Berlin, 1945. Claire, die Tochter des Literaturnobelpreisträgers François Mauriac, arbeitet in der zerstörten Hauptstadt für das französische Rote Kreuz. Die Stadt ist Schauplatz schlimmer Szenen, die Menschen leiden. Sie ist fest entschlossen, sich nützlich zu machen und nicht mehr nur die verwöhnte Tochter des berühmten Schriftstellers zu sein. Am Steuer ihres Krankenwagens fühlt sie sich zum ersten Mal lebendig, und alles, was sie erlebt, ereignet sich als reine Gegenwart. Dabei begegnet sie dem politischen Flüchtling Yvan Wiazemsky, einem Prinzen, dessen Familie während der Russischen Revolution nach Frankreich fliehen musste, einem polyglotten Offizier und Charmeur. Er ist attraktiv, extrovertiert und humorvoll, hat noch nie von ihrem Namen gehört und nur Augen für sie. Es beginnt eine leidenschaftliche, aber unmögliche Liebe, sie ist katholisch, er orthodox, er ist staatenlos, sie kommt aus einer bekannten Intellektuellenfamilie, er liest keine Bücher.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.02.2011Ein Leben außerhalb des Lebens
Anne Wiazemskys Roman "Mein Berliner Kind" ist mehr als eine Familienchronik
Jedes Mal, wenn ihre Eltern in Paris die Tochter drängten, sie möge doch nun bitte nach Hause kommen, schrieb Claire ihnen zurück, sie werde beim Roten Kreuz gebraucht, und die Arbeit gefalle ihr auch sehr gut. Es war Krieg. Und Claire Mauriac, Tochter des französischen Nobelpreisträgers François Mauriac, genoss nichts so sehr, wie in ihrer grauen Uniform in der Gruppe der Krankenschwestern unterzugehen, nicht mehr die "Tochter von ..." zu sein - sondern einfach Claire. Für sie war der Krieg nicht nur eine Zeit der Zerstörung. Für sie bedeutete er auch Aufbruch, Lebensfreude und, ja, vor allem Liebe.
Wie kann das sein? Die Frage wird sich auch die französische Schriftstellerin Anne Wiazemsky gestellt haben, Claire Mauriacs Tochter. Sie hat die besondere Episode im Leben ihrer Mutter in einem Roman verewigt, der nun auf Deutsch erschienen ist. In gewisser Weise schreibt Anne Wiazemsky mit ihm ihre Familiengeschichte fort. Angefangen hatte sie damit schon in ihrem zuletzt erschienenen Roman "Jeune fille", in dem sie davon erzählt, wie sie als junges Mädchen mit dem berühmten Regisseur Robert Bresson einen Film gedreht hat.
In "Mein Berliner Kind" widmet sie sich nun den Jahren kurz vor ihrer Geburt. Claire Mauriac ist noch keine zwanzig und der Krieg noch nicht zu Ende, als sie 1944 beschließt, als Krankenschwester für das Rote Kreuz zu arbeiten. Sie wird nach Béziers geschickt und von dort ins Elsass, nach Fréjus, Cannes und schließlich, im Sommer 1945, in das zerstörte Berlin. Sie hilft, Verwundete zu bergen, Tote zu begraben und manchmal, heimlich die Widerstandskämpfer mit Nachschub zu versorgen. Claire liebt dieses Dasein. "Hier führe ich ein Leben außerhalb des Lebens", schreibt sie ihrer Mutter. "So ist das schon seit mehreren Jahren. Ich glaube immer, es sei zu Ende, aber das ist es nie."
Dass es nicht zu Ende geht, dafür weiß Claire indes selbst mit Nachdruck zu sorgen. Regelmäßig vertraut sie ihrem Tagebuch an, wie sehr es sie ärgert, dass die Eltern ihre Tätigkeit, welche Mut, um nicht zu sagen, Wagemut erfordert, so wenig zu schätzen wissen. Paris wird ihr zum unerträglichen Ort, die Wohnung der Eltern unweit des Bois de Boulogne zu einem tristen Gefängnis. "Mein Berliner Kind" ist daher nicht nur als Familienchronik zu lesen, sondern zuvörderst als Geschichte einer eigenwilligen Emanzipation. Claire Mauriac erwacht in einer Zeit zum Leben, in der Millionen anderer ihres verlieren: Der Zweite Weltkrieg wird die härteste, intensivste und auch die schönste Zeit, an die sich später erinnern kann.
Um all das darzustellen, wählt Anne Wiazemsky ein Verfahren, dessen sie sich schon in ihrem vorangegangenen Roman bediente. Wie in "Jeune fille" versetzt sie die literarische Fiktion mit echten Erinnerungsstücken, mit Briefen und Tagebucheinträgen ihrer Mutter. Auf diese Weise entwirft sie Figurenporträts, die teils Dichtung, teils Wahrheit sind und in dem Roman beispielhaft von einem Nachkriegsleben berichten, das man aus deutscher Perspektive so niemals erzählen könnte. Genau darin liegt das Bemerkenswerte dieses Buches.
Es gibt kaum einen Deutschen, der den Berliner Winter 1945/46 in einem Haus mit Fenstern und Heizung verbracht haben wird, so wie die Mitarbeiter des französischen Roten Kreuzes. Claire ist sich dieses Luxus wohlbewusst, verdrängt ihn aber schnell und berichtet fortan mit einer verstörenden, an Naivität grenzenden Unbekümmertheit von Empfängen der alliierten Streitkräfte, auf denen gegessen, getrunken und getanzt wird. Es gibt Rigoletto und Jazz. Und die Liebe.
