Ein junger Mann ist als Mitwisser betrügerischer Finanzgeschäfte schuldig geworden, und nach einem Gespräch im Polizeipräsidium springt er aus dem Fenster. Er flieht nach Marokko, in eine Felsenstadt am Meer: Essaouira, das alte Mogador. Erneut übertritt er dort die eben noch unverrückbar scheinenden Grenzen seines Lebens. Er taucht ein in die Welt der Geister, Huren und Bettler, eine Welt des Zaubers und des Schreckens. Die Reise nach Mogador wird zum Traum - zum Traum, der zurückführt auf den Boden der Realität.
Auf den Gipfeln deutscher Erzählkunst spaziert Martin Mosebach mit unnachahmlicher Eleganz und Leichtigkeit. FAZ.NET
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Als opulent, aber auch überraschend und "selbstgenügsam" würdigt Judith von Sternburg Martin Mosebachs neuen Roman "Mogador". Gut, ein paar Stereotypen, auch Stammtischparolen in gediegenem Gewand muss die Kritikerin zwar überlesen, dann aber entfaltet sich ihr die ganze erzählerische Wucht Mosebachs, die sich hier insbesondere in feinsinnigen Spiegelepisoden zeigt. Dass der Autor etwa seinen trotz klassischer Bildung etwas tumben Finanzberater Patrick auf die aus prekären Verhältnissen stammende dämonische Analphabetin und Bordellbetreiberin Khadija treffen lässt, findet die Rezensentin ebenso "raffiniert" wie die zahlreichen Kamerabilder, die ihr wie ein "orientalisches Mäandern" erscheinen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.09.2016Geld, Macht und Mystik
Augen auf: In seinem Roman "Mogador" schickt Martin Mosebach einen Finanzjongleur in die phantastische Szenerie Marokkos. Und eröffnet zugleich in seiner Bagatellensammlung "Das Leben ist kurz" eine Schule der Aufmerksamkeit.
Statistisch betrachtet währt das Leben viel länger als früher, trotzdem glauben viele Menschen, sie hätten keine Zeit. Der Philosoph Odo Marquard hat das auf das Missverhältnis zwischen Lebenskürze und Informationsbeschleunigung zurückgeführt und dagegen empfohlen, das Alte und Bewährte aufmerksam zu betrachten. Wie das geht, hat der begnadete Beschreibungskünstler Martin Mosebach immer wieder vorgeführt. Seine im Feuilleton einzeln publizierten Übertragungen der musikalischen Form der Bagatelle, also des kurzen Musikstücks, auf die Literatur, hat er mit einem augenzwinkernden Hinweis auf die Lebenskürze verbunden.
Denn das Leben besteht aus Augenblicken. Gerade die schönen und glückhaften aber wollen bekanntlich nicht verweilen, oft werden sie gar nicht bemerkt. Das allein rechtfertigt die Kunst. Bei Mosebach können scheinbare Nebensächlichkeiten ähnlich wie bei Proust zum Erlebnis werden. So wenn der Erzähler mit den Augen des Ästheten Harry Graf Kessler einem "Fräulein" zusieht, wie es Spaghetti auf den Teller gibt. "Der Augenblick stand bevor, in dem sie die silberne Zange ergreifen würde, um mit ihr in die dampfende Schüssel zu fahren, ineinander verschlungene Spaghetti daraus emporzuziehen, innezuhalten, damit die nicht ergriffenen sich lautlos lösten und in die Schüssel zurückglitten, die Zange mit dem Schlangenknäuel federnd zu heben und zu senken, um den Zustand, dass jede nicht gepackte Nudel nun abgefallen sei, zu konsolidieren, sie in kühner Linie dann von der Schüssel über seinen Teller zu schwingen und die nahrhafte, geballte Last dort abzusetzen, wo sie sich, vom Zugriff befreit, sofort wieder molluskenhaft ausbreiteten."
