Melancholische Pornostars, durchgedrehte Dichter, mystische Zahnärzte und Fußballer mit einem Hang zum Übersinnlichen - Roberto Bolaño, der große Erzähler aus Chile, bleibt unnachahmlich. In dreizehn unwiderstehlich komischen, abgründigen Erzählungen zeichnet er die Lebenslinien von Menschen nach, die auf der Flucht sind: vor Armut und Gewalt, vor allem aber vor sich selbst. Es sind dreizehn Treffer ins finstere Herz der Gegenwart. Wo auch immer Bolaños Figuren landen auf der Welt, sie tragen die Zeichen ihrer Verstörung mit sich. Doch ohne die Verstörung wäre nichts Menschliches, denn "die Welt ist lebendig und nichts Lebendiges hat eine Lösung und das ist unser Glück."
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Geht alles in Ordnung, meint Thomas Steinfeld, sogar das fragwürdige Cover und der Titel. Für Steinfeld Ausdruck für die ganze Schmuddeligkeit der Welt, die Roberto Bolaño so wunderbar in seinen Erzählungen abbildet, wie der Rezensent findet. Nicht minder interessant scheinen sie ihm als die Romane des Autors, handelnd von Gewalt, erzählt von einem Fußballstar, einem Auftragskiller oder einem chilenischen Schriftsteller im Exil. Was Steinfeld so fasziniert, ist die Dringlichkeit dieser Texte, als wären sie Geständnisse. Für den Rezensenten sind unter den 13 hier versammelten Geschichten einige von Bolaños besten Texten, "Letzte Abende auf Erden" oder "Gómez Palacio". Ob von Borges inspiriert oder als "Etüden der Sinnlosigkeit", hingeworfen oder in "betörenden" Sätzen verfasst - ein Lesefest für den Rezensenten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.11.2014Das Leuchten am Himmel über der Wüste
Für Roberto Bolaño war die Literatur immer eine Sache auf Leben und Tod. Sein grimmiger Erzählband "Mörderische Huren" zeigt den chilenischen Exildichter auf der Höhe seiner Kunst.
In "Tanzkarte", einem kleinen Text mit neunundsechzig numerierten Bemerkungen über sein schwieriges Verhältnis zu seinem Übervater Pablo Neruda, erinnert Roberto Bolaño "an die toten Dichter im Folterkeller, an die an Aids, an einer Überdosis Gestorbenen, an alle, die an das lateinamerikanische Paradies geglaubt haben und in der lateinamerikanischen Hölle gestorben sind". 1973 knapp den Folterknechten Pinochets entronnen, im spanischen Exil zeitweilig drogenabhängig und Nachtwächter auf einem Campingplatz, wäre der chilenische poète maudit um ein Haar selbst Opfer dieser Hölle geworden. Gerettet hat ihn die Literatur. Sie war für Bolaño nicht Zeitvertreib, kulturelle Idee oder gar bildungsbürgerliche Fußnote, sondern eine Sache auf Leben und Tod, der "einzige Ort, wo sich zu leben lohnt".
Wie die stolzen, hitzköpfigen Literaten in seinen Romanen und Erzählungen schien er selbst jederzeit fähig und bereit, sich für das richtige Wort zu prügeln, für einen seiner Hausgötter zu sterben oder zu töten. Literatur fordert den ganzen Mann (Frauen spielen in Bolaños Werk eine eher untergeordnete Rolle) und eine wütende Energie, die Terror und Erniedrigung, wilden Hass und stille Scham in reine Poesie verwandelt. Bolaños Schreiben war so maßlos, dass nicht einmal sein früher Tod 2003 es stoppen konnte. Aus dem Nachlass tauchen immer wieder neue Fragmente seines unendlich prozessierenden Werks auf, Meisterstücke wie "2666", unvollendete Frühwerke wie "Das Dritte Reich" oder "Die Nöte des wahren Polizisten", aber auch manches, was er nicht ohne Grund verworfen hatte.
