»Mit zwölf Jahren wurde mir schlagartig klar, dass ich nie durch Anmut überzeugen würde.« Charly Benz.
Wie gestaltet man sein Leben, wenn man zwei linke Hände, eine demolierte Seele und jede Menge Probleme hat? Eine hinreißende Tiefstaplerin, der man nicht so ganz trauen kann, führt uns durch den neuen Roman von Verena Roßbacher.
Mit unverbrüchlichem Optimismus und irre gut gelaunt strauchelt Charly Benz seit 43 Jahren durch ihr Leben. Sie arbeitet im Marketing einer Berliner Foodcompany, ernährt sich von angebrannten Croissants und bespricht ihre Beziehungsprobleme - die darin bestehen, dass sie keine Beziehung hat - mit ihrem einzigen Freund: Herr Schabowski, ein sechzigjähriger Mann, der ihre Post und Ängste sortiert. Doch als dieser eine tödliche Diagnose erhält, ihr erster Versuch einer Systemischen Familienaufstellung in einem Debakel endet und plötzlich gleich drei Männer ihr Leben gehörig durcheinanderbringen, verlässt Charly allumfassend der Mut. Den sollte sie schleunigst wiederfinden, sie ist nämlich schwanger. Sie und Schabowski beschließen, ihre Probleme proaktiv anzugehen: Sie flüchten. Und zwar nach Bad Gastein, ein ehemals mondäner Kurort im Südwesten Österreichs. In einem leerstehenden Hotel der Jahrhundertwende, das einst Charlys Vater gehörte, stellen sie fest: Man kann sich die Menschen, mit denen man verwandt ist, nicht aussuchen - seine Familie aber schon.
Wie gestaltet man sein Leben, wenn man zwei linke Hände, eine demolierte Seele und jede Menge Probleme hat? Eine hinreißende Tiefstaplerin, der man nicht so ganz trauen kann, führt uns durch den neuen Roman von Verena Roßbacher.
Mit unverbrüchlichem Optimismus und irre gut gelaunt strauchelt Charly Benz seit 43 Jahren durch ihr Leben. Sie arbeitet im Marketing einer Berliner Foodcompany, ernährt sich von angebrannten Croissants und bespricht ihre Beziehungsprobleme - die darin bestehen, dass sie keine Beziehung hat - mit ihrem einzigen Freund: Herr Schabowski, ein sechzigjähriger Mann, der ihre Post und Ängste sortiert. Doch als dieser eine tödliche Diagnose erhält, ihr erster Versuch einer Systemischen Familienaufstellung in einem Debakel endet und plötzlich gleich drei Männer ihr Leben gehörig durcheinanderbringen, verlässt Charly allumfassend der Mut. Den sollte sie schleunigst wiederfinden, sie ist nämlich schwanger. Sie und Schabowski beschließen, ihre Probleme proaktiv anzugehen: Sie flüchten. Und zwar nach Bad Gastein, ein ehemals mondäner Kurort im Südwesten Österreichs. In einem leerstehenden Hotel der Jahrhundertwende, das einst Charlys Vater gehörte, stellen sie fest: Man kann sich die Menschen, mit denen man verwandt ist, nicht aussuchen - seine Familie aber schon.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.05.2022Mit Aufbackviennoiserien lässt sich auch leben
Schicksalsjahre einer Konsumentin: Verena Roßbachers komisches Meisterwerk "Mon Chéri und unsere demolierten Seelen"
"Ein paar Worte vorneweg", heißt es vorneweg. Eine gebieterische Ruckrede, mit der die Leserin von "Mon Chéri" schon in der Überschrift des Vorspanns auf Linie gebracht wird. Auf den folgenden fünfhundert Seiten wird man sich jedenfalls noch an ihn erinnern. Dort, wo er mahnende Gebrauchsanleitung zum belletristischen Verzehr ist, und auch dort, wo er über Bord geworfen wird. "Handke", steht da also, "Handke sagte einmal, über Sexualität gebe es nichts zu schreiben. Er sagte, auch im Kino schaue er immer weg, Sexszenen würden alle erniedrigen, die Zuschauer wie die Darsteller. Handke und ich sind weiß Gott nicht immer einer Meinung, aber in dieser Sache muss ich ihm auf die Schulter klopfen."
"Mon Chéri", der vierte Roman von Verena Roßbacher, ist also ein Buch, das sich von Handke herleitet (zumindest in dem Punkt) und das von Menschen in Berlin handelt, deren Sexleben uns weitgehend verborgen bleibt zugunsten einer noch viel intimeren Besichtigung ihrer "demolierten Seelen". So heißt "Mon Chéri" im Untertitel. Und auch da hilft der frühe Handke. Aber eigentlich kann man sich jetzt auch wieder von ihm trennen. Denn dieses Buch mit insgesamt drei spektakulären Sexszenen gegen die Verabredung braucht ihn nicht. Eines zum Handke-Komplex sei vielleicht aber noch nachgereicht. Es wird ein Baby geboren, das Petra heißen soll - als Hommage an den großen Dichter!
Die Mutter des Babys wird eingeführt als eine Person, die an Silvester notorisch zum sogenannten "Notfallessen" eingeladen wird. Dort landen nur die, die jetzt allein sind und es lange bleiben werden. "Ja, das war das Problem. Ich musste immer alles alleine machen, Essen kochen und Musik machen, mich vor meiner Post fürchten, einfach alles. Ich seufzte. So wie es aussah, würde ich auch meine Kinder in Eigenregie zeugen müssen, sollte ich je welche haben wollen. Ich musste mir eingestehen: Die Zeit arbeitete gegen mich."
Immerhin hat Charly Benz Bilder für alles und jeden: "Als Frau fühlte ich mich eher wie die fiese Karikatur einer Suffragette." Und einen Job, in dem ihr schonungslos kreatives Wesen gefragt ist: Werbung für vegane Müsliriegel und andere Foodtrends. Da Charly, die sich selbst von Aufbackviennoiserien ernährt, alles, was es über das Leben zu wissen gab, praktisch aus Illustrierten und Fernsehsendungen der Neunziger bezogen hat, ist sie Profi für kollektive Lügenimperien. Stichwort: Dallmayr Prodomo, Werther's Echte und Mon Chéri.
