Tiefsinnig, geistreich und leichtfüßig: ein verführerisches Porträt einer Welt, in der Sinnlichkeit und Literatur sich nicht im Weg sind.Der Roman enthält auch das Kapitel "Ich werde sagen: "Hi!"", mit dem Olga Martynova den Bachmann-Preis 2012 gewonnen hat.Mit einem Kapitel aus ihrem zweiten Roman hat Olga Martynova im Juli 2012 den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen. Wie sie in diesem Preis-Kapitel mit leichtester Hand die Motive rund um den Protagonisten verwob, bis daraus ein strahlendes Beispiel für die Souveränität der Literatur im (oder sogar über das) Leben entstand, so bewegen sich die (scheinbaren) Gegensätze Literatur und Leben, Dichtung und Alltag, Geschichte und Gegenwart, Russland, Amerika und Deutschland, Traum und Realität auf beschwingteste Weise durch den ganzen Roman.Marina und Andreas sind ein mehr oder weniger stabil verheiratetes russisch-deutsches Paar in den besten Jahren, in ihrem Freundeskreis Schriftsteller, Dichter, Künstler: der Sinologe Pawel kennt zwar nach wie vor hunderte von chinesischen Gedichten auswendig, vergisst aber, was vor einer Stunde war, der Ballerina Antonia sind die Menschen ausgegangen, denen sie von ihren Tourneen Geschenke mitbringen kann, und aus dem Russisch-Studenten John ist ein Agent geworden.Und während der alte russische Dichter Fjodor stirbt, werden gerade wieder neue Künstler geboren: Andreas' und Marinas Sohn Moritz wird zum Dichter, ihre Tochter Franziska zur Malerin. Mit feinstem Sinn für die Realität, einem offenen Blick für das Phantastische und dem für sie typischen Humor erzählt Olga Martynova von der Selbstfindung und der Situation des Künstlers in der Gegenwart - und verbindet das auch noch mit einem Schuss Agentenroman.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.05.2013Ihr Herz ist kein Wacholderharz
Tiefgründig, kurzweilig und lustvoll verspielt: Olga Martynovas Roman "Mörikes Schlüsselbein"
Auf der Rückseite dieses Buches steht ein guter Witz: "Ein Roman von Familie und Freundschaft: liebevoll, weiblich, scharfsichtig und humorvoll erzählt Olga Martynova von Russen und Deutschen, von Dichtern, Schamanen und Spionen, vom Eheleben und vom Erwachsenwerden."
Mit dieser Parodie von Klappentexten, wie sie heute gern verfasst werden, hat der tatsächliche Inhalt zum Glück kaum etwas zu tun. Denn Familienroman hin, liebevoll her - nach den ersten Seiten bereits weiß der Leser, dass mit solchen Beschreibungen diesem Werk nicht beizukommen ist. Sondern er steht erst mal im Regen.
Warum? Weil Olga Martynova etwas tut, was einmal selbstverständlich war, bei vielen Verlagen heute aber gar nicht mehr vorgesehen ist: Sie präsentiert einen literarischen Text, der seine Bedeutung nicht sofort offenbart. Sie erobert der deutschsprachigen Erzählprosa eine Rätselhaftigkeit zurück, wie es sie bei Alfred Döblin und Arno Schmidt einmal gab und die heute allenfalls noch bei einigen sich treu gebliebenen Formjongleuren wie Friederike Mayröcker zu finden ist: Rätselhaftigkeit also von der Makroebene des Romans bis zur Mikroebene des einzelnen Satzes und bis in die Kapitelüberschriften, die zum Beispiel lauten: "Mein Herz ist kein Wacholderharz" oder "Zeppeline über Paris / Franziska (fast) ohne Adjektive / Ausflug in die Hölle / Verliebte Augen".
Wer nun Angst vor diesem Text bekommt, kann beruhigt werden: Es handelt sich nicht um ein hermetisches Langgedicht, das man verständnislos bestaunt und am Ende frustriert weglegt. Doch es handelt sich um einen Roman, der selbst von der Literatur handelt und in ihr lebt, der deshalb voraussetzungsreich ist und sich manchmal erst über Umwege erschließt.