Der zwei Jahre vor seinem Tod erschienene Erzählband "Mörderische Huren" zeigt Bolaño aber auf der Höhe seiner Kunst. Die dreizehn Erzählungen versammeln herzlose Hooligans, literaturverrückte Gangster und melancholische Pornostars, dazu jede Menge Schriftsteller zwischen Genie und Wahnsinn: fiktive und reale, unbekannte und verkannte, Altmeister wie Neruda und Enrique Lihn und dreiste Epigonen, Wunderkinder und Versager, Mörder und Selbstmörder, kleine Rimbauds und die traurigen Ritter der chilenischen Exilliteratur. Mittendrin und doch meist am Rande stehend: Roberto Bolaño alias Arturo Belano oder auch B., der literarische Berserker, der vor keinem Vatermord, keinem Bubenstück und keinem Geniestreich zurückschreckt.
Er hungert und leidet, muss Prügel und Demütigungen einstecken und austeilen, aber manchmal wird er reich belohnt: In "Gómez Palacio", einem Kaff in der Einöde Nordmexikos, erlebt er als Literaturdozent außer desaströser Langeweile und deprimierendem Dilettantismus auch das grüne Leuchten am Himmel über der Wüste, das alles Banale und Hässliche in ein magisches Licht taucht.
So sucht und findet Bolaño immer wieder das gewisse Etwas im existentiellen Nichts, die strahlende Epiphanie in der Nacht, zu Unrecht vergessene russische Filmregisseure und belgische Surrealisten. Spannender als derlei Vexierspiele für Insider und Borgesianer sind die Erzählungen, in denen Bolaño seine apokryphen Literaturgeschichten, Feldforschungen und Fehden hinter sich lässt und sich kopfüber ins chaotische Leben stürzt. In "Letzte Abende auf Erden" etwa erzählt er von einer missglückten Urlaubsreise mit seinem Vater nach Acapulco: Während sich der Alte mit Huren, amerikanischen Touristinnen, Spielern und pensionierten Klippenspringern vergnügt, liest und lungert sein Sohn zunehmend genervt im Hotel herum. Wenn am Ende dann die unvermeidliche Schlägerei beginnt, legt er allerdings seine Bücher beiseite und steht seinen Mann als Sohn.
Bolaño stanzt die Figuren und Geschichten scheinbar unstrukturiert und beliebig aus einem ereignisarmen Kontinuum fiebriger Albträume, Leidenschaften und Sehnsüchte heraus. Sie haben weder einen richtigen Anfang noch ein Ende, keine Pointe und keine Moral, aber ebendarum ist auch jederzeit alles möglich. Die schönsten Erzählungen sind überdies mit Elementen romantischen Horrors und einem grimmigen schwarzen Humor gesalbt. In "Buba" wird ein Fall von Blutdoping beim FC Barcelona als groteskes Voodoo-Ritual erzählt. In "Die Wiederkehr" wird der Erzähler nach seinem plötzlichen Tod in einer Disco von einem berühmten französischen Modemacher missbraucht; am Morgen danach sind Täter und Opfer ziemlich beste Freunde geworden.
So kommen Bolaños Figuren bei dem Versuch, aus ihrem passiv-kontemplativen Leben als Zuschauer herauszutreten und den endlosen Kreislauf von politischer und sexueller Gewalt zu durchbrechen, immer wieder vom Regen in die Traufe und von der Hölle in den Himmel der Literatur. "So wie die Dinge liegen", heißt es in "El Ojo Silva" von einem Fotojournalisten, der in Indien einen Jungen vor der Kastration zu Ehren eines grausamen Gottes rettet, "hat Mauricio Silva, genannt El Ojo, das Auge, immer versucht, der Gewalt auszuweichen, auch auf die Gefahr hin, als Feigling dazustehen, aber der Gewalt, der echten Gewalt kann man nicht ausweichen, schon gar nicht wir, die wir in den fünfziger Jahren in Lateinamerika geboren wurden und um die zwanzig waren, als Allende starb."
MARTIN HALTER
Roberto Bolaño: "Mörderische Huren". Erzählungen. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Hanser Verlag, München 2014. 224 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Für Roberto Bolaño war die Literatur immer eine Sache auf Leben und Tod. Sein grimmiger Erzählband "Mörderische Huren" zeigt den chilenischen Exildichter auf der Höhe seiner Kunst.