Ansonsten steht es eher schlecht um sie. Nicht nur hört Charly nach Feierabend regressiverweise "Bibi Blocksberg", auch wird sie von ernsthaften Schrullen geplagt. Angst vor schlechten Nachrichten zum Beispiel macht es ihr unmöglich, sich dem Inhalt ihres Briefkastens zu stellen. Weswegen jetzt die zweite Hauptfigur ins Spiel kommt: Herr Schabowski. Ein kettenrauchender Anzugträger, der auf Fälle wie Charly Benz spezialisiert ist. Bei ihm ist sie Premiumkundin für 89,90 Euro im Monat, was bedeutet: "Bearbeitung vorhandener Briefe/Dokumente (Flatrate), Gesprächstermine im Büro (ebenfalls unbegrenzt), Amtsgänge (maximal viermal im Monat und im Umkreis von 50 km mit Aufpreis) und Telefongespräche. Dazu kam die regelmäßige Aufklärung, wie man auf einen Brief zu reagieren hatte - das war bei jeder der drei Abokategorien mit dabei, und man konnte es auch nicht abbestellen."
Charly Benz hätte es gerne abbestellt. Aber Herr Schabowski bleibt eisern. "'Schauen sie, Frau Benz', sagte er jedes Mal väterlich, wenn er mich aufklärte, 'es kann zwar sein, dass das nicht unbedingt von Geschäftstüchtigkeit zeugt, aber ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie glücklich es mich macht, wenn ein Kunde irgendwann sein Abo kündigt. Ich habe ja selbst keine Kinder, aber so muss es sich anfühlen, wenn die eigenen Sprösslinge flügge werden - eine Mischung aus Stolz, Zuversicht, Sorge und Wehmut.'" Und so entsteht der zentrale Pakt dieses Buchs, der auch ein Pakt mit dem Leser ist, aus dem Geist der Bürokratie: "'Herr Schabowski', sagte ich dann immer, 'und wenn alle Sie im Stich lassen, ich bleibe Ihnen treu.'"
Verena Roßbacher erzählt in "Mon Chéri und unsere demolierten Seelen" von einer ungewöhnlichen Freundschaft auf Leben und Tod. Die über viele Seiten tragende Wand der Komik ("Ich war eine Frau im Winter meines Lebens") wird dabei mit einem ordentlichen Fundament aus Ernsthaftigkeit und Nachdenklichkeit stabilisiert. Denn Schabowski ist unheilbar an Krebs erkrankt. Ihm bleiben, so sagt der schöne Doktor Faruki von der Charité, nur noch wenige Wochen. Charly wiederum ist, seit ihre "nervige Schwester Sybille" ihr eine Familienaufstellung geschenkt hat, in eine Spirale der Aufarbeitung geraten. Man folgt ihrer Erzählung voller Mitgefühl für so viel Pech im Leben der armen Charly Benz, die als jüngstes von fünf Kindern in der Ostschweiz aufgewachsen ist, früh die Mutter verlor und noch früher den Vater, der sich von der Familie abgeseilt hat, als Charly fünf war. Die Geschwister: "meine Schwestern, bebrillte, lange und ungelenke Elende", der Bruder ein "Yeti". Die wenigen Beziehungen der Charly Benz sind ein Desaster mit Ansage.
Als nach jahrelangem Single-Siechtum sich gleich drei Männer auf einmal in ihrem Leben einstellen und es zu einer (für uns Leser) unbefleckten Empfängnis mit drei potentiellen Vätern kommt, nimmt alles eine unerwartete Wendung. Unter tätiger Mitwirkung von Esoterik-Schwester Sybille arbeiten Charly und Schabowski nun eine alternative Heilagenda ab. Verena Roßbacher führt dabei in die komischsten Winkel der modernen Esoterik, aber nie ohne Respekt vor denen, die ihre Denkgebäude in Anspruch nehmen, und jenen, die an ihnen gesunden. So wie Schabowski, der wieder Lebensmut findet und entgegen jeder Prognose noch einmal aufblüht - bevor dann doch das Unvermeidliche eintritt. Bis dahin werden Charly und Schabowski einen weiten, ernsten und doch auch absurd komischen Weg der Selbstklärung zurücklegen, an dessen Erkenntnisquellen sich auch alle Leser laben können: tanzender Heilkreis der Colima-Indianer, heilsames Arbeiten mit Ton, lustige Filme schauen im Zeichen der Heilsamkeit. "Ja okay, Channeln mit Engeln war ein Griff ins Klo."
Das wirkliche Wunder, das "Mon Chéri" vollbringt, ist, dass der komischste Roman der Saison nicht im Stadium des Ironischen stecken bleibt, das ja bekanntlich eine Distanzierungsmasche von Angsthasen ist. Nein, "Mon Chéri" ist das Buch mit der Piemont-Kirsche, und es geht den Weg des Komischen zu Ende: von süß bis bitter und wieder zurück. Es erzählt uns, dass das Leben ein Witz ist, wenn es den Tod nicht mitdenkt.
Kurz vor seinem Tod stellt Herr Schabowski noch eine Playlist mit den Musikstücken zusammen, die das Ende eines Films anzeigen. Es seien fast immer solche, die ihn fröhlich und zuversichtlich stimmten, sagt Schabowski. Und als es dann fast vorbei ist: "'Kommen Sie', sagte er, 'hören wir noch ein bisschen Abspann.'" KATHARINA TEUTSCH
Verena Roßbacher: "Mon Chéri und unsere demolierten Seelen". Roman.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022.
512 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schicksalsjahre einer Konsumentin: Verena Roßbachers komisches Meisterwerk "Mon Chéri und unsere demolierten Seelen"
"Ein paar Worte vorneweg", heißt es vorneweg. Eine gebieterische Ruckrede, mit der die Leserin von "Mon Chéri" schon in der Überschrift des Vorspanns auf Linie gebracht wird. Auf den folgenden fünfhundert Seiten wird man sich jedenfalls noch an ihn erinnern. Dort, wo er mahnende Gebrauchsanleitung zum belletristischen Verzehr ist, und auch dort, wo er über Bord geworfen wird. "Handke", steht da also, "Handke sagte einmal, über Sexualität gebe es nichts zu schreiben. Er sagte, auch im Kino schaue er immer weg, Sexszenen würden alle erniedrigen, die Zuschauer wie die Darsteller. Handke und ich sind weiß Gott nicht immer einer Meinung, aber in dieser Sache muss ich ihm auf die Schulter klopfen."