Zusammengestellt ergeben solche Kunststückchen eine kleine Schule der Aufmerksamkeit, deren Programm allerdings mit leichter Ironie verkündet wird: "Wir arbeiten ja nicht zum Vergnügen, sondern weil wir helfen, Augen öffnen, die Sinne weit machen wollen." Das geschieht aber durchaus. Nach der Lektüre wird der geneigte Leser sein eigenes Fahrrad mit anderen Augen betrachten, sofern es sich tatsächlich noch an dem Laternenpfahl befindet, an den man es angeschlossen hat.
Die Maxime der Augenöffnung taugt auch zur Vorbereitung auf Mosebachs neuen Roman. Darin geht es allerdings zunächst um Aktuelles, nämlich um die Frage, was diese jungen, alerten Finanzjongleure in ihren eng geschnittenen Anzügen antreibt. Der erfahrene Leser Mosebachs wird nicht erwarten, dass das einsinnig auf triviale Geldgier oder fehlende Moral zurückgeführt wird. Patrick Elff ist vielmehr ein durchaus sympathischer Held, der eine untypische Karriere durchlaufen hat. Er ist promovierter Philologe, eine akademische Karriere hätte ihm offengestanden. Er hat sich aber für eine Unternehmensberatung entschieden, von wo aus er zu einer renommierten Düsseldorfer Bank wechselte und zügig in die mittlere Führungsetage aufgestiegen ist.
Für Geld hat er sich nie besonders interessiert, obwohl er die damit verbundenen Annehmlichkeiten schätzen gelernt hat. Seine Karriereentscheidung scheint eher mit seiner ebenfalls sehr sympathisch gezeichneten Frau Pilar zu tun zu haben, obwohl sie seinen Ehrgeiz in keiner Weise anstachelt. Während jedoch er aus kleinen, aber gesicherten Verhältnissen stammt, entstammt sie einer mit altem Geld gesegneten großbürgerlichen Familie. Als Immobilienmaklerin arbeitet sie aus freien Stücken, vielleicht gerade deshalb mit Erfolg. Für ihren Vater ist Patrick aber ein Parvenü. Insgeheim vermutet Patrick, dass auch Pilar so denkt, obwohl es in der Ehe befriedigend, gleichberechtigt und freundschaftlich zugeht. Sein geisteswissenschaftliches Interesse reduziert sich derweil darauf, dass er Bücher aus dem Antiquariatskatalog nur noch bestellt, aber nicht mehr liest.
Zwei Ereignisse verwickeln Patrick in dubiose Finanzgeschäfte seiner Bank, deren Konstruktion er bereits zu durchschauen begonnen hatte, womöglich aufgrund seiner geisteswissenschaftlich geschulten Deutungsfähigkeit. Er wird zur Betreuung des marokkanischen Geschäftsmanns Pereira abgestellt, der ihm bei einem Abendessen in Paris durch sein kultiviertes Charisma derart imponiert, dass er die Abwicklung eines Geschäfts mit der Ukraine, bei der Korruption im Spiel ist, wie selbstverständlich übernimmt und erledigt. Brisant wird es, als einer seiner Untergebenen, der unscheinbar wirkende, stets nach Leberwurst riechende Buchhaltertyp Dr. Filter erhängt aufgefunden wird. Auf seinem Konto werden Summen gefunden, die in keinem Verhältnis zu seinem Einkommen stehen.
Patrick wird als Vorgesetzter, nicht als Beschuldigter ins Polizeipräsidium bestellt, doch die Medien sind schon hinter ihm her. Kurz entschlossen entwischt er mit einem Sprung aus dem Fenster und nimmt das nächste Flugzeug nach Marokko. In der Zeitung, in der er sonst nur die Finanzdaten überfliegt, liest er, kopfschüttelnd über die Dummheit der Macht, den Bericht über die unwürdige Verhaftung eines prospektiven Präsidentschaftskandidaten wegen Vergewaltigung eines Dienstmädchens im Hotel. Das verweist nur leicht verschlüsselt auf die Affäre um Dominique Strauss-Kahn, auf die der Roman mehrfach anspielt. Patrick landet in Essaouira, das bei Mosebach den alten portugiesischen Namen Mogador trägt, womit die vielfältige Kulturgeschichte aufgerufen wird. Auch Monsieur Pereira hat portugiesische Wurzeln und stammt aus Mogador, wo er gelegentlich im gleichnamigen Luxushotel residiert.