In "Tanzkarte", einem kleinen Text mit neunundsechzig numerierten Bemerkungen über sein schwieriges Verhältnis zu seinem Übervater Pablo Neruda, erinnert Roberto Bolaño "an die toten Dichter im Folterkeller, an die an Aids, an einer Überdosis Gestorbenen, an alle, die an das lateinamerikanische Paradies geglaubt haben und in der lateinamerikanischen Hölle gestorben sind". 1973 knapp den Folterknechten Pinochets entronnen, im spanischen Exil zeitweilig drogenabhängig und Nachtwächter auf einem Campingplatz, wäre der chilenische poète maudit um ein Haar selbst Opfer dieser Hölle geworden. Gerettet hat ihn die Literatur. Sie war für Bolaño nicht Zeitvertreib, kulturelle Idee oder gar bildungsbürgerliche Fußnote, sondern eine Sache auf Leben und Tod, der "einzige Ort, wo sich zu leben lohnt".
Wie die stolzen, hitzköpfigen Literaten in seinen Romanen und Erzählungen schien er selbst jederzeit fähig und bereit, sich für das richtige Wort zu prügeln, für einen seiner Hausgötter zu sterben oder zu töten. Literatur fordert den ganzen Mann (Frauen spielen in Bolaños Werk eine eher untergeordnete Rolle) und eine wütende Energie, die Terror und Erniedrigung, wilden Hass und stille Scham in reine Poesie verwandelt. Bolaños Schreiben war so maßlos, dass nicht einmal sein früher Tod 2003 es stoppen konnte. Aus dem Nachlass tauchen immer wieder neue Fragmente seines unendlich prozessierenden Werks auf, Meisterstücke wie "2666", unvollendete Frühwerke wie "Das Dritte Reich" oder "Die Nöte des wahren Polizisten", aber auch manches, was er nicht ohne Grund verworfen hatte.
Der zwei Jahre vor seinem Tod erschienene Erzählband "Mörderische Huren" zeigt Bolaño aber auf der Höhe seiner Kunst. Die dreizehn Erzählungen versammeln herzlose Hooligans, literaturverrückte Gangster und melancholische Pornostars, dazu jede Menge Schriftsteller zwischen Genie und Wahnsinn: fiktive und reale, unbekannte und verkannte, Altmeister wie Neruda und Enrique Lihn und dreiste Epigonen, Wunderkinder und Versager, Mörder und Selbstmörder, kleine Rimbauds und die traurigen Ritter der chilenischen Exilliteratur. Mittendrin und doch meist am Rande stehend: Roberto Bolaño alias Arturo Belano oder auch B., der literarische Berserker, der vor keinem Vatermord, keinem Bubenstück und keinem Geniestreich zurückschreckt.
Er hungert und leidet, muss Prügel und Demütigungen einstecken und austeilen, aber manchmal wird er reich belohnt: In "Gómez Palacio", einem Kaff in der Einöde Nordmexikos, erlebt er als Literaturdozent außer desaströser Langeweile und deprimierendem Dilettantismus auch das grüne Leuchten am Himmel über der Wüste, das alles Banale und Hässliche in ein magisches Licht taucht.
So sucht und findet Bolaño immer wieder das gewisse Etwas im existentiellen Nichts, die strahlende Epiphanie in der Nacht, zu Unrecht vergessene russische Filmregisseure und belgische Surrealisten. Spannender als derlei Vexierspiele für Insider und Borgesianer sind die Erzählungen, in denen Bolaño seine apokryphen Literaturgeschichten, Feldforschungen und Fehden hinter sich lässt und sich kopfüber ins chaotische Leben stürzt. In "Letzte Abende auf Erden" etwa erzählt er von einer missglückten Urlaubsreise mit seinem Vater nach Acapulco: Während sich der Alte mit Huren, amerikanischen Touristinnen, Spielern und pensionierten Klippenspringern vergnügt, liest und lungert sein Sohn zunehmend genervt im Hotel herum. Wenn am Ende dann die unvermeidliche Schlägerei beginnt, legt er allerdings seine Bücher beiseite und steht seinen Mann als Sohn.
Bolaño stanzt die Figuren und Geschichten scheinbar unstrukturiert und beliebig aus einem ereignisarmen Kontinuum fiebriger Albträume, Leidenschaften und Sehnsüchte heraus. Sie haben weder einen richtigen Anfang noch ein Ende, keine Pointe und keine Moral, aber ebendarum ist auch jederzeit alles möglich. Die schönsten Erzählungen sind überdies mit Elementen romantischen Horrors und einem grimmigen schwarzen Humor gesalbt. In "Buba" wird ein Fall von Blutdoping beim FC Barcelona als groteskes Voodoo-Ritual erzählt. In "Die Wiederkehr" wird der Erzähler nach seinem plötzlichen Tod in einer Disco von einem berühmten französischen Modemacher missbraucht; am Morgen danach sind Täter und Opfer ziemlich beste Freunde geworden.