"Mon Chéri", der vierte Roman von Verena Roßbacher, ist also ein Buch, das sich von Handke herleitet (zumindest in dem Punkt) und das von Menschen in Berlin handelt, deren Sexleben uns weitgehend verborgen bleibt zugunsten einer noch viel intimeren Besichtigung ihrer "demolierten Seelen". So heißt "Mon Chéri" im Untertitel. Und auch da hilft der frühe Handke. Aber eigentlich kann man sich jetzt auch wieder von ihm trennen. Denn dieses Buch mit insgesamt drei spektakulären Sexszenen gegen die Verabredung braucht ihn nicht. Eines zum Handke-Komplex sei vielleicht aber noch nachgereicht. Es wird ein Baby geboren, das Petra heißen soll - als Hommage an den großen Dichter!
Die Mutter des Babys wird eingeführt als eine Person, die an Silvester notorisch zum sogenannten "Notfallessen" eingeladen wird. Dort landen nur die, die jetzt allein sind und es lange bleiben werden. "Ja, das war das Problem. Ich musste immer alles alleine machen, Essen kochen und Musik machen, mich vor meiner Post fürchten, einfach alles. Ich seufzte. So wie es aussah, würde ich auch meine Kinder in Eigenregie zeugen müssen, sollte ich je welche haben wollen. Ich musste mir eingestehen: Die Zeit arbeitete gegen mich."
Immerhin hat Charly Benz Bilder für alles und jeden: "Als Frau fühlte ich mich eher wie die fiese Karikatur einer Suffragette." Und einen Job, in dem ihr schonungslos kreatives Wesen gefragt ist: Werbung für vegane Müsliriegel und andere Foodtrends. Da Charly, die sich selbst von Aufbackviennoiserien ernährt, alles, was es über das Leben zu wissen gab, praktisch aus Illustrierten und Fernsehsendungen der Neunziger bezogen hat, ist sie Profi für kollektive Lügenimperien. Stichwort: Dallmayr Prodomo, Werther's Echte und Mon Chéri.
Ansonsten steht es eher schlecht um sie. Nicht nur hört Charly nach Feierabend regressiverweise "Bibi Blocksberg", auch wird sie von ernsthaften Schrullen geplagt. Angst vor schlechten Nachrichten zum Beispiel macht es ihr unmöglich, sich dem Inhalt ihres Briefkastens zu stellen. Weswegen jetzt die zweite Hauptfigur ins Spiel kommt: Herr Schabowski. Ein kettenrauchender Anzugträger, der auf Fälle wie Charly Benz spezialisiert ist. Bei ihm ist sie Premiumkundin für 89,90 Euro im Monat, was bedeutet: "Bearbeitung vorhandener Briefe/Dokumente (Flatrate), Gesprächstermine im Büro (ebenfalls unbegrenzt), Amtsgänge (maximal viermal im Monat und im Umkreis von 50 km mit Aufpreis) und Telefongespräche. Dazu kam die regelmäßige Aufklärung, wie man auf einen Brief zu reagieren hatte - das war bei jeder der drei Abokategorien mit dabei, und man konnte es auch nicht abbestellen."
Charly Benz hätte es gerne abbestellt. Aber Herr Schabowski bleibt eisern. "'Schauen sie, Frau Benz', sagte er jedes Mal väterlich, wenn er mich aufklärte, 'es kann zwar sein, dass das nicht unbedingt von Geschäftstüchtigkeit zeugt, aber ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie glücklich es mich macht, wenn ein Kunde irgendwann sein Abo kündigt. Ich habe ja selbst keine Kinder, aber so muss es sich anfühlen, wenn die eigenen Sprösslinge flügge werden - eine Mischung aus Stolz, Zuversicht, Sorge und Wehmut.'" Und so entsteht der zentrale Pakt dieses Buchs, der auch ein Pakt mit dem Leser ist, aus dem Geist der Bürokratie: "'Herr Schabowski', sagte ich dann immer, 'und wenn alle Sie im Stich lassen, ich bleibe Ihnen treu.'"
Verena Roßbacher erzählt in "Mon Chéri und unsere demolierten Seelen" von einer ungewöhnlichen Freundschaft auf Leben und Tod. Die über viele Seiten tragende Wand der Komik ("Ich war eine Frau im Winter meines Lebens") wird dabei mit einem ordentlichen Fundament aus Ernsthaftigkeit und Nachdenklichkeit stabilisiert. Denn Schabowski ist unheilbar an Krebs erkrankt. Ihm bleiben, so sagt der schöne Doktor Faruki von der Charité, nur noch wenige Wochen. Charly wiederum ist, seit ihre "nervige Schwester Sybille" ihr eine Familienaufstellung geschenkt hat, in eine Spirale der Aufarbeitung geraten. Man folgt ihrer Erzählung voller Mitgefühl für so viel Pech im Leben der armen Charly Benz, die als jüngstes von fünf Kindern in der Ostschweiz aufgewachsen ist, früh die Mutter verlor und noch früher den Vater, der sich von der Familie abgeseilt hat, als Charly fünf war. Die Geschwister: "meine Schwestern, bebrillte, lange und ungelenke Elende", der Bruder ein "Yeti". Die wenigen Beziehungen der Charly Benz sind ein Desaster mit Ansage.
Als nach jahrelangem Single-Siechtum sich gleich drei Männer auf einmal in ihrem Leben einstellen und es zu einer (für uns Leser) unbefleckten Empfängnis mit drei potentiellen Vätern kommt, nimmt alles eine unerwartete Wendung. Unter tätiger Mitwirkung von Esoterik-Schwester Sybille arbeiten Charly und Schabowski nun eine alternative Heilagenda ab. Verena Roßbacher führt dabei in die komischsten Winkel der modernen Esoterik, aber nie ohne Respekt vor denen, die ihre Denkgebäude in Anspruch nehmen, und jenen, die an ihnen gesunden. So wie Schabowski, der wieder Lebensmut findet und entgegen jeder Prognose noch einmal aufblüht - bevor dann doch das Unvermeidliche eintritt. Bis dahin werden Charly und Schabowski einen weiten, ernsten und doch auch absurd komischen Weg der Selbstklärung zurücklegen, an dessen Erkenntnisquellen sich auch alle Leser laben können: tanzender Heilkreis der Colima-Indianer, heilsames Arbeiten mit Ton, lustige Filme schauen im Zeichen der Heilsamkeit. "Ja okay, Channeln mit Engeln war ein Griff ins Klo."
