Produktdetails
- Verlag: Zürich : Diogenes
- ISBN-13: 9783257232035
- Artikelnr.: 26263802
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.02.2010Aufschneiderei mit dramatischem Paukenschlag
Einer seiner schönsten Romane liegt endlich in einer neuen Übersetzung vor: Mit "Modeste Mignon" wagte Honoré de Balzac 1844 den doppelten Befreiungsschlag.
Die menschliche Komödie" - als Honoré de Balzac 1840 den Titel für sein titanisches Projekt findet, muss ihm bewusst sein, dass er ihn auch wörtlich meint: In den Romanen des Zyklus treiben komische Figuren ihr Unwesen, und dramatisch schreibt Balzac schon deshalb, weil im neunzehnten Jahrhundert die Bühne das Maß der Dinge bleibt. Unter den komischen Typen, die als Blaupause dienen, hat Molières Tartuffe einen Ehrenplatz: In einer Welt, deren Motoren Ambition, Leidenschaft und materielles Interesse sind, gedeiht der scheinheilige Erb- und Mitgiftschleicher wie Unkraut auf dem Mist. Diese Einsicht drängt sich Balzac spätestens 1844 auf, denn zu diesem Zeitpunkt befindet sich der Romancier im Zweifrontenkrieg: Die Erfolge der Feuilleton-Konkurrenten Eugène Sue und Alexandre Dumas drohen, ihn publizistisch kaltzustellen. Die amouröse Front ist ähnlich gefährdet. Er hat zwar den Sommer 1843 mit seiner polnischen Gräfin Eveline Hanska verbracht, die endlich verwitwet und wieder zu haben ist. Aber die lang Umworbene liebäugelt mit Franz Liszt, dem Herzensbrecher. Mit "Modeste Mignon", verfasst zwischen März und Juli 1844, wagt Balzac den doppelten Befreiungsschlag.
Der Roman aus der Reihe der Sittenstudien ist einer der schönsten, wenn auch selten gelesenen, aus der Feder Balzacs; er liegt, erstmals seit Jahrzehnten, in neuer Übertragung vor. Erzählt wird die Geschichte einer mehrfachen Aufschneiderei, in deren Zentrum Modeste steht, zwanzig Jahre alt, eine jener "himmlischen Blondinen", "deren atlasartige Haut wie über dem Fleisch ausgespanntes Seidenpapier ist, das unter einem kühlen Blick erzittert und unter einem sonnenwarmen erblüht, so dass die Hand auf das Auge eifersüchtig wird". Die Schöne ist Tochter von Charles Mignon, Graf de La Bastie, der unter Napoleon gedient und anschließend in Le Havre als Kaufmann erst das Glück und dann den Ruin gefunden hat. Seitdem ist er verschwunden, um in Übersee neue Millionen zu machen; der Getreue Dumay, ein sturer Bretone, und seine Pyrenäenhunde sollen der Mutter helfen, die Tochter zu behüten. Modeste erliegt derweil der Lesewut: Unter der Ruhe der normannischen Provinz brodelt ihre phantasievolle Leidenschaft.
Wagemutig schreibt sie dem verehrten Canalis, "Dichter der seraphischen Schule", der den Brief aber seinem Sekretär überlässt. Ernest de La Brière, "einer jener Durchschnittsmenschen mit wirklichen Tugenden und einer verlässlichen Moral", der weder Genie noch Erbe, dafür aber Karriereaussichten hat, gibt sich fortan als Canalis aus, anfangs mit dem Ziel, Modeste über die Gefahr ihres Tuns zu belehren. Mademoiselle ist erbost und spielt ihrerseits die reiche Erbin; Ernest beißt an, die Maskerade nimmt ihren Lauf. Der erste Teil von "Modeste Mignon" ist ein reizvoller Briefroman, in dem eine falsche Erbin und ein falscher Schriftsteller einander an der Nase herumführen.