Nicht zufällig beginnt er mit einer Szene des Lesens: Ein älterer deutscher Professor liegt im Krankenhaus und liest ein Buch. Kaum hat er damit begonnen, trägt ihn Phantasie davon. Die Geburt der Literatur aus der Literatur: Diese Form der Metaerzählung, spätestens seit dem "Don Quijote" eine abendländische Grunderfahrung, bringt auch Martynovas Metafiktion auf den Weg.
Einen Auszug daraus kannte man bereits seit dem vergangenem Sommer: Die in Leningrad aufgewachsene Autorin, die auf Russisch und auf Deutsch schreibt, hatte damit den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen. Nun zeigt sich, dass die Figur des Tübinger Studenten Moritz, dessen Erleben und dichterische Erstversuche darin geschildert wurden, Teil eines weitverzweigten Familien- und Freundeskreises ist, in dem alle auf die eine oder andere Weise mit Literatur zu tun haben: Moritz ist der Sohn des erkrankten Russischprofessors Andreas; dieser wiederum lebt heute nicht mehr mit der Mutter seiner Kinder, sondern mit einer Russin namens Marina zusammen. Marina und Andreas stehen in Kontakt mit Autoren und Kritikern in Amerika und Russland, die ihrerseits auf den Spuren von Literaten wandeln.
Die Pfade dieser Figuren werden schnell sehr verschlungen: Vom Tübinger Hölderlinturm geht es nach Chicago und New York, über Frankfurt und Berlin nach St. Petersburg und in die Taiga, wo ein Schamane Jack Kerouac zitiert. Orte und Zeitebenen purzeln durcheinander in einem Reigen von Episoden, von denen wohl manche auch wieder der Phantasie der Figuren entspringen.
Die Weltwahrnehmung dieser Figuren ist bisweilen traumhaft-grotesk (sie können zum Beispiel die sechseckige Form von Schneeflocken erkennen), vor allem aber ist sie symbolistisch: Ein Krankenhausbett kann da schon mal als mit Schnee bedeckte Rosenhecke erscheinen. Mit fortschreitender Lektüre wird allerdings deutlich, dass die scheinbar zusammenhanglosen Episoden über ein Motiv- und Assoziationsnetz verknüpft sind - dabei könnte man sich sowohl an Döblins Resonanztheorie wie auch an Andrej Belyis symbolistisch durchwirktes Epos "Petersburg" erinnern. Direkt bezieht sich Martynova auf Nikolai Leskow und Fjodor Dostojewski, in deren Biographien und Werken sich die Romanfiguren spiegeln, doch es schlummern noch viele weitere Resonanzen im Text.
Neben ägyptische Jenseitsvorstellungen und abgewandelte Schöpfungsgeschichten mit platonischen Kugelwesen treten zahlreiche Symbole literarischer Produktivität wie auch solche des Rezeptionsvorgangs: Da gibt es zum Beispiel im russischen Nirgendwo ein Dorf, in dem ein Telefon steht - "aber die Kinder haben den Hörer abgerissen und in den Froschteich geworfen". Kann man sich ein schöneres Bild für das literarische Kunstwerk vorstellen?
Und was zum Beispiel mag es auf sich haben mit dem auf verschiedenen Erzählebenen immer wieder erwähnten Stutenmilchschnaps - repräsentiert er eine Art dichterisches Potenzmittel? Fließt er aus einer mythischen Quelle, oder hat die heute in Frankfurt lebende Autorin ihn am Ende aus einer hiesigen Eckkneipe unweit der Redaktion dieser Zeitung namens "Die gute Stute", in der ein Pferd auf dem Flur steht und es neben Bier tatsächlich Stutenmilchlikör zu trinken gibt? Solcher Art sind die Rätsel der Schamanin Olga Martynova, die es mit diesem Buch geschafft hat, das modernistische Erbe elegant in die deutsche Gegenwartsliteratur einzuholen - ein toller Streich gegen deren oft langweilige Linearität wie auch eine bleibende Herausforderung, denn in diesem Labyrinth der Sätze wird man sich immer wieder verirren.