Das wirkliche Wunder, das "Mon Chéri" vollbringt, ist, dass der komischste Roman der Saison nicht im Stadium des Ironischen stecken bleibt, das ja bekanntlich eine Distanzierungsmasche von Angsthasen ist. Nein, "Mon Chéri" ist das Buch mit der Piemont-Kirsche, und es geht den Weg des Komischen zu Ende: von süß bis bitter und wieder zurück. Es erzählt uns, dass das Leben ein Witz ist, wenn es den Tod nicht mitdenkt.
Kurz vor seinem Tod stellt Herr Schabowski noch eine Playlist mit den Musikstücken zusammen, die das Ende eines Films anzeigen. Es seien fast immer solche, die ihn fröhlich und zuversichtlich stimmten, sagt Schabowski. Und als es dann fast vorbei ist: "'Kommen Sie', sagte er, 'hören wir noch ein bisschen Abspann.'" KATHARINA TEUTSCH
Verena Roßbacher: "Mon Chéri und unsere demolierten Seelen". Roman.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022.
512 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Kristina Maidt-Zinke hat nichts gegen Antiquiertheit, wenn sie so charmant daherkommt wie in Verena Roßbachers Roman über die Selbstfindungseskapaden einer Mittvierzigerin. Dass sich jemand eskapistisch wie die Heldin verhält, ist für die Rezensentin zwar eigentlich kaum noch vorstellbar, doch Roßbacher hat einen originellen und gelassen-komischen Zugang zur komplexbeladenen Seele ihrer Figur, versichert sie. Das zeigt sich für Maidt-Zinke etwa darin, dass sie der Protagonistin einen kuriosen Therapeuten und gleich drei potenzielle Kindsväter an die Seite stellt und aus dieser Konstellation eine Utopie des "solidarischen Miteinanders" zaubert.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.08.2022Ängste und andere Erbschaften
Verena Roßbachers beweist ihre schräge Originalität in einem Roman
Im ersten Moment wirkt der Roman merkwürdig antiquiert. Nicht wegen der darin herumschwirrenden Marken- und Produktnamen aus den Achtzigern und Neunzigern, der Jugendzeit der Autorin Verena Roßbacher und ihrer Protagonistin Charly Benz – diese Art von Nostalgie ist ja gängige Praxis und wird von Roßbacher fast parodistisch eingesetzt. Es ist mehr der Weltlage geschuldet, dass die Selbstfindungsodyssee einer 43-jährigen Frau, die komplexbeladen, aber gut gelaunt durch ihren Alltag irrt, dann mit drei Männern gleichzeitig anbandelt und am Ende mit Zähigkeit und Witz als späte Mutter ihr Leben meistert, einem vorkommt wie ein verblasster Stoff aus Zeiten, in denen Eskapismus noch geholfen hat.
Vor allem die genüsslich ausgebreitete Lifestyle-Biografie der Heldin, die in der Marketingabteilung einer veganen Berliner Foodcompany arbeitet und seit ihrer Schulzeit allen modischen, kulinarischen und sonstigen Trends haarscharf hinterhergehechelt ist, verströmte trotz der ironischen Brechung einen Hautgout von „Vorkriegsliteratur“, im Sinne der verblüfften Frage: Waren solche Sachen wirklich mal von Belang, das heißt literaturfähig?
Andererseits hat man sich an täglich neue Präludien zur Apokalypse artig gewöhnt (es ist die Anpassungsfähigkeit des Menschen, die ihm irgendwann den Garaus machen wird), und man kann sich schon auch noch für das interessieren, was „demolierte Seelen“ gegen Ende der letzten europäischen Friedensphase bewegte und umtrieb. Zumal die Österreicherin und Wahlberlinerin Verena Roßbacher auch in ihrem vierten Roman mit jener schrägen Originalität glänzt, die ihr Debüt „Verlangen nach Drachen“ von 2009 ebenso auszeichnete wie die beiden Nachfolger „Schwätzen und Schlachten“ und „Ich war Diener im Hause Hobbs“.
Zumal sie, wie nicht anders zu erwarten, mit der Geschichte tiefer zielt, als es Plot und Setting vermuten lassen – sogar bis in die Sphäre der „letzten Dinge“, als da sind Geburt und Tod, Menschlichkeit und Lebenssinn. Ja, auch Liebe, aber sie tritt hier in Gestalt von Freundschaft und Loyalität auf, sieht man einmal von der kitschfrei zu Herzen gehenden Schilderung der Gefühle ab, die eine Mutter für ihr neugeborenes Baby haben kann. So passt das Buch dann doch wieder in die Zeit, in jede Zeit, weil es tatsächlich so etwas wie Trost vermittelt, auf die Gefahr hin, von einer strengeren Kritik als humoristische Wohlfühlliteratur schubladisiert zu werden.
Humor, oder besser: Sinn für Komik auf der Kippe zum Traurigen, ist das Fundament des Romans. Was für eine schöne Idee, aus dem vermutlich nicht seltenen Syndrom „Postangst“ (der Furcht also, Briefe zu öffnen, insbesondere solche von Behörden) eine Figur wie Herbert Schabowski zu generieren, einen 60-jährigen Beamtentypen, der für sich das Geschäftsmodell „PostEngel“ erfunden hat, also anderer Leute Briefe an sich nimmt, sie gemeinsam mit ihnen öffnet und die damit assoziierten Probleme bespricht. Aus Charlys therapeutischen Sitzungen bei diesem lebensklugen Herrn entwickelt sich eine tiefe Freundschaft, die sich bewähren muss, als Kettenraucher Schabowski eine schlimme Diagnose erhält.
Unterdessen entpuppt sich das Schreiben einer Wiener Anwaltskanzlei, dessen Inhalt sie fürchtete, als feine Überraschung: Charly hat von ihrem unberechenbaren Vater, genannt „der Don“, ein verstaubtes Grandhotel in Bad Gastein geerbt. Zuvor hat sie bei einer Familienaufstellung, einem Geschenk ihrer esoterisch gestimmten Schwester, ihren Jugendschwarm wiedergetroffen. Und, nach langem Single-Dasein, gleich zwei weitere Liebhaber an Land gezogen, sodass sich, als sie plötzlich guter Hoffnung ist, beim besten Willen nicht rekonstruieren lässt, wer der Papa sein könnte.