Der Leser trifft Patrick am Anfang des Romans in einem Dampfbad an, in dem er sich von "Wasser und Feuer und rabiater Abreibung" eine "Neuschaffung seiner Person" erhofft. Der merkwürdige Karim, ein Mann mit kindlichem Körper und großem Kopf, verschafft ihm ein Zimmer im Haus der geheimnisvollen Khadija, deren Faktotum er zu sein scheint. Sie hat offenbar magische Fähigkeiten und betreibt verschiedene Geschäfte. Sie verdient an der wundertätigen Weisheit eines uralten Imams, legt Karten, verleiht Geld und ist auch Hure und Kupplerin.
Ihr Einfluss in Mogador reicht bis in die höheren Polizei- und Amtskreise. Den Namen eines ratsuchenden Libyers, Mustafa, errät sie sofort, bei Patrick hat sie Schwierigkeiten. Dass es auf Paris hinausläuft, reicht aber, um ihn zu beeindrucken, der fortan Monsieur Paris heißen wird. Der versucht zunehmend verzweifelt Monsieur Pereira zu erreichen, von dem er sich Rettung aus seiner Lage verspricht. Dessen Eintreffen wird, wie Patrick sorgenvoll aus den Zeitungen erfährt, von der Affäre des von ihm verachteten, der Vergewaltigung beschuldigten Politikers verzögert. Schließlich schreibt er Pereira einen Brief, der sich als ungeschickt herausstellen wird.
Bis dahin wird die marokkanische Szenerie aus dem Blickwinkel des Fremden erzählt, der sich in dem Haus auch befremdet fühlt. Das Sitzen auf dem Boden fällt ihm so schwer wie das Essen ohne Messer und Gabel. Auch bei Khadijas Anblick, dem Finsteren an ihr, das um ihre Nasenwurzel herum erscheint, ist ihm nicht wohl. Dann aber gibt Mosebachs Erzähler der Geschichte eine überraschende und beinahe vermessene Wendung. Er erzählt die Lebensgeschichte Khadijas von ihrer Kindheit an bis in die Aktualität des Erzählten aus einer Innenperspektive. Diese Geschichte könnte sie theoretisch selbst erzählen, denn "alle wichtigen Schritte in der Entwicklung ihrer Persönlichkeit stehen und standen ihr deutlich vor Augen - nie hat sie sich etwas vorgemacht, nie etwas weggedrängt oder frisiert, was schmerzhaft oder peinlich war -, und dennoch wurde nichts davon erzählt, weil es nicht erzählt werden durfte." Die Erzählung ihrer Geschichte wäre folglich eine Art Verrat, wenn es die Paradoxie des erinnernden Erzählens nicht gäbe. So fordert der Erzähler von Khadijas Geschichte den Leser von vornherein zur Skepsis auf. "Im Erzählen verwandeln sich die Erinnerungen; je unterhaltsamer sie sich anhören, desto weniger ist ihnen zu trauen."
Der Leser aber findet es gleichwohl glaubhaft, dass der Schlüssel zu Khadijas Macht schon in einem Augenblick ihrer familienlosen Kindheit zustande kam als sie über das Meer blickend, vermeinte, die Sonne mit der Kraft ihrer Gedanken für einen Augenblick am Sinken zu hindern. In einer entsetzlichen Szene am Ofen des Badehauses, in dem ihr Stiefvater arbeitete, wie sie Poe nicht besser hätte beschreiben können, kommt es dann zu einem Pakt mit dem Feuer und zugleich dem Dämon, der sie fortan mit vermeintlichen Zufällen fördern wird, ohne dass sie ihn herbeirufen müsste.