So kommen Bolaños Figuren bei dem Versuch, aus ihrem passiv-kontemplativen Leben als Zuschauer herauszutreten und den endlosen Kreislauf von politischer und sexueller Gewalt zu durchbrechen, immer wieder vom Regen in die Traufe und von der Hölle in den Himmel der Literatur. "So wie die Dinge liegen", heißt es in "El Ojo Silva" von einem Fotojournalisten, der in Indien einen Jungen vor der Kastration zu Ehren eines grausamen Gottes rettet, "hat Mauricio Silva, genannt El Ojo, das Auge, immer versucht, der Gewalt auszuweichen, auch auf die Gefahr hin, als Feigling dazustehen, aber der Gewalt, der echten Gewalt kann man nicht ausweichen, schon gar nicht wir, die wir in den fünfziger Jahren in Lateinamerika geboren wurden und um die zwanzig waren, als Allende starb."
MARTIN HALTER
Roberto Bolaño: "Mörderische Huren". Erzählungen. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Hanser Verlag, München 2014. 224 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.12.2014Eine Zukunft, die wie eine nächtliche Wüste ist
Neben seinen großen Romanen hat der chilenische Autor Roberto Bolaño Dutzende Geschichten geschrieben. Dreizehn
sind im Band „Mörderische Huren“ gesammelt. Sie kommen mit einer Dringlichkeit daher, so als müssten sie erzählt werden
VON THOMAS STEINFELD
Manchmal ist der Erzähler ein Fußballspieler, und nicht irgendeiner, sondern ein Stürmer für den FC Barcelona, eine Mannschaft, die in der Zeit, in der diese Geschichte spielt, der beste Club der Welt war. Einmal ist er ein Auftragsmörder in Medellín, der zweitgrößten Stadt Kolumbiens, und in der Villa eines Filmproduzenten aus Deutschland aufgewachsen, der dort pornografische Filme dreht. Meistens aber ist der Erzähler ein Schriftsteller aus Chile, der sein Land nach dem Putsch des Jahres 1973 verlassen musste. Als junger Mann lebt er in Mexiko. Älter geworden, ist er in Spanien zu Hause, treibt sich aber zuweilen auch in Frankreich, in Belgien oder in Berlin herum.
Der Gedanke, ein Exilant zu sein, ist ihm unangenehm, weil er in sich kein Opfer erkennen will. Der sentimentale Pablo Neruda ist ihm widerwärtig: „Welche Anstrengung zu verbergen oder zu beschönigen, was entstellt aus der Wäsche schaut.“ In Kreisen exilierter Chilenen hält er sich nicht gerne auf. Es scheint ihn zu stören, dass es so etwas wie ein gemeinsames Schicksal geben soll. Und doch kehrt er immer wieder zu seinen Landsleuten zurück, und sei es aus Bequemlichkeit, oder weil er das Alleinsein nicht erträgt. Ähnlich geht es ihm mit den Schriftstellern, insofern zumindest, wie diese einen sozialen, womöglich sogar existenziellen Rang zu beanspruchen glauben, nur weil sie „Literatur“ herstellen. Kunst, emphatisch verstanden und in welcher Form auch immer, erscheint ihm, wenn nicht als etwas Unerhebliches, so doch zumindest als etwas latent Korruptes. Auf Genauigkeit kommt es schon eher an.