Das macht aber nichts, denn irgendwie raufen sich alle zusammen zu einer märchenhaften und doch unsentimentalen Utopie solidarischen Miteinanders, die immer wieder durch komische Momente ins Wackeln gerät. Und Charly wächst über ihr spätpubertäres Ich hinaus, indem sie sich nicht nur mit ihrer Schwangerschaft anfreundet, sondern parallel dazu Herrn Schabowski durch ein Labyrinth alternativer Heilmethoden begleitet, die sein Leben zwar nicht retten, aber in der finalen Phase heller und hoffnungsvoller gestalten, als es die konventionelle Medizin-Maschinerie vermocht hätte.
Diese Wanderung auf der Grenze zwischen Ratio und spiritueller Erfahrung beschreibt Roßbacher mit einer klugen Ambivalenz, die Raum für Unwahrscheinliches lässt, ohne die Realität auszublenden.
Der Roman ist eine Wundertüte an Einfällen, Pointen und Skurrilitäten, für manchen Geschmack (oder manche Befindlichkeit) vielleicht etwas zu wortreich und aufgekratzt, doch vollkommen unverwechselbar. Der Prolog unter dem Titel „Ein paar Worte vorneweg“ führt die Qualitäten des Werkes im Miniaturformat vor: Es geht darin um Peter Handke und seine Abneigung gegen Sex-Szenen in Literatur und Film, die Verena Roßbacher herrlich doppelbödig unterstützt.
Was sie selbstverständlich nicht daran hindert, drei Sexszenen in ihre Erzählung einzubauen. Die sind eher diskret, beziehen jedoch ihren Spezialeffekt daraus, dass sie ziemlich direkt aufeinander folgen, mit besagten drei Männern. Klar, dass Charly da den Überblick verliert. Ihre Seelennähe zu ihrer Erfinderin aber zeigt sich darin, dass sie, als Hommage an den eigensinnigen Dichter Handke, ihrer Tochter den uncoolen Namen „Petra“ gibt.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
Eine Frau zwischen drei Männern
und eine unsentimentalen Utopie
solidarischen Lebens
Verena Roßbacher: Mon Chéri und unsere demolierten Seelen. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022. 508 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Verena Roßbachers beweist ihre schräge Originalität in einem Roman
Im ersten Moment wirkt der Roman merkwürdig antiquiert. Nicht wegen der darin herumschwirrenden Marken- und Produktnamen aus den Achtzigern und Neunzigern, der Jugendzeit der Autorin Verena Roßbacher und ihrer Protagonistin Charly Benz – diese Art von Nostalgie ist ja gängige Praxis und wird von Roßbacher fast parodistisch eingesetzt. Es ist mehr der Weltlage geschuldet, dass die Selbstfindungsodyssee einer 43-jährigen Frau, die komplexbeladen, aber gut gelaunt durch ihren Alltag irrt, dann mit drei Männern gleichzeitig anbandelt und am Ende mit Zähigkeit und Witz als späte Mutter ihr Leben meistert, einem vorkommt wie ein verblasster Stoff aus Zeiten, in denen Eskapismus noch geholfen hat.
Vor allem die genüsslich ausgebreitete Lifestyle-Biografie der Heldin, die in der Marketingabteilung einer veganen Berliner Foodcompany arbeitet und seit ihrer Schulzeit allen modischen, kulinarischen und sonstigen Trends haarscharf hinterhergehechelt ist, verströmte trotz der ironischen Brechung einen Hautgout von „Vorkriegsliteratur“, im Sinne der verblüfften Frage: Waren solche Sachen wirklich mal von Belang, das heißt literaturfähig?
Andererseits hat man sich an täglich neue Präludien zur Apokalypse artig gewöhnt (es ist die Anpassungsfähigkeit des Menschen, die ihm irgendwann den Garaus machen wird), und man kann sich schon auch noch für das interessieren, was „demolierte Seelen“ gegen Ende der letzten europäischen Friedensphase bewegte und umtrieb. Zumal die Österreicherin und Wahlberlinerin Verena Roßbacher auch in ihrem vierten Roman mit jener schrägen Originalität glänzt, die ihr Debüt „Verlangen nach Drachen“ von 2009 ebenso auszeichnete wie die beiden Nachfolger „Schwätzen und Schlachten“ und „Ich war Diener im Hause Hobbs“.
Zumal sie, wie nicht anders zu erwarten, mit der Geschichte tiefer zielt, als es Plot und Setting vermuten lassen – sogar bis in die Sphäre der „letzten Dinge“, als da sind Geburt und Tod, Menschlichkeit und Lebenssinn. Ja, auch Liebe, aber sie tritt hier in Gestalt von Freundschaft und Loyalität auf, sieht man einmal von der kitschfrei zu Herzen gehenden Schilderung der Gefühle ab, die eine Mutter für ihr neugeborenes Baby haben kann. So passt das Buch dann doch wieder in die Zeit, in jede Zeit, weil es tatsächlich so etwas wie Trost vermittelt, auf die Gefahr hin, von einer strengeren Kritik als humoristische Wohlfühlliteratur schubladisiert zu werden.
Humor, oder besser: Sinn für Komik auf der Kippe zum Traurigen, ist das Fundament des Romans. Was für eine schöne Idee, aus dem vermutlich nicht seltenen Syndrom „Postangst“ (der Furcht also, Briefe zu öffnen, insbesondere solche von Behörden) eine Figur wie Herbert Schabowski zu generieren, einen 60-jährigen Beamtentypen, der für sich das Geschäftsmodell „PostEngel“ erfunden hat, also anderer Leute Briefe an sich nimmt, sie gemeinsam mit ihnen öffnet und die damit assoziierten Probleme bespricht. Aus Charlys therapeutischen Sitzungen bei diesem lebensklugen Herrn entwickelt sich eine tiefe Freundschaft, die sich bewähren muss, als Kettenraucher Schabowski eine schlimme Diagnose erhält.
Unterdessen entpuppt sich das Schreiben einer Wiener Anwaltskanzlei, dessen Inhalt sie fürchtete, als feine Überraschung: Charly hat von ihrem unberechenbaren Vater, genannt „der Don“, ein verstaubtes Grandhotel in Bad Gastein geerbt. Zuvor hat sie bei einer Familienaufstellung, einem Geschenk ihrer esoterisch gestimmten Schwester, ihren Jugendschwarm wiedergetroffen. Und, nach langem Single-Dasein, gleich zwei weitere Liebhaber an Land gezogen, sodass sich, als sie plötzlich guter Hoffnung ist, beim besten Willen nicht rekonstruieren lässt, wer der Papa sein könnte.
