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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.1995

Licht und Schatten der Tütenlampe
Axel Schildt enthüllt das Janusgesicht der fünfziger Jahre / Von Anselm Doering-Manteuffel

Nicht wenige registrierten es mit ungläubigem Staunen, als Anfang der achtziger Jahre plötzlich ein regelrechter Kult um das Jahrzehnt des Wiederaufbaus in Westdeutschland entstand. Nostalgisch verklärt wurden Erinnerungen an die "fuffziger Jahre" beschworen. Pepita-Dessins lagen in den Schaufenstern, Nierentisch und Tütenlampe wurden plötzlich zu Gegenständen liebevoller antiquarischer Zuwendung. Mit der Warenwelt wurde auch das Lebensgefühl jener Zeit beschworen, das sich aus der Rückschau recht beschwingt und zukunftsfroh ausnahm. Kaum ein Gedanke an Trümmer und Armut, obwohl gerade um 1980 Dokumentationen über Flüchtlingselend und Schwarzmarktzeit viele Käufer fanden. Ein scharfer Kontrast obendrein zum damals verbreiteten Urteil über das politische Profil der fünfziger Jahre, die vielfach als Zeit der kapitalistischen bürgerlichen Restauration hingestellt wurden, wo konservative alte Männer geherrscht und die Menschen vor sich hin geschuftet hatten, um zu Wohlstand zu kommen und darüber ihren Anteil am kollektiven Mitläufertum im Dritten Reich zu verdrängen. Das waren kraß unterschiedliche Sichtweisen auf die Epoche zwischen der Währungsreform und dem Godesberger Programm der SPD, zwischen der Gründung der beiden deutschen Teilstaaten und dem Mauerbau.

Der Hamburger Zeithistoriker Axel Schildt hat diesen Kontrast kreativ genutzt und sich der schwierigen Aufgabe angenommen, die materiellen Bedingungen für das Lebensgefühl in den fünfziger Jahren zu erforschen und die unterschiedlichen Strömungen der öffentlichen Meinung zu untersuchen, die den "Zeitgeist" in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre prägten. Das Ergebnis ist ein spannendes, ungemein informatives Buch, nach dessen Lektüre der Leser ein präzises Verständnis gewonnen hat für die Ambivalenzen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit und im geistigen Klima des Nachkriegsjahrzehnts. Armut, Beengtheit und ein zukunftsfroher Optimismus, Dumpfheit und Beschwingtheit durchdrangen sich gegenseitig.

Schildt geht der Frage nach der Modernisierung im Wiederaufbau nach und zielt damit geradewegs auf den Gegensatz zwischen den verschiedenen Sichtweisen. Schon der von den Zeitgenossen verwendete Begriff "Wiederaufbau" statt Neuaufbau zeigte an, daß es restaurative Tendenzen gab, die nicht bloß - und nicht einmal vorrangig - die Politik betrafen, sondern auch die materiellen und ideellen Vorstellungen in weiten Kreisen der Bevölkerung. Zugleich aber vollzog sich mit dem Wiederaufbau ein Prozeß tiefgreifender Veränderungen in den äußeren Lebensbedingungen und in den subjektiven Einstellungen und Wertorientierungen. Ein rasanter Modernisierungsschub bewirkte in anderthalb Jahrzehnten, daß aus dem Wiederaufbau doch nahezu ein Neuaufbau wurde.

Wert und Witz des Buches liegen darin, daß die einzelnen Phänomene des gesellschaftlichen Wandels nicht essayistisch skizziert, sondern anhand eines reichen Quellenmaterials höchst anschaulich beschrieben und erklärt werden. Schildt hat Meinungsumfragen und andere sozialwissenschaftliche Erhebungen systematisch ausgewertet, um darlegen zu können, was in den fünfziger Jahren eigentlich Freizeit war und wie sich das Freizeitverhalten entwickelte. Er hat in Rundfunk-und Pressearchiven gearbeitet, um den Funktionswandel der Massenmedien zu erforschen, und er hat aus etwa sechzig Zeitschriften den "Zeitgeist" im Wiederaufbaujahrzehnt rekonstruiert. Das Ergebnis überzeugt.

Am historischen Stoff wird gezeigt, daß die fünfziger Jahre den letzten Abschnitt einer Epoche gesellschaftlicher Entwicklung in Deutschland bildeten, die nach dem Ersten Weltkrieg begann und bis 1960 ihr Ende gefunden hatte. Der Leser kann nachvollziehen, daß die Lebensformen im Nachkriegsjahrzehnt größere Ähnlichkeiten etwa mit den dreißiger Jahren aufwiesen als mit der Gegenwart, und er erkennt, daß in den fünfziger Jahren die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und mentalen Veränderungen einsetzen, die dann die sechziger Jahre prägten und von den Soziologen mit dem Terminus "Strukturbruch der Moderne" belegt wurden.