Doch es gibt Hoffnung: An einer Stelle des Romans beschreibt der junge Dichter Moritz die Erfahrung, dass man, wenn man als junger Mensch Gedichte lese, noch gar keine Grundlage für ihre Einordnung habe: "Erst später sagt man sich: Ach, das war das!" Genauso, schließt Moritz, verhalte es sich mit anderen Lebenseindrücken, die "früher kommen als das Verständnis für sie". Genauso wird es wohl auch manchem Leser von "Mörikes Schlüsselbein" gehen, wenn sich ihm noch lange nach der Lektüre dieses Romans mal hier, mal da dessen Geheimnisse erschließen.
JAN WIELE.
Olga Martynova: "Mörikes Schlüsselbein". Roman.
Literaturverlag Droschl, Wien 2013. 320 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Tiefgründig, kurzweilig und lustvoll verspielt: Olga Martynovas Roman "Mörikes Schlüsselbein"
Auf der Rückseite dieses Buches steht ein guter Witz: "Ein Roman von Familie und Freundschaft: liebevoll, weiblich, scharfsichtig und humorvoll erzählt Olga Martynova von Russen und Deutschen, von Dichtern, Schamanen und Spionen, vom Eheleben und vom Erwachsenwerden."
Mit dieser Parodie von Klappentexten, wie sie heute gern verfasst werden, hat der tatsächliche Inhalt zum Glück kaum etwas zu tun. Denn Familienroman hin, liebevoll her - nach den ersten Seiten bereits weiß der Leser, dass mit solchen Beschreibungen diesem Werk nicht beizukommen ist. Sondern er steht erst mal im Regen.
Warum? Weil Olga Martynova etwas tut, was einmal selbstverständlich war, bei vielen Verlagen heute aber gar nicht mehr vorgesehen ist: Sie präsentiert einen literarischen Text, der seine Bedeutung nicht sofort offenbart. Sie erobert der deutschsprachigen Erzählprosa eine Rätselhaftigkeit zurück, wie es sie bei Alfred Döblin und Arno Schmidt einmal gab und die heute allenfalls noch bei einigen sich treu gebliebenen Formjongleuren wie Friederike Mayröcker zu finden ist: Rätselhaftigkeit also von der Makroebene des Romans bis zur Mikroebene des einzelnen Satzes und bis in die Kapitelüberschriften, die zum Beispiel lauten: "Mein Herz ist kein Wacholderharz" oder "Zeppeline über Paris / Franziska (fast) ohne Adjektive / Ausflug in die Hölle / Verliebte Augen".
Wer nun Angst vor diesem Text bekommt, kann beruhigt werden: Es handelt sich nicht um ein hermetisches Langgedicht, das man verständnislos bestaunt und am Ende frustriert weglegt. Doch es handelt sich um einen Roman, der selbst von der Literatur handelt und in ihr lebt, der deshalb voraussetzungsreich ist und sich manchmal erst über Umwege erschließt.
Nicht zufällig beginnt er mit einer Szene des Lesens: Ein älterer deutscher Professor liegt im Krankenhaus und liest ein Buch. Kaum hat er damit begonnen, trägt ihn Phantasie davon. Die Geburt der Literatur aus der Literatur: Diese Form der Metaerzählung, spätestens seit dem "Don Quijote" eine abendländische Grunderfahrung, bringt auch Martynovas Metafiktion auf den Weg.
Einen Auszug daraus kannte man bereits seit dem vergangenem Sommer: Die in Leningrad aufgewachsene Autorin, die auf Russisch und auf Deutsch schreibt, hatte damit den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen. Nun zeigt sich, dass die Figur des Tübinger Studenten Moritz, dessen Erleben und dichterische Erstversuche darin geschildert wurden, Teil eines weitverzweigten Familien- und Freundeskreises ist, in dem alle auf die eine oder andere Weise mit Literatur zu tun haben: Moritz ist der Sohn des erkrankten Russischprofessors Andreas; dieser wiederum lebt heute nicht mehr mit der Mutter seiner Kinder, sondern mit einer Russin namens Marina zusammen. Marina und Andreas stehen in Kontakt mit Autoren und Kritikern in Amerika und Russland, die ihrerseits auf den Spuren von Literaten wandeln.