Das macht aber nichts, denn irgendwie raufen sich alle zusammen zu einer märchenhaften und doch unsentimentalen Utopie solidarischen Miteinanders, die immer wieder durch komische Momente ins Wackeln gerät. Und Charly wächst über ihr spätpubertäres Ich hinaus, indem sie sich nicht nur mit ihrer Schwangerschaft anfreundet, sondern parallel dazu Herrn Schabowski durch ein Labyrinth alternativer Heilmethoden begleitet, die sein Leben zwar nicht retten, aber in der finalen Phase heller und hoffnungsvoller gestalten, als es die konventionelle Medizin-Maschinerie vermocht hätte.
Diese Wanderung auf der Grenze zwischen Ratio und spiritueller Erfahrung beschreibt Roßbacher mit einer klugen Ambivalenz, die Raum für Unwahrscheinliches lässt, ohne die Realität auszublenden.
Der Roman ist eine Wundertüte an Einfällen, Pointen und Skurrilitäten, für manchen Geschmack (oder manche Befindlichkeit) vielleicht etwas zu wortreich und aufgekratzt, doch vollkommen unverwechselbar. Der Prolog unter dem Titel „Ein paar Worte vorneweg“ führt die Qualitäten des Werkes im Miniaturformat vor: Es geht darin um Peter Handke und seine Abneigung gegen Sex-Szenen in Literatur und Film, die Verena Roßbacher herrlich doppelbödig unterstützt.
Was sie selbstverständlich nicht daran hindert, drei Sexszenen in ihre Erzählung einzubauen. Die sind eher diskret, beziehen jedoch ihren Spezialeffekt daraus, dass sie ziemlich direkt aufeinander folgen, mit besagten drei Männern. Klar, dass Charly da den Überblick verliert. Ihre Seelennähe zu ihrer Erfinderin aber zeigt sich darin, dass sie, als Hommage an den eigensinnigen Dichter Handke, ihrer Tochter den uncoolen Namen „Petra“ gibt.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
Eine Frau zwischen drei Männern
und eine unsentimentalen Utopie
solidarischen Lebens
Verena Roßbacher: Mon Chéri und unsere demolierten Seelen. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022. 508 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Eines der ungewöhnlichsten und komischsten Bücher, die ich in diesem Jahr gelesen habe.« Christine Westermann WDR 2 Bücher 20220724
Mit Aufbackviennoiserien lässt sich auch leben
Schicksalsjahre einer Konsumentin: Verena Roßbachers komisches Meisterwerk "Mon Chéri und unsere demolierten Seelen"
"Ein paar Worte vorneweg", heißt es vorneweg. Eine gebieterische Ruckrede, mit der die Leserin von "Mon Chéri" schon in der Überschrift des Vorspanns auf Linie gebracht wird. Auf den folgenden fünfhundert Seiten wird man sich jedenfalls noch an ihn erinnern. Dort, wo er mahnende Gebrauchsanleitung zum belletristischen Verzehr ist, und auch dort, wo er über Bord geworfen wird. "Handke", steht da also, "Handke sagte einmal, über Sexualität gebe es nichts zu schreiben. Er sagte, auch im Kino schaue er immer weg, Sexszenen würden alle erniedrigen, die Zuschauer wie die Darsteller. Handke und ich sind weiß Gott nicht immer einer Meinung, aber in dieser Sache muss ich ihm auf die Schulter klopfen."
"Mon Chéri", der vierte Roman von Verena Roßbacher, ist also ein Buch, das sich von Handke herleitet (zumindest in dem Punkt) und das von Menschen in Berlin handelt, deren Sexleben uns weitgehend verborgen bleibt zugunsten einer noch viel intimeren Besichtigung ihrer "demolierten Seelen". So heißt "Mon Chéri" im Untertitel. Und auch da hilft der frühe Handke. Aber eigentlich kann man sich jetzt auch wieder von ihm trennen. Denn dieses Buch mit insgesamt drei spektakulären Sexszenen gegen die Verabredung braucht ihn nicht. Eines zum Handke-Komplex sei vielleicht aber noch nachgereicht. Es wird ein Baby geboren, das Petra heißen soll - als Hommage an den großen Dichter!
Die Mutter des Babys wird eingeführt als eine Person, die an Silvester notorisch zum sogenannten "Notfallessen" eingeladen wird. Dort landen nur die, die jetzt allein sind und es lange bleiben werden. "Ja, das war das Problem. Ich musste immer alles alleine machen, Essen kochen und Musik machen, mich vor meiner Post fürchten, einfach alles. Ich seufzte. So wie es aussah, würde ich auch meine Kinder in Eigenregie zeugen müssen, sollte ich je welche haben wollen. Ich musste mir eingestehen: Die Zeit arbeitete gegen mich."
Immerhin hat Charly Benz Bilder für alles und jeden: "Als Frau fühlte ich mich eher wie die fiese Karikatur einer Suffragette." Und einen Job, in dem ihr schonungslos kreatives Wesen gefragt ist: Werbung für vegane Müsliriegel und andere Foodtrends. Da Charly, die sich selbst von Aufbackviennoiserien ernährt, alles, was es über das Leben zu wissen gab, praktisch aus Illustrierten und Fernsehsendungen der Neunziger bezogen hat, ist sie Profi für kollektive Lügenimperien. Stichwort: Dallmayr Prodomo, Werther's Echte und Mon Chéri.
Ansonsten steht es eher schlecht um sie. Nicht nur hört Charly nach Feierabend regressiverweise "Bibi Blocksberg", auch wird sie von ernsthaften Schrullen geplagt. Angst vor schlechten Nachrichten zum Beispiel macht es ihr unmöglich, sich dem Inhalt ihres Briefkastens zu stellen. Weswegen jetzt die zweite Hauptfigur ins Spiel kommt: Herr Schabowski. Ein kettenrauchender Anzugträger, der auf Fälle wie Charly Benz spezialisiert ist. Bei ihm ist sie Premiumkundin für 89,90 Euro im Monat, was bedeutet: "Bearbeitung vorhandener Briefe/Dokumente (Flatrate), Gesprächstermine im Büro (ebenfalls unbegrenzt), Amtsgänge (maximal viermal im Monat und im Umkreis von 50 km mit Aufpreis) und Telefongespräche. Dazu kam die regelmäßige Aufklärung, wie man auf einen Brief zu reagieren hatte - das war bei jeder der drei Abokategorien mit dabei, und man konnte es auch nicht abbestellen."
