlreiche Goethe-Forscher von Ernst Cassirer bis Albrecht Schöne auch schon zu beleuchten versucht. Aber solche Nörgeleien prallen an der hochfliegenden Programmatik des Autors ab. Wie der Goethe-Verehrer Nietzsche tritt Jeremy Adler mit der Gewissheit eines Verkünders auf, und diese Haltung schützt ihn wie ein Harnisch vor jedem Zweifel an seiner Mission.
Adlers These lautet, überspitzt gesagt, dass Goethe am Anfang von fast allem steht, was sich in den vergangenen zweihundert Jahren entwickelt und ereignet hat. Mit ihm begannen die Romantik, aber auch der Historismus; die Erlebnislyrik und die Globalisierung des Denkens; die Autobiographistik und der moderne Kulturrelativismus; die Kritik an der kapitalistischen Arbeitsteilung und die Überwindung des Newton'schen Weltbilds. Vor allem aber - und dieser Akzent mag nicht nur Goethe-Kenner überraschen - ist der Dichter aus Weimar für den emeritierten Germanisten und Lyriker aus London der Mitbegründer des europäischen Liberalismus. Um diese Einschätzung zu belegen, hat Adler in Goethes Werk akribisch nach Fundstücken gesucht, denen er das Etikett "liberal" anheften kann. So bemerkt er zu Goethes Bonmot, die beste Regierung sei jene, "die uns lehrt, uns selber zu regieren", diese Betonung der "Selbstzucht" sei "ein zentrales Anliegen des liberalen Denkens".
Ein weiteres "Hauptmerkmal" dieses Denkens ist für ihn der "Wertepluralismus", den er in Goethes Lyrik wie in den zusammen mit Schiller verfassten Xenien erkennt. Den sichtbarsten Beleg für die liberale Gesinnung des Dichters aber findet Adler in dessen Bekanntenkreis: Goethe "verstand sich mit Humboldt und Constant gut", und es werde "allgemein anerkannt", dass Humboldt den deutschen Liberalismus begründet habe; seine Schriften, in denen er Goethes Werke zitiere, seien wiederum von John Stuart Mill rezipiert worden, bei dem man geradezu "von einer Goethe-Humboldt-Theorie sprechen" könne. Mit Benjamin Constant hingegen hat Goethe laut eigener Auskunft "angenehme, belehrende Stunden" verbracht, was es für Adler "kaum denkbar" erscheinen lässt, dass der Dichter nicht auch "mit seiner liberalen Politik sympathisiert" habe.
Das Einzige, was dem Biographen in seiner Beweisführung fehlt, ist eine konkrete Textstelle, in der Goethe sich als Liberaler outet. Diese Stelle gibt es nicht, so sehr sich Adler bemüht, etwa den "Faust" zur "Dichtung des Liberalismus katexochën" zu erheben, nur weil eine "damalige Definition" (aus dem "Brockhaus" von 1839) das "Ringen nach den höhern Gütern der Menschheit" den Liberalen zuschreibe. Dieselbe philologische Schwäche kennzeichnet jene Kapitel, in denen Adler den Dichter zum Vordenker von Marx und Engels, Karl Polanyi und Adam Smith, Ernst Mach und Einstein zu erklären versucht. In den Werken, auf die er sich bezieht, finden seine Thesen keinen Halt, und wenn man in Texten nachliest, die er zitiert, sagen sie oft das Gegenteil des ihnen Unterstellten - die erträumte Wiederbelebung der Zünfte in "Wilhelm Meisters Wanderjahre" beispielsweise meint keine "Vorläufer von Gewerkschaften" (Adler), sondern die Rückkehr zur vormodernen Gewerbeordnung, zu Ständestaat und Protektionismus.
Der Grund für dieses Missverhältnis zwischen schmaler, aus vielen Einzelteilen zusammengepuzzelter Textgrundlage und freihändiger Interpretation liegt in einem Strukturfehler der Studie. Adlers Ankündigung, es gehe ihm "weniger um die chronologische Nacherzählung eines Lebens", ist leider nur allzu ernst gemeint. Tatsächlich erfährt man, von einigen groben Skizzen abgesehen, über Goethes Lebensweg bei Adler so gut wie nichts. Cornelia, die Schwester, wird ein einziges Mal genannt, die Eltern, Charlotte von Stein, Marianne von Willemer, Carl August von Weimar und selbst Eckermann bleiben blasse Schatten. Zum "Werther" fällt Adler nichts ein, weil er Goethe nicht nach Wetzlar folgt ist, und die Qualen Tassos verortet er "auf dem Streckbett zwischen Mittelalter und Neuzeit" statt in der Weimarer Hofgesellschaft. In Ermangelung biographischer Bezüge verlegt sich Adler auf Spekulationen: Der "Egmont" ist für ihn von Rembrandt statt von Machiavelli inspiriert, und zu Tischbeins Gemälde fällt ihm Baldassare Castiglione ein, obwohl es "keine sicheren Belege" dafür gebe, dass Goethe dessen "Hofmann" gelesen hat.
Besonders bitter macht sich das Fehlen einer chronologischen Ordnung im interessantesten Kapitel des Buches bemerkbar: dem zu Goethes Antisemitismus. Hier reiht Adler Äußerungen verschiedener Lebensphasen aneinander, in denen Goethe mal als Verächter, mal als Verteidiger der Juden erscheint. Aufgabe eines Biographen wäre gewesen, die Zitate in Beziehung zum Umfeld zu setzen, in dem sie entstanden. Adler stellt nur lapidar fest, Goethes Haltung entspreche "dem schalen Vorurteil jener Zeit". So wird der dichtende Proteus, dessen Wandlungsfähigkeit er sonst nicht genug bewundern kann, zum starren Monolithen.
Dieses mutige Buch hat einen mächtigen Haken. Es verfehlt seinen Gegenstand, indem es ihn in den Himmel hebt, zum Phänomen macht, in dem "die Unendlichkeit selbst zum Ausdruck" komme, und darüber den Menschen vergisst, der er war. So tappt es im Dunkeln seiner eigenen Klugheit.
Jeremy Adler: "Goethe". Die Erfindung der Moderne. Eine Biographie.
Verlag C. H. Beck, München 2022.
655 S., Abb., geb., 34,- Euro.
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