Die Pfade dieser Figuren werden schnell sehr verschlungen: Vom Tübinger Hölderlinturm geht es nach Chicago und New York, über Frankfurt und Berlin nach St. Petersburg und in die Taiga, wo ein Schamane Jack Kerouac zitiert. Orte und Zeitebenen purzeln durcheinander in einem Reigen von Episoden, von denen wohl manche auch wieder der Phantasie der Figuren entspringen.
Die Weltwahrnehmung dieser Figuren ist bisweilen traumhaft-grotesk (sie können zum Beispiel die sechseckige Form von Schneeflocken erkennen), vor allem aber ist sie symbolistisch: Ein Krankenhausbett kann da schon mal als mit Schnee bedeckte Rosenhecke erscheinen. Mit fortschreitender Lektüre wird allerdings deutlich, dass die scheinbar zusammenhanglosen Episoden über ein Motiv- und Assoziationsnetz verknüpft sind - dabei könnte man sich sowohl an Döblins Resonanztheorie wie auch an Andrej Belyis symbolistisch durchwirktes Epos "Petersburg" erinnern. Direkt bezieht sich Martynova auf Nikolai Leskow und Fjodor Dostojewski, in deren Biographien und Werken sich die Romanfiguren spiegeln, doch es schlummern noch viele weitere Resonanzen im Text.
Neben ägyptische Jenseitsvorstellungen und abgewandelte Schöpfungsgeschichten mit platonischen Kugelwesen treten zahlreiche Symbole literarischer Produktivität wie auch solche des Rezeptionsvorgangs: Da gibt es zum Beispiel im russischen Nirgendwo ein Dorf, in dem ein Telefon steht - "aber die Kinder haben den Hörer abgerissen und in den Froschteich geworfen". Kann man sich ein schöneres Bild für das literarische Kunstwerk vorstellen?
Und was zum Beispiel mag es auf sich haben mit dem auf verschiedenen Erzählebenen immer wieder erwähnten Stutenmilchschnaps - repräsentiert er eine Art dichterisches Potenzmittel? Fließt er aus einer mythischen Quelle, oder hat die heute in Frankfurt lebende Autorin ihn am Ende aus einer hiesigen Eckkneipe unweit der Redaktion dieser Zeitung namens "Die gute Stute", in der ein Pferd auf dem Flur steht und es neben Bier tatsächlich Stutenmilchlikör zu trinken gibt? Solcher Art sind die Rätsel der Schamanin Olga Martynova, die es mit diesem Buch geschafft hat, das modernistische Erbe elegant in die deutsche Gegenwartsliteratur einzuholen - ein toller Streich gegen deren oft langweilige Linearität wie auch eine bleibende Herausforderung, denn in diesem Labyrinth der Sätze wird man sich immer wieder verirren.
Doch es gibt Hoffnung: An einer Stelle des Romans beschreibt der junge Dichter Moritz die Erfahrung, dass man, wenn man als junger Mensch Gedichte lese, noch gar keine Grundlage für ihre Einordnung habe: "Erst später sagt man sich: Ach, das war das!" Genauso, schließt Moritz, verhalte es sich mit anderen Lebenseindrücken, die "früher kommen als das Verständnis für sie". Genauso wird es wohl auch manchem Leser von "Mörikes Schlüsselbein" gehen, wenn sich ihm noch lange nach der Lektüre dieses Romans mal hier, mal da dessen Geheimnisse erschließen.
JAN WIELE.
Olga Martynova: "Mörikes Schlüsselbein". Roman.