Charly Benz hätte es gerne abbestellt. Aber Herr Schabowski bleibt eisern. "'Schauen sie, Frau Benz', sagte er jedes Mal väterlich, wenn er mich aufklärte, 'es kann zwar sein, dass das nicht unbedingt von Geschäftstüchtigkeit zeugt, aber ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie glücklich es mich macht, wenn ein Kunde irgendwann sein Abo kündigt. Ich habe ja selbst keine Kinder, aber so muss es sich anfühlen, wenn die eigenen Sprösslinge flügge werden - eine Mischung aus Stolz, Zuversicht, Sorge und Wehmut.'" Und so entsteht der zentrale Pakt dieses Buchs, der auch ein Pakt mit dem Leser ist, aus dem Geist der Bürokratie: "'Herr Schabowski', sagte ich dann immer, 'und wenn alle Sie im Stich lassen, ich bleibe Ihnen treu.'"
Verena Roßbacher erzählt in "Mon Chéri und unsere demolierten Seelen" von einer ungewöhnlichen Freundschaft auf Leben und Tod. Die über viele Seiten tragende Wand der Komik ("Ich war eine Frau im Winter meines Lebens") wird dabei mit einem ordentlichen Fundament aus Ernsthaftigkeit und Nachdenklichkeit stabilisiert. Denn Schabowski ist unheilbar an Krebs erkrankt. Ihm bleiben, so sagt der schöne Doktor Faruki von der Charité, nur noch wenige Wochen. Charly wiederum ist, seit ihre "nervige Schwester Sybille" ihr eine Familienaufstellung geschenkt hat, in eine Spirale der Aufarbeitung geraten. Man folgt ihrer Erzählung voller Mitgefühl für so viel Pech im Leben der armen Charly Benz, die als jüngstes von fünf Kindern in der Ostschweiz aufgewachsen ist, früh die Mutter verlor und noch früher den Vater, der sich von der Familie abgeseilt hat, als Charly fünf war. Die Geschwister: "meine Schwestern, bebrillte, lange und ungelenke Elende", der Bruder ein "Yeti". Die wenigen Beziehungen der Charly Benz sind ein Desaster mit Ansage.
Als nach jahrelangem Single-Siechtum sich gleich drei Männer auf einmal in ihrem Leben einstellen und es zu einer (für uns Leser) unbefleckten Empfängnis mit drei potentiellen Vätern kommt, nimmt alles eine unerwartete Wendung. Unter tätiger Mitwirkung von Esoterik-Schwester Sybille arbeiten Charly und Schabowski nun eine alternative Heilagenda ab. Verena Roßbacher führt dabei in die komischsten Winkel der modernen Esoterik, aber nie ohne Respekt vor denen, die ihre Denkgebäude in Anspruch nehmen, und jenen, die an ihnen gesunden. So wie Schabowski, der wieder Lebensmut findet und entgegen jeder Prognose noch einmal aufblüht - bevor dann doch das Unvermeidliche eintritt. Bis dahin werden Charly und Schabowski einen weiten, ernsten und doch auch absurd komischen Weg der Selbstklärung zurücklegen, an dessen Erkenntnisquellen sich auch alle Leser laben können: tanzender Heilkreis der Colima-Indianer, heilsames Arbeiten mit Ton, lustige Filme schauen im Zeichen der Heilsamkeit. "Ja okay, Channeln mit Engeln war ein Griff ins Klo."
Das wirkliche Wunder, das "Mon Chéri" vollbringt, ist, dass der komischste Roman der Saison nicht im Stadium des Ironischen stecken bleibt, das ja bekanntlich eine Distanzierungsmasche von Angsthasen ist. Nein, "Mon Chéri" ist das Buch mit der Piemont-Kirsche, und es geht den Weg des Komischen zu Ende: von süß bis bitter und wieder zurück. Es erzählt uns, dass das Leben ein Witz ist, wenn es den Tod nicht mitdenkt.
Kurz vor seinem Tod stellt Herr Schabowski noch eine Playlist mit den Musikstücken zusammen, die das Ende eines Films anzeigen. Es seien fast immer solche, die ihn fröhlich und zuversichtlich stimmten, sagt Schabowski. Und als es dann fast vorbei ist: "'Kommen Sie', sagte er, 'hören wir noch ein bisschen Abspann.'" KATHARINA TEUTSCH
Verena Roßbacher: "Mon Chéri und unsere demolierten Seelen". Roman.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022.
512 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schicksalsjahre einer Konsumentin: Verena Roßbachers komisches Meisterwerk "Mon Chéri und unsere demolierten Seelen"
"Ein paar Worte vorneweg", heißt es vorneweg. Eine gebieterische Ruckrede, mit der die Leserin von "Mon Chéri" schon in der Überschrift des Vorspanns auf Linie gebracht wird. Auf den folgenden fünfhundert Seiten wird man sich jedenfalls noch an ihn erinnern. Dort, wo er mahnende Gebrauchsanleitung zum belletristischen Verzehr ist, und auch dort, wo er über Bord geworfen wird. "Handke", steht da also, "Handke sagte einmal, über Sexualität gebe es nichts zu schreiben. Er sagte, auch im Kino schaue er immer weg, Sexszenen würden alle erniedrigen, die Zuschauer wie die Darsteller. Handke und ich sind weiß Gott nicht immer einer Meinung, aber in dieser Sache muss ich ihm auf die Schulter klopfen."
"Mon Chéri", der vierte Roman von Verena Roßbacher, ist also ein Buch, das sich von Handke herleitet (zumindest in dem Punkt) und das von Menschen in Berlin handelt, deren Sexleben uns weitgehend verborgen bleibt zugunsten einer noch viel intimeren Besichtigung ihrer "demolierten Seelen". So heißt "Mon Chéri" im Untertitel. Und auch da hilft der frühe Handke. Aber eigentlich kann man sich jetzt auch wieder von ihm trennen. Denn dieses Buch mit insgesamt drei spektakulären Sexszenen gegen die Verabredung braucht ihn nicht. Eines zum Handke-Komplex sei vielleicht aber noch nachgereicht. Es wird ein Baby geboren, das Petra heißen soll - als Hommage an den großen Dichter!
Die Mutter des Babys wird eingeführt als eine Person, die an Silvester notorisch zum sogenannten "Notfallessen" eingeladen wird. Dort landen nur die, die jetzt allein sind und es lange bleiben werden. "Ja, das war das Problem. Ich musste immer alles alleine machen, Essen kochen und Musik machen, mich vor meiner Post fürchten, einfach alles. Ich seufzte. So wie es aussah, würde ich auch meine Kinder in Eigenregie zeugen müssen, sollte ich je welche haben wollen. Ich musste mir eingestehen: Die Zeit arbeitete gegen mich."