Khadijas Geschichte gestaltet Mosebach zum farbigen Bild der marokkanischen Kultur, realistisch im beschriebenen Detail und doch märchenhaft wie die 1001 Nächte, phantastisch und unheimlich und ungeheuer spannend. Das ist kein orientalistisches Schwelgen oder Anbiedern an die maghrebinische Kultur, der Eindruck der überwältigenden Fülle entspringt vor allem den meisterlichen Beschreibungen des Sichtbaren auch da, wo das Übersinnliche ins Spiel kommt. Mosebach erzählt Khadijas Geschichte an ihrer Stelle, aber er verleugnet in Kommentaren, Deutungen und Vergleichen nicht seine westliche Herkunft und in Sprache und Stil auch nicht seine Bildung. Daran ist dennoch nichts arrogant, vielmehr bestechen die Deutungen des Erzählers durch Vorbehaltlosigkeit und den Willen, in der Ordnung Mogadors den Sinn zu erkennen. Die Korruption der Amtsträger, die Doppelmoral der Gläubigen, die Prostitution, das Bettelwesen und der Aberglaube: Alles hat in dieser Geschichte seinen Platz in der Verfassung der beschriebenen Kultur.
Das Raffinierte dabei ist, dass dem Leser diese Kultur zunehmend so fremd und anders gar nicht vorkommen will. Wie unwillkürlich stellen sich Spiegelungen ein. Das widerfährt auch Patrick, der nicht nur über seine Gemeinplätze ins Sinnieren gerät, sondern in der Gesellschaft von Khadijas Hausgemeinschaft und im Gespräch mit Karim auch seine vermeintlichen Gewissheiten über sein Leben, seinen Beruf und seine Ehe in einem anderen Licht zu sehen beginnt. So fällt ihm auch ein, dass gerade den jungen Finanzjongleuren der Aberglaube nicht fern ist, manch einer trägt einen Talisman mit sich herum, und viele glauben an glückliche Fügung, bevor sie dann scheitern. Patricks Nachname steht in der Zahlenmystik für die Überschreitung des Gesetzes.
Schließlich ereignet sich eine weitere Spiegelung. In Khadijas Abwesenheit gerät Patrick, nachdem er mit Karim zu viel getrunken hat, mit einem der Mädchen des Hauses in eine Situation, die ihn in die Lage jenes der Vergewaltigung bezichtigten Präsidentschaftskandidaten zu bringen droht, nachdem er zuvor geglaubt hatte, gegen dergleichen gefeit zu sein. In Panik verlässt er das Haus und Mogador und begibt sich zum Flughafen. Nach Khadijas Rückkehr taucht prompt die Polizei auf, um Patrick Elff festzunehmen. Wie sich herausstellt auf Geheiß eines großen Mannes, also inoffiziell, deshalb umso brisanter. Dagegen ist auch Khadija machtlos, sie kann nur darauf beharren, der Mann, der bei ihr gewohnt habe, habe Monsieur Paris geheißen.
In Düsseldorf wird Patrick schon erwartet. Ob als Schuldiger oder nicht, verrät der Erzähler nicht. Bei Khadija scheint derweil einiges außer Proportion geraten zu sein, was sie sonst so souverän zu kontrollieren imstande gewesen war. "Welchen Bösewicht hatte sie beherbergt? Jetzt wollte sie von Anfang an gewusst haben, daß er Unheil ins Haus bringe." Dem Kommandanten will Monsieur Paris angesichts der Vorwürfe, die ihn erwarten, gar als "Satan" erscheinen. Was die Hausherrin weiß, verschweigt sie: "auch eine Khadija lebte am sichersten, solange sie sich unter dem Staat hindurchbewegte. Nicht nur Monsieur Paris, auch sie war noch einmal davongekommen." Als sie dann aber feststellt, dass auch Karim sich davon gemacht hat, stellt sich ein ungekannter Schmerz ein. Dabei war Einsamkeit immer ihre Stärke gewesen. Ihr hilft, was von je geholfen hat, die Beziehung zum Feuer. Sie wird von einer Wärme durchglüht, die in der Formulierung des Erzählers eine Erfahrung darstellt, die Patrick Elff ohne es zu wissen, in seinem ersten Dampfbad gemacht hatte. So kommen zuletzt die beiden Protagonisten des Romans in rätselhafter Affinität zusammen.