Literaturverlag Droschl, Wien 2013. 320 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Angenehm getragen fühlt sich Angelika Overath von Olga Martynova und ihrem turbulenten russisch-deutschen Welttheater "Mörikes Schlüsselbein". Das liegt zum einen an der poetischen Sensibilität der Autorin für Worte und Leitmotive, zum anderen am Wagnis, das traditionelle Erzählen in Richtung radikale Fantasie zu verlassen, ohne schwer zu werden und das Alltägliche zu missachten. Im Buch begegnet Overath Paaren und Patchworkfamilien, verkehrt in deutsch-russischen Künstlerkreisen und gelangt bis nach St. Petersburg und in die Taiga.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.05.2013Wenn die Wurzeln frei in der Luft schweben
Merkbild und Stimmgabel: Olga Martynovas hinreißender Patchwork-Roman „Mörikes Schlüsselbein“
Dass die Wörter keinen festen Boden haben, ihr Sinn niemals feststeht, merken Menschen, die in zwei Kulturen zu Hause sind, jeden Tag. Die in Leningrad aufgewachsene Schriftstellerin Olga Martynova lebt seit mehr als zwanzig Jahren in Deutschland. Ihre Gedichte schreibt sie auf Russisch, ihre Prosa auf Deutsch. Das hat sich so ergeben, auch als eine Form geistiger Disziplin, die den unterschiedlichen Gattungen entgegenkommt. Dieses Verfahren bewährt sich nun auch in ihrem neuen Roman, dem zweiten nach „Sogar Papageien überleben uns“, der vor drei Jahren erschien.
Das Buch trägt ein ebenso geheimnisvolles wie handfestes Ding-Symbol im Titel, „Mörikes Schlüsselbein“. Und seine Sprache ist so sicher wie die eines Muttersprachlers. Mehr noch: Sie ist beweglich und genau, von einer schönen Klarheit, reich an Klangfarben, Rhythmen, Stimmlagen. Mal hochfahrend, mal stimmungsvoll, oft auch schnoddrig, mit Slang durchsetzt oder der Jugendsprache nah, etwa wenn sie immer mal wieder zu dem Ausdruck „keine Ahnung“ greift, wo ältere Zeitgenossen „nicht wahr“ sagen (oder in der Heimat Mörikes „gell“). Die Bildwelten aber stammen aus zwei Kulturen, aus der deutschen und der russischen Erzähltradition. Dieser Transfer bildet gewissermaßen das Nervensystem des Romans und macht ihn lebendig, auch wenn es nicht ganz leicht ist, in ihn hineinzufinden.
Da sind zunächst lauter Namen, die wild durcheinanderpurzeln, ständig wechselnde Orte, Beobachtungen, die gemacht und wieder infrage gestellt werden. Und von Anfang an gibt es das Spiel mit der Fiktion, damit also, wie Literatur gemacht ist. Da sitzt ein Professor Bach auf dem Krankenhausbett, die Infusionsflasche braucht er nicht mehr, wahrscheinlich hat er sie nie gebraucht, seine Herzbeschwerden waren nervöser Natur. Er liest ein Buch, in das wir auch einen Blick werfen dürfen, es stammt von Nikolaj Leskow, wie wir später erfahren, und wer die Essays der Autorin kennt, weiß, dass diese Szene einer Idee von Alexander Wwedenski nachgebaut ist, der wie die anderen Mitglieder der russischen Künstlergruppe Oberiu, am bekanntesten ist Daniil Charms, zu Olga Martynovas Vorbildern gehört.
Wie bei einem Mosaik wird das Muster immer besser erkennbar, je mehr Steine man beieinander hat. „Mörikes Schlüsselbein“ erzählt von einer deutsch-russischen Patchworkfamilie. Die bei einem europäischen Kulturfonds angestellte, knapp vierzigjährige Russin Marina und der deutsche Literaturprofessor Andreas (ebenjener besagte Professor Bach) sind ein Paar. Sie waren es schon vor zwanzig Jahren, haben sich aber getrennt und fanden erst wieder zusammen, als Andreas längst Kinder mit einer anderen hatte. Diese Sabine ist mittlerweile mit Frank verheiratet, der ein besserer Vater ist als der von seinen Büchern und Depressionen in Beschlag genommene Professor.
Die Frauen verstehen sich prächtig, und auch die fast erwachsenen Kinder kommen ganz gut zurecht. Franziska, die Kunst studiert, ist zwar etwas hypersensibel, so erbricht sie sich, nachdem sie in einer Ausstellung des Tübinger Stifts ein Exponat gesehen hat, an dem zu lesen steht, es sei Mörikes Schlüsselbein – aber ihren übergriffigen Freund Martin hält sie versiert auf Abstand. Moritz steht kurz vor dem Abitur. Er schwänzt die Schule und will Schriftsteller werden. Sie wohnen in Berlin, Marina hat auch noch ein Zimmer in Frankfurt, ausgerechnet in einer WG, die Laura vermittelt hat. Das war, bevor Marina wusste, dass Laura Andreas’ Geliebte ist, allerdings nur zum Zeitvertreib. Sie liebt nämlich einen anderen, einen der vielen Schriftsteller des Romans.