Roberto Bolaño, im Jahr 1953 in Chile geboren, fünfzig Jahre später in Barcelona gestorben, hat mehrere Dutzend Geschichten geschrieben, wenn nicht noch mehr. Dreizehn davon enthält der Band „Mörderische Huren“, dessen spanisches Original im Jahr 2011 erschien. Es sind einige seiner besten darunter: „Letzte Abende auf Erden“ zum Beispiel, eine offenbar von Jorge Luis Borges inspirierte Geschichte, in der ein Protagonist namens „B“ zusammen mit seinem Vater ein paar Tage Urlaub in Acapulco macht, eine Etüde in Sinnlosigkeit, die mit einem lang erwarteten, aber keineswegs erlösenden Satz endet: „Die Schlägerei beginnt.“
Oder „Gómez Palacio“, eine Erzählung, in der ein Lyriker in eine Stadt im Norden Mexikos fährt, um vielleicht eine Literaturwerkstatt zu leiten, tatsächlich aber, weil die Zukunft dieses Mannes angeblich so aussieht wie eine nächtliche Wüste, dies aber ein „dummer“ Gedanke ist. Nachdem diese Erzählung im Jahr 2005 im New Yorker veröffentlicht worden war, hatte eine internationale Karriere begonnen, in der dieser Autor, als wäre er selbst eine seiner (an Jorge Luis Borges geschulten) bibliomanen Phantasien, zur Zentralfigur eines ganzen, noch unüberschaubar großen poetischen Kontinents aufstieg. Die Romane, vor allem das Buch „2666“, postum im Jahr 2004 erschienen, bilden darin die Gebirge. Die Hügel der Erzählungen sind nicht minder interessant, aber zugänglicher.
Zuweilen stehen betörende Sätze in diesen Erzählungen, Formulierungen, die in einem knappen Gedanken ganze Lebenssituationen zusammenfassen: „El Ojo wirkte wie aus Glas, und sein Gesicht und das Milchkaffeeglas schienen Zeichen auszutauschen, als hätten sie einander gerade getroffen, zwei unverständliche Phänomene im weiten Universum, und versuchten mit mehr gutem Willen als Hoffnung, eine gemeinsame Sprache zu finden.“ Zuweilen erscheint die Geschichte gleichsam hingeworfen wie in einem schlechten Kriminalroman, so als komme es auf die Sprache gar nicht an. Die Weite und Wandelbarkeit des Registers haben System: In diesen Geschichten macht sich etwas geltend, was es gegeben haben muss, bevor Dichtung einer politischen Kategorie namens „Kultur“ unterworfen wurde und es möglich wurde, auf das Urteil, es handele sich hier um „Literatur“, bloß mit einem versonnenen Gesicht zu antworten: Sie kommen mit einer Dringlichkeit daher, so als müssten sie erzählt werden, und sie haben alle den Charakter einer Zeugenaussage, eines Geständnisses oder eines Bekenntnisses. Und sie handeln alle von Gewalt.
Der Gewalt, heißt es gleich zu Beginn von „El Ojo Silva“, der ersten Geschichte des Bandes, könne man „nicht ausweichen, schon gar nicht wir, die wir in den fünfziger Jahren in Lateinamerika geboren wurden und um die zwanzig waren, als Allende starb.“ Das klingt wie eine programmatische Erklärung, die weniger dem Erzähler der Geschichte zugehört als dem Autor. Aber es ist anders: Denn die Gewalt, die El Ojo („das Auge“), der Protagonist dieser Geschichte erfährt, schließt sich nicht um ein „Wir“. Jedes Mal, wenn sie ihm zustößt, trennt sie ihn, von seinem Beruf, von seinen Freunden, von denen, „die für Salvador Allende gekämpft hatten“, und denen, „die sich nicht getraut hatten, für Salvador Allende zu kämpfen“. Und so geht es in allen Geschichten, bis zur letzten, in der ein Erzähler in ein Land zurückversetzt wird, das vielleicht Chile ist, und dort einem toten Schriftsteller begegnet, der ihn aufnimmt in eine vergangene, schreckliche Zeit, die aus lauter Trägheit nicht vergeht. Es dürfte der einzige Ort sein, an dem das „Wir“ jener scheinbar programmatischen Erklärung tatsächlich gilt.
Eigentlich ist es nicht die Gewalt, die trennt, sondern der durch sie verursachte Schmerz. Er ist es, der den Einzelnen ganz und gar zu einem Einzelnen macht, und wenn er sich dann um die schmerzende Stelle krümmt, dann erscheint jede Verbindung zum Rest der Welt, auch die Fürsorge anderer, als unerträgliche Zumutung.