Mit "Mogador" hat sich Martin Mosebach stilistisch glanzvoll, intelligent und überaus unterhaltsam über Gebote der modernen Erzähltheorie und in der eigenartigen Symbiose des Eigenen mit dem Fremden auch über postkoloniale Dogmen hinweggesetzt und den phantastischen Realismus meisterlich neu erfunden.
FRIEDMAR APEL
Martin Mosebach:
"Mogador". Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2016, 368 S., geb., 22,95 [Euro].
Martin Mosebach:
"Das Leben ist kurz".
Zwölf Bagatellen.
Rowohlt Verlag,
Reinbek bei Hamburg 2016, 160 S., geb. 16,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Augen auf: In seinem Roman "Mogador" schickt Martin Mosebach einen Finanzjongleur in die phantastische Szenerie Marokkos. Und eröffnet zugleich in seiner Bagatellensammlung "Das Leben ist kurz" eine Schule der Aufmerksamkeit.
Statistisch betrachtet währt das Leben viel länger als früher, trotzdem glauben viele Menschen, sie hätten keine Zeit. Der Philosoph Odo Marquard hat das auf das Missverhältnis zwischen Lebenskürze und Informationsbeschleunigung zurückgeführt und dagegen empfohlen, das Alte und Bewährte aufmerksam zu betrachten. Wie das geht, hat der begnadete Beschreibungskünstler Martin Mosebach immer wieder vorgeführt. Seine im Feuilleton einzeln publizierten Übertragungen der musikalischen Form der Bagatelle, also des kurzen Musikstücks, auf die Literatur, hat er mit einem augenzwinkernden Hinweis auf die Lebenskürze verbunden.
Denn das Leben besteht aus Augenblicken. Gerade die schönen und glückhaften aber wollen bekanntlich nicht verweilen, oft werden sie gar nicht bemerkt. Das allein rechtfertigt die Kunst. Bei Mosebach können scheinbare Nebensächlichkeiten ähnlich wie bei Proust zum Erlebnis werden. So wenn der Erzähler mit den Augen des Ästheten Harry Graf Kessler einem "Fräulein" zusieht, wie es Spaghetti auf den Teller gibt. "Der Augenblick stand bevor, in dem sie die silberne Zange ergreifen würde, um mit ihr in die dampfende Schüssel zu fahren, ineinander verschlungene Spaghetti daraus emporzuziehen, innezuhalten, damit die nicht ergriffenen sich lautlos lösten und in die Schüssel zurückglitten, die Zange mit dem Schlangenknäuel federnd zu heben und zu senken, um den Zustand, dass jede nicht gepackte Nudel nun abgefallen sei, zu konsolidieren, sie in kühner Linie dann von der Schüssel über seinen Teller zu schwingen und die nahrhafte, geballte Last dort abzusetzen, wo sie sich, vom Zugriff befreit, sofort wieder molluskenhaft ausbreiteten."
Zusammengestellt ergeben solche Kunststückchen eine kleine Schule der Aufmerksamkeit, deren Programm allerdings mit leichter Ironie verkündet wird: "Wir arbeiten ja nicht zum Vergnügen, sondern weil wir helfen, Augen öffnen, die Sinne weit machen wollen." Das geschieht aber durchaus. Nach der Lektüre wird der geneigte Leser sein eigenes Fahrrad mit anderen Augen betrachten, sofern es sich tatsächlich noch an dem Laternenpfahl befindet, an den man es angeschlossen hat.
Die Maxime der Augenöffnung taugt auch zur Vorbereitung auf Mosebachs neuen Roman. Darin geht es allerdings zunächst um Aktuelles, nämlich um die Frage, was diese jungen, alerten Finanzjongleure in ihren eng geschnittenen Anzügen antreibt. Der erfahrene Leser Mosebachs wird nicht erwarten, dass das einsinnig auf triviale Geldgier oder fehlende Moral zurückgeführt wird. Patrick Elff ist vielmehr ein durchaus sympathischer Held, der eine untypische Karriere durchlaufen hat. Er ist promovierter Philologe, eine akademische Karriere hätte ihm offengestanden. Er hat sich aber für eine Unternehmensberatung entschieden, von wo aus er zu einer renommierten Düsseldorfer Bank wechselte und zügig in die mittlere Führungsetage aufgestiegen ist.