Aber stimmt es denn, wenn man die Handlung so launig zusammenfasst? Und wie kommen dann all die anderen unter: der russische Dichter Fjodor Stern, dessen Vorfahren aus Deutschland stammen und der sich in New York zu Tode trinkt? Seine Frau Natascha und seine Tochter Mascha? Sein Übersetzer John Perlman, ein amerikanischer Literaturprofessor, der unter dem Decknamen John Green womöglich als Spion arbeitet? Was ist mit dem alternden Pawel, dem russischen Gelehrten in Chicago, dessen Gedächtnis ihn im Stich zu lassen beginnt? Und wie steht es mit seiner Frau, der immer noch schönen Tänzerin Tonja, die für ihre Choreografien die tollsten Tricks anwendet? Sie lässt ihre Tänzer Kleists „Marionettentheater“ lesen, damit sie den Punkt erspüren lernen, über den sie sich von ihr führen lassen können. Wenn auch das nichts hilft, geht sie mit ihnen ins Bett.
Die lockere Form des Romans, dessen Episoden zwischen verschiedenen Zeiten und Orten hin und her springen, gibt der Autorin freie Hand in der Gestaltung dessen, worauf es ihr ankommt. Ob es das Gespräch in Chicago ist, bei dem Tonja Marina ihre Choreografinnen-Tricks erläutert oder ob es einzelne Beobachtungen sind, etwa über die winterlich gestutzten Platanen am Mainufer mit ihren in alle Himmelsrichtungen gerichteten „Fäusten“: Immer schießt poetische Energie in realistische Szenerien ein und verleiht ihnen magischen Zauber.
So gelingt es Olga Martynova, die Patchwork-Existenzen ihrer Helden anschaulich zu machen, die weit über familiäre Verstrickungen hinausgehen. Was es heißt, wenn die eigenen Wurzeln frei in der Luft schweben und Verbindungen quer über die Kontinente und Zeiten eingehen, wird selten so sinnfällig wie in diesem Roman. Das führt auch zu einer erhellenden Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Dass die deutsche Literatur seit einigen Jahren durch die Lebenserfahrung von Migranten neuen Aufschwung erhält, ist fast schon selbstverständlich. Am Werk der Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Olga Martynova lässt sich noch ein weiterer Aspekt dieses fruchtbaren Zusammenspiels erkennen. Sie brachte nicht nur ihre russischen Hausgötter mit, einen davon, Wsewolod Petrow, übersetzte jüngst ihr Sohn Daniel Jurjew ins Deutsche, seine Novelle „Die Manon Lescaut von Turdej“ fand begeisterte Leser. Sie macht auch von der deutschen Erzähltradition neuen Gebrauch. Wie Feridun Zaimoglu, der sich als deutsch-türkischer Schriftsteller mit Verve die Romantik anverwandelt, färbt auch Olga Martynova die Episoden rund um Hölderlin und Mörike auf eigene Weise ein.
Dass Mörikes Gebeine vollständig auf dem Pragfriedhof in Stuttgart ruhen und das vermeintliche Dichterknöchelchen im Schaukasten ein Studentenscherz war, ändert nichts daran, dass „Mörikes Schlüsselbein“ ein besonderer Gegenstand geworden ist: Merkbild und Stimmgabel für einen Roman, der nicht nur von Deutschen, Russen, Amerikanern erzählt, sondern auch von den Zauberkräften der Sprache, dem Leitmedium zwischen Körper und Seele.
MEIKE FESSMANN
Poetische Energie schießt
in realistischen Szenerien ein
und verleiht ihnen Magie
In zwei Kulturen zu Hause: Olga Martynova.
FOTO: ALEXANDRA PAWLOFF/DROSCHL VERLAG
Olga Martynova:
Mörikes Schlüsselbein.
Roman. Literaturverlag Droschl, Graz 2013.