Manche Geschichten Roberto Bolaños handeln deswegen davon, wie er solchen in sich zusammengezogenen Menschen hinterherschaut: Der französische Dichter Gui Rosey ist von dieser Art. Der Held „B“ liest seine Gedichte, die Verse eines zweitklassigen Surrealisten, der während des Zweiten Weltkriegs in einem kleinen Ort an der Côte d’Azur gemeinsam mit berühmten Kollegen auf die Ausreise in die Vereinigten Staaten wartet, aber dann verschwindet, seiner Zweitklassigkeit wegen, wie „B“ vermutet. Auch der Fußballspieler „Buba“ ist von dieser Art, das schwarze Ballgenie, das seine Freunde beim FC Barcelona zu magischen Leistungen auf dem Platz befähigt, in einem blutigen Ritual, das ihm selbst das Leben zu entziehen scheint. Und während dieses alles passiert, gehen die Menschen essen, oder sie spielen Karten.
Man hat schon schönere Abbildungen auf einem Bucheinband des Hanser Verlags gesehen als die Fotografie zweier übergeschlagener Damenbeine in Netzstrümpfen, und der Titel „Mörderische Huren“, wenngleich eine treue Übersetzung des Originals, erinnert auch eher an ein Groschenheft als an „Literatur“. Aber vermutlich muss das alles sein, des großen Registers und der Wahrhaftigkeit und der Schmuddeligkeit des gesamten Lebens wegen. Und wenn es nicht so wäre, ginge es auch „in Ordnung“ (wie „B“ sagen würde): Es dauert vielleicht eine Weile, bis man sich in die Welt dieser Erzählungen hineinfindet, aber dann findet man sie immer besser.
Roberto Bolaño: Mörderische Huren. Erzählungen. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Carl Hanser Verlag, München 2014. 224 S., 19,90 Euro.
Buba motiviert zu magischen
Leistungen beim FC Barcelona,
in einem blutigen Ritual
Der Gewalt können wir nicht ausweichen, schreibt Bolaño, über seine Generation, die von Allende geprägt war. Tumulte bei einer Demonstration in Santiago, vierzig Jahre nach Allendes Tod am 11. September 1973.
Foto: AFP/MARTIN BERNETTI
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Neben seinen großen Romanen hat der chilenische Autor Roberto Bolaño Dutzende Geschichten geschrieben. Dreizehn
sind im Band „Mörderische Huren“ gesammelt. Sie kommen mit einer Dringlichkeit daher, so als müssten sie erzählt werden
VON THOMAS STEINFELD
Manchmal ist der Erzähler ein Fußballspieler, und nicht irgendeiner, sondern ein Stürmer für den FC Barcelona, eine Mannschaft, die in der Zeit, in der diese Geschichte spielt, der beste Club der Welt war. Einmal ist er ein Auftragsmörder in Medellín, der zweitgrößten Stadt Kolumbiens, und in der Villa eines Filmproduzenten aus Deutschland aufgewachsen, der dort pornografische Filme dreht. Meistens aber ist der Erzähler ein Schriftsteller aus Chile, der sein Land nach dem Putsch des Jahres 1973 verlassen musste. Als junger Mann lebt er in Mexiko. Älter geworden, ist er in Spanien zu Hause, treibt sich aber zuweilen auch in Frankreich, in Belgien oder in Berlin herum.
Der Gedanke, ein Exilant zu sein, ist ihm unangenehm, weil er in sich kein Opfer erkennen will. Der sentimentale Pablo Neruda ist ihm widerwärtig: „Welche Anstrengung zu verbergen oder zu beschönigen, was entstellt aus der Wäsche schaut.“ In Kreisen exilierter Chilenen hält er sich nicht gerne auf. Es scheint ihn zu stören, dass es so etwas wie ein gemeinsames Schicksal geben soll. Und doch kehrt er immer wieder zu seinen Landsleuten zurück, und sei es aus Bequemlichkeit, oder weil er das Alleinsein nicht erträgt. Ähnlich geht es ihm mit den Schriftstellern, insofern zumindest, wie diese einen sozialen, womöglich sogar existenziellen Rang zu beanspruchen glauben, nur weil sie „Literatur“ herstellen. Kunst, emphatisch verstanden und in welcher Form auch immer, erscheint ihm, wenn nicht als etwas Unerhebliches, so doch zumindest als etwas latent Korruptes. Auf Genauigkeit kommt es schon eher an.