Für Geld hat er sich nie besonders interessiert, obwohl er die damit verbundenen Annehmlichkeiten schätzen gelernt hat. Seine Karriereentscheidung scheint eher mit seiner ebenfalls sehr sympathisch gezeichneten Frau Pilar zu tun zu haben, obwohl sie seinen Ehrgeiz in keiner Weise anstachelt. Während jedoch er aus kleinen, aber gesicherten Verhältnissen stammt, entstammt sie einer mit altem Geld gesegneten großbürgerlichen Familie. Als Immobilienmaklerin arbeitet sie aus freien Stücken, vielleicht gerade deshalb mit Erfolg. Für ihren Vater ist Patrick aber ein Parvenü. Insgeheim vermutet Patrick, dass auch Pilar so denkt, obwohl es in der Ehe befriedigend, gleichberechtigt und freundschaftlich zugeht. Sein geisteswissenschaftliches Interesse reduziert sich derweil darauf, dass er Bücher aus dem Antiquariatskatalog nur noch bestellt, aber nicht mehr liest.
Zwei Ereignisse verwickeln Patrick in dubiose Finanzgeschäfte seiner Bank, deren Konstruktion er bereits zu durchschauen begonnen hatte, womöglich aufgrund seiner geisteswissenschaftlich geschulten Deutungsfähigkeit. Er wird zur Betreuung des marokkanischen Geschäftsmanns Pereira abgestellt, der ihm bei einem Abendessen in Paris durch sein kultiviertes Charisma derart imponiert, dass er die Abwicklung eines Geschäfts mit der Ukraine, bei der Korruption im Spiel ist, wie selbstverständlich übernimmt und erledigt. Brisant wird es, als einer seiner Untergebenen, der unscheinbar wirkende, stets nach Leberwurst riechende Buchhaltertyp Dr. Filter erhängt aufgefunden wird. Auf seinem Konto werden Summen gefunden, die in keinem Verhältnis zu seinem Einkommen stehen.
Patrick wird als Vorgesetzter, nicht als Beschuldigter ins Polizeipräsidium bestellt, doch die Medien sind schon hinter ihm her. Kurz entschlossen entwischt er mit einem Sprung aus dem Fenster und nimmt das nächste Flugzeug nach Marokko. In der Zeitung, in der er sonst nur die Finanzdaten überfliegt, liest er, kopfschüttelnd über die Dummheit der Macht, den Bericht über die unwürdige Verhaftung eines prospektiven Präsidentschaftskandidaten wegen Vergewaltigung eines Dienstmädchens im Hotel. Das verweist nur leicht verschlüsselt auf die Affäre um Dominique Strauss-Kahn, auf die der Roman mehrfach anspielt. Patrick landet in Essaouira, das bei Mosebach den alten portugiesischen Namen Mogador trägt, womit die vielfältige Kulturgeschichte aufgerufen wird. Auch Monsieur Pereira hat portugiesische Wurzeln und stammt aus Mogador, wo er gelegentlich im gleichnamigen Luxushotel residiert.
Der Leser trifft Patrick am Anfang des Romans in einem Dampfbad an, in dem er sich von "Wasser und Feuer und rabiater Abreibung" eine "Neuschaffung seiner Person" erhofft. Der merkwürdige Karim, ein Mann mit kindlichem Körper und großem Kopf, verschafft ihm ein Zimmer im Haus der geheimnisvollen Khadija, deren Faktotum er zu sein scheint. Sie hat offenbar magische Fähigkeiten und betreibt verschiedene Geschäfte. Sie verdient an der wundertätigen Weisheit eines uralten Imams, legt Karten, verleiht Geld und ist auch Hure und Kupplerin.