320 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Merkbild und Stimmgabel: Olga Martynovas hinreißender Patchwork-Roman „Mörikes Schlüsselbein“
Dass die Wörter keinen festen Boden haben, ihr Sinn niemals feststeht, merken Menschen, die in zwei Kulturen zu Hause sind, jeden Tag. Die in Leningrad aufgewachsene Schriftstellerin Olga Martynova lebt seit mehr als zwanzig Jahren in Deutschland. Ihre Gedichte schreibt sie auf Russisch, ihre Prosa auf Deutsch. Das hat sich so ergeben, auch als eine Form geistiger Disziplin, die den unterschiedlichen Gattungen entgegenkommt. Dieses Verfahren bewährt sich nun auch in ihrem neuen Roman, dem zweiten nach „Sogar Papageien überleben uns“, der vor drei Jahren erschien.
Das Buch trägt ein ebenso geheimnisvolles wie handfestes Ding-Symbol im Titel, „Mörikes Schlüsselbein“. Und seine Sprache ist so sicher wie die eines Muttersprachlers. Mehr noch: Sie ist beweglich und genau, von einer schönen Klarheit, reich an Klangfarben, Rhythmen, Stimmlagen. Mal hochfahrend, mal stimmungsvoll, oft auch schnoddrig, mit Slang durchsetzt oder der Jugendsprache nah, etwa wenn sie immer mal wieder zu dem Ausdruck „keine Ahnung“ greift, wo ältere Zeitgenossen „nicht wahr“ sagen (oder in der Heimat Mörikes „gell“). Die Bildwelten aber stammen aus zwei Kulturen, aus der deutschen und der russischen Erzähltradition. Dieser Transfer bildet gewissermaßen das Nervensystem des Romans und macht ihn lebendig, auch wenn es nicht ganz leicht ist, in ihn hineinzufinden.
Da sind zunächst lauter Namen, die wild durcheinanderpurzeln, ständig wechselnde Orte, Beobachtungen, die gemacht und wieder infrage gestellt werden. Und von Anfang an gibt es das Spiel mit der Fiktion, damit also, wie Literatur gemacht ist. Da sitzt ein Professor Bach auf dem Krankenhausbett, die Infusionsflasche braucht er nicht mehr, wahrscheinlich hat er sie nie gebraucht, seine Herzbeschwerden waren nervöser Natur. Er liest ein Buch, in das wir auch einen Blick werfen dürfen, es stammt von Nikolaj Leskow, wie wir später erfahren, und wer die Essays der Autorin kennt, weiß, dass diese Szene einer Idee von Alexander Wwedenski nachgebaut ist, der wie die anderen Mitglieder der russischen Künstlergruppe Oberiu, am bekanntesten ist Daniil Charms, zu Olga Martynovas Vorbildern gehört.
Wie bei einem Mosaik wird das Muster immer besser erkennbar, je mehr Steine man beieinander hat. „Mörikes Schlüsselbein“ erzählt von einer deutsch-russischen Patchworkfamilie. Die bei einem europäischen Kulturfonds angestellte, knapp vierzigjährige Russin Marina und der deutsche Literaturprofessor Andreas (ebenjener besagte Professor Bach) sind ein Paar. Sie waren es schon vor zwanzig Jahren, haben sich aber getrennt und fanden erst wieder zusammen, als Andreas längst Kinder mit einer anderen hatte. Diese Sabine ist mittlerweile mit Frank verheiratet, der ein besserer Vater ist als der von seinen Büchern und Depressionen in Beschlag genommene Professor.
Die Frauen verstehen sich prächtig, und auch die fast erwachsenen Kinder kommen ganz gut zurecht. Franziska, die Kunst studiert, ist zwar etwas hypersensibel, so erbricht sie sich, nachdem sie in einer Ausstellung des Tübinger Stifts ein Exponat gesehen hat, an dem zu lesen steht, es sei Mörikes Schlüsselbein – aber ihren übergriffigen Freund Martin hält sie versiert auf Abstand. Moritz steht kurz vor dem Abitur. Er schwänzt die Schule und will Schriftsteller werden. Sie wohnen in Berlin, Marina hat auch noch ein Zimmer in Frankfurt, ausgerechnet in einer WG, die Laura vermittelt hat. Das war, bevor Marina wusste, dass Laura Andreas’ Geliebte ist, allerdings nur zum Zeitvertreib. Sie liebt nämlich einen anderen, einen der vielen Schriftsteller des Romans.
