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In diesem Buch analysiert der bekannte Philosoph Hermann Lübbe anhaltende Trends sozialer, kultureller und politischer Entwicklung. Das Ergebnis ist eine überraschende Philosophie zivilisatorischer Evolution. Komplementär zur wissenschaftlich-technischen und wirtschaftlichen Globalisierung verlaufen Prozesse der Selbstorganisation kleiner Einheiten, und Herkunftswelten werden revitalisiert - lokal und national, kulturell und religiös. Angesprochen werden nicht nur Fachphilosophen, sondern auch Sozialwissenschaftler, Ökonomen und Kulturwissenschaftler und ebenso auf Orientierung bedachte…mehr

Produktbeschreibung
In diesem Buch analysiert der bekannte Philosoph Hermann Lübbe anhaltende Trends sozialer, kultureller und politischer Entwicklung. Das Ergebnis ist eine überraschende Philosophie zivilisatorischer Evolution. Komplementär zur wissenschaftlich-technischen und wirtschaftlichen Globalisierung verlaufen Prozesse der Selbstorganisation kleiner Einheiten, und Herkunftswelten werden revitalisiert - lokal und national, kulturell und religiös. Angesprochen werden nicht nur Fachphilosophen, sondern auch Sozialwissenschaftler, Ökonomen und Kulturwissenschaftler und ebenso auf Orientierung bedachte Praktiker, Unternehmer, (Europa-)Politiker und Journalisten sowie Gegenwartsinteressierte und Zukunftsbesorgte. Die Beiträge sind sorgfältig aufeinander abgestimmt und vermitteln ein eindrucksvolles Bild unserer Gegenwart.
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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.03.1998

Das Mensaessen muß teurer werden
Was Hermann Lübbe so alles für pragmatisch hält - und was dahintersteckt

Hermann Lübbe, der ein brillanter Autor ist, legt gleich im Vorwort dar, was die Philosophie zivilisatorischer Evolution ausmacht, zu der seine gesammelten Aufsätze und Interviews der neunziger Jahre sich zusammenfügen sollen: Modernisierung bestehe in einer Verdichtung der Netze, in denen unsere wechselseitigen Abhängigkeiten sich realisieren. Mit der Verdichtung gehe eine Angleichung der Zugangschancen zu diesen Netzen einher, die wiederum die Vorzugsstellung der Metropolen und kulturelle wie politische Grenzen auflöse. Kein Grund bestehe indes zu zivilisationskritischer Furcht vor Nivellierung. Komplementär zur Vereinheitlichung wachse das Interesse an regionalen Identitäten, der Wille zur Selbstbestimmung in kleinen Räumen. Dies sei auch vernünftig, da die fernen Zentralverwaltungen auf lokale Gegebenheiten nicht schnell genug reagieren könnten. Das wirkliche Problem liege vielmehr in der moralischen Überforderung durch die immer schneller sich wandelnde Wirklichkeit wie durch die immer größeren Freiheitsgewinne.

Das alles ist, um eine Lieblingswendung von Lübbe zu gebrauchen, recht trivial - und die Trivialität der Theoreme verliert sich natürlich auch nicht durch die Fülle kenntnisreich ausgebreiteter Beispiele. Nicht trivial dagegen, so geht die Wendung weiter, seien die Folgen. Nur, was sind die Folgen? "Wie anders, o Lübbe?" möchte man bei so manchem Aufsatz ausrufen, ungeduldig, daß der Meister endlich aufdecke, warum er Selbstverständliches so umständlich vergegenwärtigt. Keineswegs dürfe man, heißt es zum Beispiel im Aufsatz "Die Familie im Emanzipationsprozeß", die abgesunkene Verläßlichkeit des Eheversprechens als Zeichen des Moralverfalls deuten. Es gebe nur heute wie nie zuvor soziale Alternativen zum Ehestand, der oft genug ein Emanzipationshindernis darstelle. Andererseits ist die Familie "für die Heranbildung des Individuums zur Selbstbestimmungsfähigkeit" nicht zu ersetzen. Tja!

Ein Aufsatz über die "moralische Rationalität des Völkermordes" führt aus, daß der politische Terror ein Versuch gewesen sei, "der desorientierungsträchtigen Moderne in die Gewißheiten einer Geschichtsideologie zu entkommen". Nicht aus entfesselter instrumenteller Vernunft, sondern aus der "absoluten Dominanz ideologisch ausgelegter Wertrationalität, der Perhorreszierung bloß individueller Interessen, aus Antipragmatismus - kurz: aus ,Idealismus'" sei zumal der Holocaust zu erklären. Sicher, Hitler hatte Überzeugungen.

Erst das Nebeneinander der Aufsätze erlaubt einen Blick auf die schwarze Katze im Sack. Die Fehler der Nationalsozialisten ähneln nämlich den immer erneut angeprangerten Fehlern der deutschen Intellektuellen: Pragmatismusschwäche, Prinzipieninflation, Gesinnungsdenken, moralische Verdammung des Gegners, unzureichende Kenntnis realer Wirkungszusammenhänge, "die Unfähigkeit zu einer Politik pragmatischen Interessenausgleichs ohne Aussicht auf prinzipiellen Konsens". Das klingt erst einmal, um eine weitere stereotype Wendung Lübbes zu benutzen, recht plausibel. Aber ähneln die Nationalsozialisten und die heutigen Linken sich wirklich darin, daß sie Überzeugungen haben? Kommt es nicht eher darauf an, um welche Überzeugungen es sich handelt?