Wer heute die Debatten über Samstagsarbeit und Ladenschlußzeiten verfolgt oder die bevorzugten Urlaubsziele von Angestellten und Selbständigen studiert, kann bei Schildt einen Blick in eine völlig andere Welt tun. In den frühen und mittleren fünfziger Jahren arbeiteten die Menschen 48 bis 50 Stunden, einschließlich des Samstagvormittags. Die knappe abendliche Freizeit verbrachte man ganz überwiegend zu Hause, und auch am Wochenende dominierte die auf die Familie bezogene Häuslichkeit. Änderungen setzten ein, als im letzten Drittel des Jahrzehnts der arbeitsfreie Samstag eingeführt wurde und mit dem Wohlstand der Kauf eines Autos auch für den Arbeitnehmer möglich wurde. Jetzt diente der Samstag den familienkonformen Tätigkeiten, und der Sonntag war frei für den Ausflug mit dem Auto - Beginn des motorisierten Wochenendes, wie wir es kennen.

Eine Urlaubsreise war Luxusware. Die Reiseziele lagen fast ausnahmslos in Deutschland, das Verkehrsmittel war die Bahn. Reisen, die von staatlicher, betrieblicher oder gewerkschaftlicher Seite organisiert waren und damit sowohl an das KdF-Vorbild erinnerten als auch an die Gegebenheiten in der DDR gemahnten, wurden radikal abgelehnt. Das Tourismusgewerbe knüpfte zwar an das Modell der Gesellschaftsreise aus der Zwischenkriegszeit an, aber um 1960 nutzte doch erst eine Minderheit von 15 Prozent aller Urlaubsreisenden ein Reisebüro zur Vermittlung.

Die Scheidelinie, von der aus die Entwicklungsstränge nicht länger aus dem Gestern zu kommen schienen, sondern in die Gegenwart wiesen, macht Schildt um 1957 herum aus. Damals setzte der bis heute unaufhaltsame Wandel im Verkehrswesen ein. Der öffentliche Personenverkehr begann abzunehmen, die Anzahl der zugelassenen Autos überstieg erstmals die der Krafträder, und der Pkw erreichte fast die gleiche Bedeutung für die Urlaubsreise wie die Eisenbahn. 1958 war das erste Jahr, in dem mehr Bundesbürger ins Ausland reisten, als Ausländer in die Bundesrepublik kamen.

Überhaupt markierte das Jahr 1957 Grenze und Umschwung. Das gilt in der Politik, wo einerseits Adenauers CDU die absolute Mehrheit errang und die Kanzlerdemokratie den Zenit durchlief, wo andererseits sich die SPD für Godesberg zu rüsten begann. Es galt in der Industrie, die jetzt nicht mehr nur nach zusätzlichen Arbeitskräften suchte, sondern verstärkt nach Möglichkeiten zu betrieblicher Rationalisierung, um die Voraussetzungen für Arbeitszeitverkürzungen zu schaffen: Das ermöglichte den arbeitsfreien Samstag und damit neue Formen der Lebensführung. Es galt in Wissenschaft und Technik, wo der durch den ersten sowjetischen Weltraumversuch ausgelöste "Sputnik-Schock" bewirkte, daß die Erforschung neuer Technologien im atomaren Sektor gefördert wurden. Und es betraf neben den Bereichen Verkehrswesen und Tourismus auch die Medienlandschaft, denn bald nach 1957 überstieg die Zahl der angemeldeten Fernsehapparate erstmals die der Kinositze. Das Kinosterben setzte ein, und die Fernsehgesellschaft entstand.

Es gehört in dieses Bild, daß die fünfziger Jahre den Höhepunkt und das Ende des Radiozeitalters erlebten. Im letzten Drittel des Jahrzehnts beeinflußte nicht länger das Radio-, sondern das Fernsehprogramm die Einteilung der freien Zeit. Radiohören begleitete andere Tätigkeiten und wanderte ins Auto. Das Fernsehen erzeugte andere Formen der Geselligkeit, die sich um Unterhaltungssendungen und Sportberichterstattungen gruppierten.

Axel Schildt verzahnt nun diese faktenreichen Informationen mit den Trends in der öffentlichen Meinung. So kann er die zuvor geschilderten Veränderungen im Alltag, die Modernisierung des Konsums, der Freizeit, der Massenmedien, in publizistischen Kommentaren spiegeln. Das Janusgesicht der fünfziger Jahre bildete sich deutlich ab.

Es gab vor allem in den beiden ersten Dritteln des Jahrzehnts eine intensive kulturpessimistische Diskussion, die sich an Themen wie "Technik", "Massengesellschaft" und "Entfremdung" ankristallisierte und damit geistige Strömungen, Denkhaltungen, politische Einstellungen und Vorurteile aus der Zwischenkriegszeit in die Nachkriegszeit hinübertrug. Die Debatten über "Vermassung" - mit Bestsellern wie Ortega y Gassets "Der Aufstand der Massen" und Sedlmayrs "Verlust der Mitte" - bündelten die konservative Ablehnung gegenüber den individualistischen Tendenzen der marktwirtschaftlich abgestützten Massendemokratie.