Roberto Bolaño, im Jahr 1953 in Chile geboren, fünfzig Jahre später in Barcelona gestorben, hat mehrere Dutzend Geschichten geschrieben, wenn nicht noch mehr. Dreizehn davon enthält der Band „Mörderische Huren“, dessen spanisches Original im Jahr 2011 erschien. Es sind einige seiner besten darunter: „Letzte Abende auf Erden“ zum Beispiel, eine offenbar von Jorge Luis Borges inspirierte Geschichte, in der ein Protagonist namens „B“ zusammen mit seinem Vater ein paar Tage Urlaub in Acapulco macht, eine Etüde in Sinnlosigkeit, die mit einem lang erwarteten, aber keineswegs erlösenden Satz endet: „Die Schlägerei beginnt.“
Oder „Gómez Palacio“, eine Erzählung, in der ein Lyriker in eine Stadt im Norden Mexikos fährt, um vielleicht eine Literaturwerkstatt zu leiten, tatsächlich aber, weil die Zukunft dieses Mannes angeblich so aussieht wie eine nächtliche Wüste, dies aber ein „dummer“ Gedanke ist. Nachdem diese Erzählung im Jahr 2005 im New Yorker veröffentlicht worden war, hatte eine internationale Karriere begonnen, in der dieser Autor, als wäre er selbst eine seiner (an Jorge Luis Borges geschulten) bibliomanen Phantasien, zur Zentralfigur eines ganzen, noch unüberschaubar großen poetischen Kontinents aufstieg. Die Romane, vor allem das Buch „2666“, postum im Jahr 2004 erschienen, bilden darin die Gebirge. Die Hügel der Erzählungen sind nicht minder interessant, aber zugänglicher.
Zuweilen stehen betörende Sätze in diesen Erzählungen, Formulierungen, die in einem knappen Gedanken ganze Lebenssituationen zusammenfassen: „El Ojo wirkte wie aus Glas, und sein Gesicht und das Milchkaffeeglas schienen Zeichen auszutauschen, als hätten sie einander gerade getroffen, zwei unverständliche Phänomene im weiten Universum, und versuchten mit mehr gutem Willen als Hoffnung, eine gemeinsame Sprache zu finden.“ Zuweilen erscheint die Geschichte gleichsam hingeworfen wie in einem schlechten Kriminalroman, so als komme es auf die Sprache gar nicht an. Die Weite und Wandelbarkeit des Registers haben System: In diesen Geschichten macht sich etwas geltend, was es gegeben haben muss, bevor Dichtung einer politischen Kategorie namens „Kultur“ unterworfen wurde und es möglich wurde, auf das Urteil, es handele sich hier um „Literatur“, bloß mit einem versonnenen Gesicht zu antworten: Sie kommen mit einer Dringlichkeit daher, so als müssten sie erzählt werden, und sie haben alle den Charakter einer Zeugenaussage, eines Geständnisses oder eines Bekenntnisses. Und sie handeln alle von Gewalt.
Der Gewalt, heißt es gleich zu Beginn von „El Ojo Silva“, der ersten Geschichte des Bandes, könne man „nicht ausweichen, schon gar nicht wir, die wir in den fünfziger Jahren in Lateinamerika geboren wurden und um die zwanzig waren, als Allende starb.“ Das klingt wie eine programmatische Erklärung, die weniger dem Erzähler der Geschichte zugehört als dem Autor. Aber es ist anders: Denn die Gewalt, die El Ojo („das Auge“), der Protagonist dieser Geschichte erfährt, schließt sich nicht um ein „Wir“. Jedes Mal, wenn sie ihm zustößt, trennt sie ihn, von seinem Beruf, von seinen Freunden, von denen, „die für Salvador Allende gekämpft hatten“, und denen, „die sich nicht getraut hatten, für Salvador Allende zu kämpfen“. Und so geht es in allen Geschichten, bis zur letzten, in der ein Erzähler in ein Land zurückversetzt wird, das vielleicht Chile ist, und dort einem toten Schriftsteller begegnet, der ihn aufnimmt in eine vergangene, schreckliche Zeit, die aus lauter Trägheit nicht vergeht. Es dürfte der einzige Ort sein, an dem das „Wir“ jener scheinbar programmatischen Erklärung tatsächlich gilt.