Immerhin hat Charly Benz Bilder für alles und jeden: "Als Frau fühlte ich mich eher wie die fiese Karikatur einer Suffragette." Und einen Job, in dem ihr schonungslos kreatives Wesen gefragt ist: Werbung für vegane Müsliriegel und andere Foodtrends. Da Charly, die sich selbst von Aufbackviennoiserien ernährt, alles, was es über das Leben zu wissen gab, praktisch aus Illustrierten und Fernsehsendungen der Neunziger bezogen hat, ist sie Profi für kollektive Lügenimperien. Stichwort: Dallmayr Prodomo, Werther's Echte und Mon Chéri.
Ansonsten steht es eher schlecht um sie. Nicht nur hört Charly nach Feierabend regressiverweise "Bibi Blocksberg", auch wird sie von ernsthaften Schrullen geplagt. Angst vor schlechten Nachrichten zum Beispiel macht es ihr unmöglich, sich dem Inhalt ihres Briefkastens zu stellen. Weswegen jetzt die zweite Hauptfigur ins Spiel kommt: Herr Schabowski. Ein kettenrauchender Anzugträger, der auf Fälle wie Charly Benz spezialisiert ist. Bei ihm ist sie Premiumkundin für 89,90 Euro im Monat, was bedeutet: "Bearbeitung vorhandener Briefe/Dokumente (Flatrate), Gesprächstermine im Büro (ebenfalls unbegrenzt), Amtsgänge (maximal viermal im Monat und im Umkreis von 50 km mit Aufpreis) und Telefongespräche. Dazu kam die regelmäßige Aufklärung, wie man auf einen Brief zu reagieren hatte - das war bei jeder der drei Abokategorien mit dabei, und man konnte es auch nicht abbestellen."
Charly Benz hätte es gerne abbestellt. Aber Herr Schabowski bleibt eisern. "'Schauen sie, Frau Benz', sagte er jedes Mal väterlich, wenn er mich aufklärte, 'es kann zwar sein, dass das nicht unbedingt von Geschäftstüchtigkeit zeugt, aber ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie glücklich es mich macht, wenn ein Kunde irgendwann sein Abo kündigt. Ich habe ja selbst keine Kinder, aber so muss es sich anfühlen, wenn die eigenen Sprösslinge flügge werden - eine Mischung aus Stolz, Zuversicht, Sorge und Wehmut.'" Und so entsteht der zentrale Pakt dieses Buchs, der auch ein Pakt mit dem Leser ist, aus dem Geist der Bürokratie: "'Herr Schabowski', sagte ich dann immer, 'und wenn alle Sie im Stich lassen, ich bleibe Ihnen treu.'"
Verena Roßbacher erzählt in "Mon Chéri und unsere demolierten Seelen" von einer ungewöhnlichen Freundschaft auf Leben und Tod. Die über viele Seiten tragende Wand der Komik ("Ich war eine Frau im Winter meines Lebens") wird dabei mit einem ordentlichen Fundament aus Ernsthaftigkeit und Nachdenklichkeit stabilisiert. Denn Schabowski ist unheilbar an Krebs erkrankt. Ihm bleiben, so sagt der schöne Doktor Faruki von der Charité, nur noch wenige Wochen. Charly wiederum ist, seit ihre "nervige Schwester Sybille" ihr eine Familienaufstellung geschenkt hat, in eine Spirale der Aufarbeitung geraten. Man folgt ihrer Erzählung voller Mitgefühl für so viel Pech im Leben der armen Charly Benz, die als jüngstes von fünf Kindern in der Ostschweiz aufgewachsen ist, früh die Mutter verlor und noch früher den Vater, der sich von der Familie abgeseilt hat, als Charly fünf war. Die Geschwister: "meine Schwestern, bebrillte, lange und ungelenke Elende", der Bruder ein "Yeti". Die wenigen Beziehungen der Charly Benz sind ein Desaster mit Ansage.
Als nach jahrelangem Single-Siechtum sich gleich drei Männer auf einmal in ihrem Leben einstellen und es zu einer (für uns Leser) unbefleckten Empfängnis mit drei potentiellen Vätern kommt, nimmt alles eine unerwartete Wendung. Unter tätiger Mitwirkung von Esoterik-Schwester Sybille arbeiten Charly und Schabowski nun eine alternative Heilagenda ab. Verena Roßbacher führt dabei in die komischsten Winkel der modernen Esoterik, aber nie ohne Respekt vor denen, die ihre Denkgebäude in Anspruch nehmen, und jenen, die an ihnen gesunden. So wie Schabowski, der wieder Lebensmut findet und entgegen jeder Prognose noch einmal aufblüht - bevor dann doch das Unvermeidliche eintritt. Bis dahin werden Charly und Schabowski einen weiten, ernsten und doch auch absurd komischen Weg der Selbstklärung zurücklegen, an dessen Erkenntnisquellen sich auch alle Leser laben können: tanzender Heilkreis der Colima-Indianer, heilsames Arbeiten mit Ton, lustige Filme schauen im Zeichen der Heilsamkeit. "Ja okay, Channeln mit Engeln war ein Griff ins Klo."
Das wirkliche Wunder, das "Mon Chéri" vollbringt, ist, dass der komischste Roman der Saison nicht im Stadium des Ironischen stecken bleibt, das ja bekanntlich eine Distanzierungsmasche von Angsthasen ist. Nein, "Mon Chéri" ist das Buch mit der Piemont-Kirsche, und es geht den Weg des Komischen zu Ende: von süß bis bitter und wieder zurück. Es erzählt uns, dass das Leben ein Witz ist, wenn es den Tod nicht mitdenkt.
Kurz vor seinem Tod stellt Herr Schabowski noch eine Playlist mit den Musikstücken zusammen, die das Ende eines Films anzeigen. Es seien fast immer solche, die ihn fröhlich und zuversichtlich stimmten, sagt Schabowski. Und als es dann fast vorbei ist: "'Kommen Sie', sagte er, 'hören wir noch ein bisschen Abspann.'" KATHARINA TEUTSCH
Verena Roßbacher: "Mon Chéri und unsere demolierten Seelen". Roman.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022.
512 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main