Ihr Einfluss in Mogador reicht bis in die höheren Polizei- und Amtskreise. Den Namen eines ratsuchenden Libyers, Mustafa, errät sie sofort, bei Patrick hat sie Schwierigkeiten. Dass es auf Paris hinausläuft, reicht aber, um ihn zu beeindrucken, der fortan Monsieur Paris heißen wird. Der versucht zunehmend verzweifelt Monsieur Pereira zu erreichen, von dem er sich Rettung aus seiner Lage verspricht. Dessen Eintreffen wird, wie Patrick sorgenvoll aus den Zeitungen erfährt, von der Affäre des von ihm verachteten, der Vergewaltigung beschuldigten Politikers verzögert. Schließlich schreibt er Pereira einen Brief, der sich als ungeschickt herausstellen wird.
Bis dahin wird die marokkanische Szenerie aus dem Blickwinkel des Fremden erzählt, der sich in dem Haus auch befremdet fühlt. Das Sitzen auf dem Boden fällt ihm so schwer wie das Essen ohne Messer und Gabel. Auch bei Khadijas Anblick, dem Finsteren an ihr, das um ihre Nasenwurzel herum erscheint, ist ihm nicht wohl. Dann aber gibt Mosebachs Erzähler der Geschichte eine überraschende und beinahe vermessene Wendung. Er erzählt die Lebensgeschichte Khadijas von ihrer Kindheit an bis in die Aktualität des Erzählten aus einer Innenperspektive. Diese Geschichte könnte sie theoretisch selbst erzählen, denn "alle wichtigen Schritte in der Entwicklung ihrer Persönlichkeit stehen und standen ihr deutlich vor Augen - nie hat sie sich etwas vorgemacht, nie etwas weggedrängt oder frisiert, was schmerzhaft oder peinlich war -, und dennoch wurde nichts davon erzählt, weil es nicht erzählt werden durfte." Die Erzählung ihrer Geschichte wäre folglich eine Art Verrat, wenn es die Paradoxie des erinnernden Erzählens nicht gäbe. So fordert der Erzähler von Khadijas Geschichte den Leser von vornherein zur Skepsis auf. "Im Erzählen verwandeln sich die Erinnerungen; je unterhaltsamer sie sich anhören, desto weniger ist ihnen zu trauen."
Der Leser aber findet es gleichwohl glaubhaft, dass der Schlüssel zu Khadijas Macht schon in einem Augenblick ihrer familienlosen Kindheit zustande kam als sie über das Meer blickend, vermeinte, die Sonne mit der Kraft ihrer Gedanken für einen Augenblick am Sinken zu hindern. In einer entsetzlichen Szene am Ofen des Badehauses, in dem ihr Stiefvater arbeitete, wie sie Poe nicht besser hätte beschreiben können, kommt es dann zu einem Pakt mit dem Feuer und zugleich dem Dämon, der sie fortan mit vermeintlichen Zufällen fördern wird, ohne dass sie ihn herbeirufen müsste.
Khadijas Geschichte gestaltet Mosebach zum farbigen Bild der marokkanischen Kultur, realistisch im beschriebenen Detail und doch märchenhaft wie die 1001 Nächte, phantastisch und unheimlich und ungeheuer spannend. Das ist kein orientalistisches Schwelgen oder Anbiedern an die maghrebinische Kultur, der Eindruck der überwältigenden Fülle entspringt vor allem den meisterlichen Beschreibungen des Sichtbaren auch da, wo das Übersinnliche ins Spiel kommt. Mosebach erzählt Khadijas Geschichte an ihrer Stelle, aber er verleugnet in Kommentaren, Deutungen und Vergleichen nicht seine westliche Herkunft und in Sprache und Stil auch nicht seine Bildung. Daran ist dennoch nichts arrogant, vielmehr bestechen die Deutungen des Erzählers durch Vorbehaltlosigkeit und den Willen, in der Ordnung Mogadors den Sinn zu erkennen. Die Korruption der Amtsträger, die Doppelmoral der Gläubigen, die Prostitution, das Bettelwesen und der Aberglaube: Alles hat in dieser Geschichte seinen Platz in der Verfassung der beschriebenen Kultur.