Dramatischer Paukenschlag: Charles Mignon kehrt zurück und ist im Besitz eines jener Vermögen, die in der "menschlichen Komödie" wie im Märchen erworben werden. Modestes Maskerade wird Realität, der echte Canalis ist mit einem Mal entzückt, ebenso der Herzog d'Hérouville; Ernest fällt in Ungnade, als sein kleiner Schwindel auffliegt. Alle drei reisen nach Le Havre, der Ball der Verehrer setzt ein - Balzac versteht es, die Nerven des Lesers zu kitzeln: Das Werbeverhalten der Pariser in der Provinz wird mit der Verve des Moralisten und der Pointensicherheit des Komödienautors beschrieben, kurz, mit jener einfühlenden Unbarmherzigkeit in die soziale Existenz, die das Geheimnis großer französischer Romanciers ist. Der melancholische Ernest, der idealistische Herzog, vor allem aber der karrieristische Dichter sind wunderbar gezeichnet: "Die einschmeichelnden, naiven Werke voller Zärtlichkeit, die ruhigen Verse, rein wie spiegelnde Seen, die liebkosenden, weiblichen Gedichte haben einen kleinen Ehrgeizling zum Verfasser, einen in seinen Frack eingezwängten, wie ein Diplomat daherkommenden Kerl, der von politischem Einfluss träumt, nach Moschus riecht, anmaßend ist, nach einem Vermögen dürstet, um die für seinen Ehrgeiz notwendigen Mittel zu haben, und bereits vom Erfolg in seiner doppelten Form, der Lorbeerkrone und dem Myrtenkranz, verdorben ist." Ein moderner Tartuffe: Balzac hat teuflisches Vergnügen daran, ihn zu demaskieren.
Kommerziell ist "Modeste Mignon" ein Fehlschlag, erfolgreicher ist der Roman als Liebesgruß an Madame Hanska: Balzac legt dem "Salomonspantöffelchen" mit der Titelheldin ein vorteilhaftes Porträt zu Füßen und führt die Romantik brieflicher Leidenschaft vor; nebenbei diskreditiert er die amouröse Konkurrenz. Freilich ist der Roman damit nicht erschöpft: Er webt ein dichtes Netz literarischer Bezüge, auf die Komödientradition (Molière, Marivaux) und auf Goethe, dessen Mignon ("Wilhelm Meister") ebenso Pate steht wie der "Briefwechsel mit einem Kinde". Modeste, deren Mutter Deutsche ist, schwärmt aber nicht nur romantisch, sie ist auch von Stendhal geprägt, dessen "Kartause von Parma" Balzac bewunderte: Die junge Frau ist "kaltblütig kokett". Rationalität in Gefühlsdingen ist kein Laster, wenn Geld im Spiel ist - sie erlaubt es, die Spreu vom Weizen zu trennen. Modeste ist das Kraftzentrum des Romans: eine jener Balzacfiguren, die vor Vitalität und Intelligenz sprühen, von Charles, einer sanften Replik des "Vater Goriot", zu Recht verehrt. Wegweisend ist schließlich die Entlarvung des romantischen Dichters, dessen Gedichte "Leimruten von Versen voller Scheinheiligkeit" sind: ein wichtiger Schritt in Richtung von Flauberts Kritik bürgerlicher Gemeinplätze.
Man kann dem Manesse Verlag nur zu der Entscheidung gratulieren, den Roman in die schöne "Bibliothek der Weltliteratur" aufzunehmen, zumal Balzac in Deutschland seit jeher unterschätzt wird, wie das Nachwort betont. Etwas enttäuschen nur Übersetzung und Apparat: Caroline Vollmann, deren "Madame Bovary" sehr gelobt wurde, begeht gelegentlich Fehler, und der Stil holpert ab und an. Die Anmerkungen sind mal zu skrupulös (mit Cuvier ist sicher Georges gemeint), mal ungenau; ein Blick in den Apparat der Pléiade-Ausgabe hätte geholfen. Das Vergnügen leidet zum Glück kaum - die hübsche Unbescheidene sei wärmstens empfohlen.