Näher besehen, zeigt sich am Lob des Pragmatismus eine häßliche Seite. Das Handeln, das den Blick vom prinzipiellen Konsens abwendet, wird schnell strategisch. Ihm liegen natürlich ebenfalls Überzeugungen zugrunde. Aber es stellt sie nicht zur Disposition, legt sie nicht offen, sondern versucht, sie am Gegner vorbei durchzusetzen. Das gilt für die Politik, die Lübbe entwirft, und es gilt für sein eigenes Schreiben. Lübbe ist ein politischer Denker im doppelten Sinne. Er wirft seinen Überzeugungen den purpurnen Mantel philosophischer Allgemeinheiten über. Ein offenes Lob der Kleinfamilie, ein Tadel berufstätiger Mütter etwa könnte mißverstanden werden. Aber für die Erziehung zur Mündigkeit ist die Familie, so sind nun einmal die realen Wirkungszusammenhänge, nicht zu ersetzen. Das Argument übergeht (pragmatisch) die (prinzipielle) Diskussion alternativer familiärer Lebensformen, und es vermeidet den Schluß: Wenn in der Moderne die einzelnen durch die objektiv notwendige Entscheidung zur Familie moralisch überfordert sind, müssen wir sie politisch lenken.

Die Menschen werden durch die Modernisierung, deren Vorzüge von "bezwingender Evidenz" seien, überfordert. Nicht in der Modernisierung also liege das Problem, sondern in den Menschen. "Sie bedürfen unserer Hilfe." Zumal wenn sie durch die moralischen Prinzipien der Intellektuellen fehlgeleitet werden. Die Politik, deren Wesen "dezisionistisch" ist, dürfe sich nicht durch die plebiszitären Tendenzen der "Betroffenheitsdemokratie" irritieren lassen. Erschwerend wirken jedoch die "Vertrauensdefizite" angesichts komplexitätsbedingt erfahrungsferner werdender Problemlagen. Der Verlust muß kompensiert werden. Tatsächlich ist Lübbes berühmtes Argument, die europäische Zentralisierung werde durch eine Stärkung der ostfriesischen Identität aufgewogen, ja ganz unplausibel. Die Ostfriesen mögen noch so identisch werden - wenn sich die Entscheidungsspielräume verengen, bleibt das politisch folgenlos. Der kommunalen Partizipation, mit der man einlullt, wenn es greint, das Volk, den großen Lümmel, steht eine Symbolpolitik zur Seite. Zwar habe es historisch seinen guten Sinn, daß die Zentren politischer wie ökonomischer Macht in die Provinz verlagert werden. Dennoch sei die Entscheidung für Berlin als Hauptstadt richtig, da der "aktuelle Funktionalismus" "symbolische Repräsentanz" nur durch die historische oder wiederhergestellte (Reichstagskuppel, Schloß) Substanz erhalten könne. Lübbes Feind ist der Sozialismus. Nicht die Täterbestrafung ist für die Bewältigung der DDR-Vergangenheit von Bedeutung, sondern die wachgehaltene Kritik an dem immer noch fruchtbaren Schoß ihrer gedanklichen Grundlagen. Aber dialektisch wie die Vernunft nun einmal ist, läßt sie Lübbe seinen Feind mit eben den Zügen malen, die ihn selber charakterisieren. Auch bei ihm wird das objektiv notwendige politische Handeln aus einer Geschichtsphilosophie der Modernisierung abgeleitet. Auch bei ihm wissen einzig die Experten, was für das Volk gut ist. Auch er diffamiert seine linken Gegner, indem er sie dem Nationalsozialismus annähert. Und auch er appelliert an die Gesinnung: Nicht die "Mediengehalte" seien problematisch (denn was schließlich ist Wahrheit?), es fehle an der "Mediennutzungsmoral". Die "moralische Bedingung" der Beseitigung von Arbeitslosigkeit sei eine "Rehabilitierung des Erwerbsinteresses" und die "Bereitschaft zur Mobilität". Und das "subventionierte Mensaessen" verhindere bei den Studenten die Entwicklung von "Kostenbewußtsein".

Lübbes idealer Bürger ist am Tage fleißig und hat abends Gäste. Er lebt in einer Kleinfamilie, weil nur sie die Reproduktion idealer Bürger ermöglicht. Er geht am Wochenende ins Museum, wobei die Kunst vorzugsweise klassisch zu sein hat, denn der rasante Wandel der Welt läßt uns das Bleibende suchen, dessen Flamme nirgends würdiger und schöner brennt als in dem Neuen Testament. Denn die Religion gibt Antwort auf die "zivilisationsepochenindifferenten Fragen anthropologischer und ontologischer Art". Eins dagegen tun Lübbes Bürger nicht mehr. Sie verständigen sich nicht über das, was sie als das gute Leben ansehen wollen. Dabei mag gerade der Zusammenbruch des Sozialismus lehren, daß das Gemeinwesen verkümmert, wo der öffentliche Raum verdunkelt wird. GUSTAV FALKE

Hermann Lübbe: "Modernisierung und Folgelasten". Trends kultureller und politischer Evolution. Springer Verlag, Berlin 1997. XIII, 414 S., geb., 58,- DM.

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