Kulturpessimistischer Konservativismus beeinflußte das geistige Klima der fünfziger Jahre bis über die Mitte des Jahrzehnts hinaus. Seine Distanz zur Demokratie nicht so sehr als politischer, aber um so mehr als gesellschaftlicher Lebensform sowie die oftmals feindliche Ablehnung von amerikanisch geprägten Modernisierungsvorgängen in der Alltagswelt zeigte, daß hier der Schatten der späten Weimarer Republik auf die junge Bundesrepublik fiel. Im katholischen Lager bündelte sich das in der Rede vom "christlichen Abendland", welches einen Hort bilden müsse gegen "Vermassung", um "abendländische" Identität sowohl gegen den kommunistischen Osten als auch gegen Kapitalismus und Massengesellschaft im atlantischen Westen zu bewahren.

Gegen die im Gestern verankerte Kritik an den Entwicklungslinien der fünfziger Jahre stand eine stärker gegenwartsnahe und in die Zukunft offene Haltung in bürgerlichen, auch in kirchlichen Kreisen, die sowohl liberale als auch konservative oder linke Auffassungen umfaßte. Hier gab es grundsätzliche Zustimmung zur Demokratie als politischer und sozialer Lebensform, nicht selten verknüpft mit dem Hinweis, daß die Bundesrepublik auf diesem Weg noch längst nicht weit genug vorangekommen sei. Aber die materiellen Auswirkungen der neuen marktwirtschaftlichen und liberaldemokratischen Ordnung wurden mit Skepsis und Unbehagen kommentiert.

Dies sind die dichtesten Passagen des Buchs. Unter den Stichworten Konsum, Freizeit und Medien breitet Schildt das Panorama publizistischer Reflexion über die Modernisierung des Alltags aus, die er bis dahin als äußeren Vorgang aus den Quellen rekonstruiert hat. Er setzt nun den historisch-empirischen Befund zum zeitgenössischen Kommentar in Beziehung, wodurch sein Bild der fünfziger Jahre besondere Tiefenschärfe erhält. Schildt staunt über die Geschwindigkeit, mit der sich die Rede vom "Konsumzeitalter" in einer Zeit ausbreitete, als der Wohlstand noch höchst bescheiden war. Doch schon 1955 wurde Konsumkritik von rechts bis links zu einem Topos des publizistischen Kommentars zur gesellschaftlichen Entwicklung. Darin konnten sich antikapitalistische Auffassungen von links oder elitäre konsumasketische Meinungen von rechts verschwistern.

In der Diskussion über Freizeit und Arbeitszeitverkürzung kulminierten alte gewerkschaftliche Forderungen aus den Jahren der Weimarer Republik und kirchliche Bedenken gegen die Profanisierung des Wochenendes durch den Verlust der Sonntagsheiligung. Der in den fünfziger Jahren einsetzende Wandel der Freizeitgestaltung weg vom Wochenende mit dem sonntäglichen Kirchgang und hin zum säkularisierten "Weekend" mit Autoausflug ins Grüne schlug sich in den Kommentaren nieder und ließ erkennen, daß die grundsätzliche Zufriedenheit mit der materiellen Aufwärtsentwicklung doch in starkem Maß mit einem Unbehagen an den ideellen Begleiterscheinungen verbunden blieb.

Schildt beschließt seine Darstellung mit einem anregenden Kapitel über die Bedeutung der Vereinigten Staaten und der Amerikanisierungseinflüsse für die junge Bundesrepublik. Die Vereinigten Staaten galten als das Musterland einer "modernen" Zivilisation, und obwohl der traditionelle europäische Dünkel, kulturell höher zu stehen, auch weiterhin spürbar blieb, wurde jetzt doch der Vorbildcharakter der amerikanischen Ordnung, der Demokratie als politischer und gesellschaftlicher Lebensform, herausgestrichen. In der Sprache der Systemkonkurrenz im Ost-West-Konflikt hieß es dann 1960, daß die Vereinigten Staaten die bisher größte Annäherung einer modernen Nation an eine klassenlose Gesellschaft darstellten. Das korrespondierte mit der soziologischen Diagnose, wonach sich in der Bundesrepublik eine "nivellierte Mittelstandsgesellschaft" herauszubilden begann. Die Vereinigten Staaten waren in vieler Hinsicht Impulsgeber für die Modernisierung der westdeutschen Gesellschaft.

Das Janusgesicht der fünfziger Jahre blickte in eine mitteleuropäische und nationale Vergangenheit und in eine westlich-atlantische und transnationale Zukunft. In diesem Jahrzehnt wirken Tradition und Neuorientierung in besonders ausgeprägter Weise zur gleichen Zeit. Axel Schildts wichtiges Werk gibt plausible Erklärungen dafür, daß Modernisierung und Wiederaufbau, Beengtheit und Beschwingtheit zwei Seiten derselben Medaille waren. Schließlich blieben auch die Schaufenster mit den Pepita-Dessins noch für längere Zeit von Trümmergrundstücken umgeben, doch die versteckten sich hinter Plakatwänden mit Werbesprüchen an die Konsumgesellschaft. Das Neue dominierte schon früh.

Axel Schildt: "Moderne Zeiten". Freizeit, Massenmedien und ,Zeitgeist' in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre. Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, Band 31. Hans ChristiansVerlag, Hamburg 1995. 733 S., geb., 88,- DM.

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