NIKLAS BENDER
Honoré de Balzac: "Modeste Mignon." Roman. Aus dem Französischen von Caroline Vollmann. Nachwort von Johannes Wilms. Manesse Verlag, München 2009. 576 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Einer seiner schönsten Romane liegt endlich in einer neuen Übersetzung vor: Mit "Modeste Mignon" wagte Honoré de Balzac 1844 den doppelten Befreiungsschlag.
Die menschliche Komödie" - als Honoré de Balzac 1840 den Titel für sein titanisches Projekt findet, muss ihm bewusst sein, dass er ihn auch wörtlich meint: In den Romanen des Zyklus treiben komische Figuren ihr Unwesen, und dramatisch schreibt Balzac schon deshalb, weil im neunzehnten Jahrhundert die Bühne das Maß der Dinge bleibt. Unter den komischen Typen, die als Blaupause dienen, hat Molières Tartuffe einen Ehrenplatz: In einer Welt, deren Motoren Ambition, Leidenschaft und materielles Interesse sind, gedeiht der scheinheilige Erb- und Mitgiftschleicher wie Unkraut auf dem Mist. Diese Einsicht drängt sich Balzac spätestens 1844 auf, denn zu diesem Zeitpunkt befindet sich der Romancier im Zweifrontenkrieg: Die Erfolge der Feuilleton-Konkurrenten Eugène Sue und Alexandre Dumas drohen, ihn publizistisch kaltzustellen. Die amouröse Front ist ähnlich gefährdet. Er hat zwar den Sommer 1843 mit seiner polnischen Gräfin Eveline Hanska verbracht, die endlich verwitwet und wieder zu haben ist. Aber die lang Umworbene liebäugelt mit Franz Liszt, dem Herzensbrecher. Mit "Modeste Mignon", verfasst zwischen März und Juli 1844, wagt Balzac den doppelten Befreiungsschlag.
Der Roman aus der Reihe der Sittenstudien ist einer der schönsten, wenn auch selten gelesenen, aus der Feder Balzacs; er liegt, erstmals seit Jahrzehnten, in neuer Übertragung vor. Erzählt wird die Geschichte einer mehrfachen Aufschneiderei, in deren Zentrum Modeste steht, zwanzig Jahre alt, eine jener "himmlischen Blondinen", "deren atlasartige Haut wie über dem Fleisch ausgespanntes Seidenpapier ist, das unter einem kühlen Blick erzittert und unter einem sonnenwarmen erblüht, so dass die Hand auf das Auge eifersüchtig wird". Die Schöne ist Tochter von Charles Mignon, Graf de La Bastie, der unter Napoleon gedient und anschließend in Le Havre als Kaufmann erst das Glück und dann den Ruin gefunden hat. Seitdem ist er verschwunden, um in Übersee neue Millionen zu machen; der Getreue Dumay, ein sturer Bretone, und seine Pyrenäenhunde sollen der Mutter helfen, die Tochter zu behüten. Modeste erliegt derweil der Lesewut: Unter der Ruhe der normannischen Provinz brodelt ihre phantasievolle Leidenschaft.
Wagemutig schreibt sie dem verehrten Canalis, "Dichter der seraphischen Schule", der den Brief aber seinem Sekretär überlässt. Ernest de La Brière, "einer jener Durchschnittsmenschen mit wirklichen Tugenden und einer verlässlichen Moral", der weder Genie noch Erbe, dafür aber Karriereaussichten hat, gibt sich fortan als Canalis aus, anfangs mit dem Ziel, Modeste über die Gefahr ihres Tuns zu belehren. Mademoiselle ist erbost und spielt ihrerseits die reiche Erbin; Ernest beißt an, die Maskerade nimmt ihren Lauf. Der erste Teil von "Modeste Mignon" ist ein reizvoller Briefroman, in dem eine falsche Erbin und ein falscher Schriftsteller einander an der Nase herumführen.