Das Raffinierte dabei ist, dass dem Leser diese Kultur zunehmend so fremd und anders gar nicht vorkommen will. Wie unwillkürlich stellen sich Spiegelungen ein. Das widerfährt auch Patrick, der nicht nur über seine Gemeinplätze ins Sinnieren gerät, sondern in der Gesellschaft von Khadijas Hausgemeinschaft und im Gespräch mit Karim auch seine vermeintlichen Gewissheiten über sein Leben, seinen Beruf und seine Ehe in einem anderen Licht zu sehen beginnt. So fällt ihm auch ein, dass gerade den jungen Finanzjongleuren der Aberglaube nicht fern ist, manch einer trägt einen Talisman mit sich herum, und viele glauben an glückliche Fügung, bevor sie dann scheitern. Patricks Nachname steht in der Zahlenmystik für die Überschreitung des Gesetzes.
Schließlich ereignet sich eine weitere Spiegelung. In Khadijas Abwesenheit gerät Patrick, nachdem er mit Karim zu viel getrunken hat, mit einem der Mädchen des Hauses in eine Situation, die ihn in die Lage jenes der Vergewaltigung bezichtigten Präsidentschaftskandidaten zu bringen droht, nachdem er zuvor geglaubt hatte, gegen dergleichen gefeit zu sein. In Panik verlässt er das Haus und Mogador und begibt sich zum Flughafen. Nach Khadijas Rückkehr taucht prompt die Polizei auf, um Patrick Elff festzunehmen. Wie sich herausstellt auf Geheiß eines großen Mannes, also inoffiziell, deshalb umso brisanter. Dagegen ist auch Khadija machtlos, sie kann nur darauf beharren, der Mann, der bei ihr gewohnt habe, habe Monsieur Paris geheißen.
In Düsseldorf wird Patrick schon erwartet. Ob als Schuldiger oder nicht, verrät der Erzähler nicht. Bei Khadija scheint derweil einiges außer Proportion geraten zu sein, was sie sonst so souverän zu kontrollieren imstande gewesen war. "Welchen Bösewicht hatte sie beherbergt? Jetzt wollte sie von Anfang an gewusst haben, daß er Unheil ins Haus bringe." Dem Kommandanten will Monsieur Paris angesichts der Vorwürfe, die ihn erwarten, gar als "Satan" erscheinen. Was die Hausherrin weiß, verschweigt sie: "auch eine Khadija lebte am sichersten, solange sie sich unter dem Staat hindurchbewegte. Nicht nur Monsieur Paris, auch sie war noch einmal davongekommen." Als sie dann aber feststellt, dass auch Karim sich davon gemacht hat, stellt sich ein ungekannter Schmerz ein. Dabei war Einsamkeit immer ihre Stärke gewesen. Ihr hilft, was von je geholfen hat, die Beziehung zum Feuer. Sie wird von einer Wärme durchglüht, die in der Formulierung des Erzählers eine Erfahrung darstellt, die Patrick Elff ohne es zu wissen, in seinem ersten Dampfbad gemacht hatte. So kommen zuletzt die beiden Protagonisten des Romans in rätselhafter Affinität zusammen.
Mit "Mogador" hat sich Martin Mosebach stilistisch glanzvoll, intelligent und überaus unterhaltsam über Gebote der modernen Erzähltheorie und in der eigenartigen Symbiose des Eigenen mit dem Fremden auch über postkoloniale Dogmen hinweggesetzt und den phantastischen Realismus meisterlich neu erfunden.
FRIEDMAR APEL
Martin Mosebach:
"Mogador". Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2016, 368 S., geb., 22,95 [Euro].
Martin Mosebach:
"Das Leben ist kurz".
Zwölf Bagatellen.
Rowohlt Verlag,
Reinbek bei Hamburg 2016, 160 S., geb. 16,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Virtuos inszeniert Martin Mosebach den Zusammenprall der Welten. ... So klug, so kenntnisreich und anschaulich wurde in der deutschen Gegenwartsliteratur lange nicht mehr über die arabische Welt geschrieben. Also, lesen Sie Mogador! Dennis Scheck ARD "Druckfrisch"