Eigentlich ist es nicht die Gewalt, die trennt, sondern der durch sie verursachte Schmerz. Er ist es, der den Einzelnen ganz und gar zu einem Einzelnen macht, und wenn er sich dann um die schmerzende Stelle krümmt, dann erscheint jede Verbindung zum Rest der Welt, auch die Fürsorge anderer, als unerträgliche Zumutung.
Manche Geschichten Roberto Bolaños handeln deswegen davon, wie er solchen in sich zusammengezogenen Menschen hinterherschaut: Der französische Dichter Gui Rosey ist von dieser Art. Der Held „B“ liest seine Gedichte, die Verse eines zweitklassigen Surrealisten, der während des Zweiten Weltkriegs in einem kleinen Ort an der Côte d’Azur gemeinsam mit berühmten Kollegen auf die Ausreise in die Vereinigten Staaten wartet, aber dann verschwindet, seiner Zweitklassigkeit wegen, wie „B“ vermutet. Auch der Fußballspieler „Buba“ ist von dieser Art, das schwarze Ballgenie, das seine Freunde beim FC Barcelona zu magischen Leistungen auf dem Platz befähigt, in einem blutigen Ritual, das ihm selbst das Leben zu entziehen scheint. Und während dieses alles passiert, gehen die Menschen essen, oder sie spielen Karten.
Man hat schon schönere Abbildungen auf einem Bucheinband des Hanser Verlags gesehen als die Fotografie zweier übergeschlagener Damenbeine in Netzstrümpfen, und der Titel „Mörderische Huren“, wenngleich eine treue Übersetzung des Originals, erinnert auch eher an ein Groschenheft als an „Literatur“. Aber vermutlich muss das alles sein, des großen Registers und der Wahrhaftigkeit und der Schmuddeligkeit des gesamten Lebens wegen. Und wenn es nicht so wäre, ginge es auch „in Ordnung“ (wie „B“ sagen würde): Es dauert vielleicht eine Weile, bis man sich in die Welt dieser Erzählungen hineinfindet, aber dann findet man sie immer besser.
Roberto Bolaño: Mörderische Huren. Erzählungen. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Carl Hanser Verlag, München 2014. 224 S., 19,90 Euro.
Buba motiviert zu magischen
Leistungen beim FC Barcelona,
in einem blutigen Ritual
Der Gewalt können wir nicht ausweichen, schreibt Bolaño, über seine Generation, die von Allende geprägt war. Tumulte bei einer Demonstration in Santiago, vierzig Jahre nach Allendes Tod am 11. September 1973.
Foto: AFP/MARTIN BERNETTI
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"Der Erzählband zeigt einmal mehr die thematische wie die stilistische Spannweite des Autors, der in der Reportage ebenso zu Hause war wie in der fantastischen oder der Spannungsliteratur, in der Humoreske oder in der autobiografischen Reiseerzählung." Eva Karnofsky, Deutschlandfunk, 02.06.2015
"Dreizehn Geschichten sind im Band versammelt. Sie kommen mit einer Dringlichkeit daher, als müssten sie erzählt werden." Thomas Steinfeld, Süddeutsche Zeitung, 18.12.14
"Schöner kann man die Verlorenheit des Menschen nicht beschwören." Maike Albath, Deutschlandradio Kultur, 22.10.14
"'Mörderische Huren' zeigt den chilenischen Exildichter auf der Höhe seiner Kunst." Martin Halter, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.11. 14
"Idyllen sucht man vergebens, dafür aber findet man eine schwer zu überbietende existenzielle Wut und poetische Genauigkeit." Andreas Breitenstein, Neue Zürcher Zeitung, 25.11.14
"Dreizehn Geschichten sind im Band versammelt. Sie kommen mit einer Dringlichkeit daher, als müssten sie erzählt werden." Thomas Steinfeld, Süddeutsche Zeitung, 18.12.14
"Schöner kann man die Verlorenheit des Menschen nicht beschwören." Maike Albath, Deutschlandradio Kultur, 22.10.14
"'Mörderische Huren' zeigt den chilenischen Exildichter auf der Höhe seiner Kunst." Martin Halter, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.11. 14
"Idyllen sucht man vergebens, dafür aber findet man eine schwer zu überbietende existenzielle Wut und poetische Genauigkeit." Andreas Breitenstein, Neue Zürcher Zeitung, 25.11.14