Dramatischer Paukenschlag: Charles Mignon kehrt zurück und ist im Besitz eines jener Vermögen, die in der "menschlichen Komödie" wie im Märchen erworben werden. Modestes Maskerade wird Realität, der echte Canalis ist mit einem Mal entzückt, ebenso der Herzog d'Hérouville; Ernest fällt in Ungnade, als sein kleiner Schwindel auffliegt. Alle drei reisen nach Le Havre, der Ball der Verehrer setzt ein - Balzac versteht es, die Nerven des Lesers zu kitzeln: Das Werbeverhalten der Pariser in der Provinz wird mit der Verve des Moralisten und der Pointensicherheit des Komödienautors beschrieben, kurz, mit jener einfühlenden Unbarmherzigkeit in die soziale Existenz, die das Geheimnis großer französischer Romanciers ist. Der melancholische Ernest, der idealistische Herzog, vor allem aber der karrieristische Dichter sind wunderbar gezeichnet: "Die einschmeichelnden, naiven Werke voller Zärtlichkeit, die ruhigen Verse, rein wie spiegelnde Seen, die liebkosenden, weiblichen Gedichte haben einen kleinen Ehrgeizling zum Verfasser, einen in seinen Frack eingezwängten, wie ein Diplomat daherkommenden Kerl, der von politischem Einfluss träumt, nach Moschus riecht, anmaßend ist, nach einem Vermögen dürstet, um die für seinen Ehrgeiz notwendigen Mittel zu haben, und bereits vom Erfolg in seiner doppelten Form, der Lorbeerkrone und dem Myrtenkranz, verdorben ist." Ein moderner Tartuffe: Balzac hat teuflisches Vergnügen daran, ihn zu demaskieren.
Kommerziell ist "Modeste Mignon" ein Fehlschlag, erfolgreicher ist der Roman als Liebesgruß an Madame Hanska: Balzac legt dem "Salomonspantöffelchen" mit der Titelheldin ein vorteilhaftes Porträt zu Füßen und führt die Romantik brieflicher Leidenschaft vor; nebenbei diskreditiert er die amouröse Konkurrenz. Freilich ist der Roman damit nicht erschöpft: Er webt ein dichtes Netz literarischer Bezüge, auf die Komödientradition (Molière, Marivaux) und auf Goethe, dessen Mignon ("Wilhelm Meister") ebenso Pate steht wie der "Briefwechsel mit einem Kinde". Modeste, deren Mutter Deutsche ist, schwärmt aber nicht nur romantisch, sie ist auch von Stendhal geprägt, dessen "Kartause von Parma" Balzac bewunderte: Die junge Frau ist "kaltblütig kokett". Rationalität in Gefühlsdingen ist kein Laster, wenn Geld im Spiel ist - sie erlaubt es, die Spreu vom Weizen zu trennen. Modeste ist das Kraftzentrum des Romans: eine jener Balzacfiguren, die vor Vitalität und Intelligenz sprühen, von Charles, einer sanften Replik des "Vater Goriot", zu Recht verehrt. Wegweisend ist schließlich die Entlarvung des romantischen Dichters, dessen Gedichte "Leimruten von Versen voller Scheinheiligkeit" sind: ein wichtiger Schritt in Richtung von Flauberts Kritik bürgerlicher Gemeinplätze.
Man kann dem Manesse Verlag nur zu der Entscheidung gratulieren, den Roman in die schöne "Bibliothek der Weltliteratur" aufzunehmen, zumal Balzac in Deutschland seit jeher unterschätzt wird, wie das Nachwort betont. Etwas enttäuschen nur Übersetzung und Apparat: Caroline Vollmann, deren "Madame Bovary" sehr gelobt wurde, begeht gelegentlich Fehler, und der Stil holpert ab und an. Die Anmerkungen sind mal zu skrupulös (mit Cuvier ist sicher Georges gemeint), mal ungenau; ein Blick in den Apparat der Pléiade-Ausgabe hätte geholfen. Das Vergnügen leidet zum Glück kaum - die hübsche Unbescheidene sei wärmstens empfohlen.
NIKLAS BENDER
Honoré de Balzac: "Modeste Mignon." Roman. Aus dem Französischen von Caroline Vollmann. Nachwort von Johannes Wilms. Manesse Verlag, München 2009. 576 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main