Aber stimmt es denn, wenn man die Handlung so launig zusammenfasst? Und wie kommen dann all die anderen unter: der russische Dichter Fjodor Stern, dessen Vorfahren aus Deutschland stammen und der sich in New York zu Tode trinkt? Seine Frau Natascha und seine Tochter Mascha? Sein Übersetzer John Perlman, ein amerikanischer Literaturprofessor, der unter dem Decknamen John Green womöglich als Spion arbeitet? Was ist mit dem alternden Pawel, dem russischen Gelehrten in Chicago, dessen Gedächtnis ihn im Stich zu lassen beginnt? Und wie steht es mit seiner Frau, der immer noch schönen Tänzerin Tonja, die für ihre Choreografien die tollsten Tricks anwendet? Sie lässt ihre Tänzer Kleists „Marionettentheater“ lesen, damit sie den Punkt erspüren lernen, über den sie sich von ihr führen lassen können. Wenn auch das nichts hilft, geht sie mit ihnen ins Bett.
Die lockere Form des Romans, dessen Episoden zwischen verschiedenen Zeiten und Orten hin und her springen, gibt der Autorin freie Hand in der Gestaltung dessen, worauf es ihr ankommt. Ob es das Gespräch in Chicago ist, bei dem Tonja Marina ihre Choreografinnen-Tricks erläutert oder ob es einzelne Beobachtungen sind, etwa über die winterlich gestutzten Platanen am Mainufer mit ihren in alle Himmelsrichtungen gerichteten „Fäusten“: Immer schießt poetische Energie in realistische Szenerien ein und verleiht ihnen magischen Zauber.
So gelingt es Olga Martynova, die Patchwork-Existenzen ihrer Helden anschaulich zu machen, die weit über familiäre Verstrickungen hinausgehen. Was es heißt, wenn die eigenen Wurzeln frei in der Luft schweben und Verbindungen quer über die Kontinente und Zeiten eingehen, wird selten so sinnfällig wie in diesem Roman. Das führt auch zu einer erhellenden Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Dass die deutsche Literatur seit einigen Jahren durch die Lebenserfahrung von Migranten neuen Aufschwung erhält, ist fast schon selbstverständlich. Am Werk der Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Olga Martynova lässt sich noch ein weiterer Aspekt dieses fruchtbaren Zusammenspiels erkennen. Sie brachte nicht nur ihre russischen Hausgötter mit, einen davon, Wsewolod Petrow, übersetzte jüngst ihr Sohn Daniel Jurjew ins Deutsche, seine Novelle „Die Manon Lescaut von Turdej“ fand begeisterte Leser. Sie macht auch von der deutschen Erzähltradition neuen Gebrauch. Wie Feridun Zaimoglu, der sich als deutsch-türkischer Schriftsteller mit Verve die Romantik anverwandelt, färbt auch Olga Martynova die Episoden rund um Hölderlin und Mörike auf eigene Weise ein.
Dass Mörikes Gebeine vollständig auf dem Pragfriedhof in Stuttgart ruhen und das vermeintliche Dichterknöchelchen im Schaukasten ein Studentenscherz war, ändert nichts daran, dass „Mörikes Schlüsselbein“ ein besonderer Gegenstand geworden ist: Merkbild und Stimmgabel für einen Roman, der nicht nur von Deutschen, Russen, Amerikanern erzählt, sondern auch von den Zauberkräften der Sprache, dem Leitmedium zwischen Körper und Seele.
MEIKE FESSMANN
Poetische Energie schießt
in realistischen Szenerien ein
und verleiht ihnen Magie
In zwei Kulturen zu Hause: Olga Martynova.
FOTO: ALEXANDRA PAWLOFF/DROSCHL VERLAG
Olga Martynova:
Mörikes Schlüsselbein.
Roman. Literaturverlag Droschl, Graz 2013.
320 Seiten, 22 Euro.
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