In dem Haus am Kurfürstendamm begegnet Claire dem russischstämmigen Fürsten Yvan Wiazemsky, dessen Familie während der Revolution fliehen musste und sich in Frankreich niedergelassen hat. Wiazemsky steht nun im Dienste der französischen Armee, und seinem Verhandlungsgeschick ist es zu verdanken, dass zahlreiche französische Gefangene die Heimreise antreten können. Claire wird mit "Wia" unvergessliche Spaziergänge durch das verschneite Berlin machen. Sie wird ausreiten, zwei Hunde in ihre Obhut nehmen, ein Kind zur Welt bringen. Wer daher schon immer einmal wissen wollte, wie es sich anfühlte, liebesblind zu taumeln durch ein "Chaos von Bäumen, Erde und Wurzeln" kurz nach dem Krieg, der lese dieses höchst interessante Buch.
LENA BOPP
Anne Wiazemsky: "Mein Berliner Kind". Roman. Aus dem Französischen von Grete Osterwald.
C.H. Beck Verlag, München 2010. 259 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Anne Wiazemskys Roman "Mein Berliner Kind" ist mehr als eine Familienchronik
Jedes Mal, wenn ihre Eltern in Paris die Tochter drängten, sie möge doch nun bitte nach Hause kommen, schrieb Claire ihnen zurück, sie werde beim Roten Kreuz gebraucht, und die Arbeit gefalle ihr auch sehr gut. Es war Krieg. Und Claire Mauriac, Tochter des französischen Nobelpreisträgers François Mauriac, genoss nichts so sehr, wie in ihrer grauen Uniform in der Gruppe der Krankenschwestern unterzugehen, nicht mehr die "Tochter von ..." zu sein - sondern einfach Claire. Für sie war der Krieg nicht nur eine Zeit der Zerstörung. Für sie bedeutete er auch Aufbruch, Lebensfreude und, ja, vor allem Liebe.
Wie kann das sein? Die Frage wird sich auch die französische Schriftstellerin Anne Wiazemsky gestellt haben, Claire Mauriacs Tochter. Sie hat die besondere Episode im Leben ihrer Mutter in einem Roman verewigt, der nun auf Deutsch erschienen ist. In gewisser Weise schreibt Anne Wiazemsky mit ihm ihre Familiengeschichte fort. Angefangen hatte sie damit schon in ihrem zuletzt erschienenen Roman "Jeune fille", in dem sie davon erzählt, wie sie als junges Mädchen mit dem berühmten Regisseur Robert Bresson einen Film gedreht hat.
In "Mein Berliner Kind" widmet sie sich nun den Jahren kurz vor ihrer Geburt. Claire Mauriac ist noch keine zwanzig und der Krieg noch nicht zu Ende, als sie 1944 beschließt, als Krankenschwester für das Rote Kreuz zu arbeiten. Sie wird nach Béziers geschickt und von dort ins Elsass, nach Fréjus, Cannes und schließlich, im Sommer 1945, in das zerstörte Berlin. Sie hilft, Verwundete zu bergen, Tote zu begraben und manchmal, heimlich die Widerstandskämpfer mit Nachschub zu versorgen. Claire liebt dieses Dasein. "Hier führe ich ein Leben außerhalb des Lebens", schreibt sie ihrer Mutter. "So ist das schon seit mehreren Jahren. Ich glaube immer, es sei zu Ende, aber das ist es nie."
Dass es nicht zu Ende geht, dafür weiß Claire indes selbst mit Nachdruck zu sorgen. Regelmäßig vertraut sie ihrem Tagebuch an, wie sehr es sie ärgert, dass die Eltern ihre Tätigkeit, welche Mut, um nicht zu sagen, Wagemut erfordert, so wenig zu schätzen wissen. Paris wird ihr zum unerträglichen Ort, die Wohnung der Eltern unweit des Bois de Boulogne zu einem tristen Gefängnis. "Mein Berliner Kind" ist daher nicht nur als Familienchronik zu lesen, sondern zuvörderst als Geschichte einer eigenwilligen Emanzipation. Claire Mauriac erwacht in einer Zeit zum Leben, in der Millionen anderer ihres verlieren: Der Zweite Weltkrieg wird die härteste, intensivste und auch die schönste Zeit, an die sich später erinnern kann.
Um all das darzustellen, wählt Anne Wiazemsky ein Verfahren, dessen sie sich schon in ihrem vorangegangenen Roman bediente. Wie in "Jeune fille" versetzt sie die literarische Fiktion mit echten Erinnerungsstücken, mit Briefen und Tagebucheinträgen ihrer Mutter. Auf diese Weise entwirft sie Figurenporträts, die teils Dichtung, teils Wahrheit sind und in dem Roman beispielhaft von einem Nachkriegsleben berichten, das man aus deutscher Perspektive so niemals erzählen könnte. Genau darin liegt das Bemerkenswerte dieses Buches.
Es gibt kaum einen Deutschen, der den Berliner Winter 1945/46 in einem Haus mit Fenstern und Heizung verbracht haben wird, so wie die Mitarbeiter des französischen Roten Kreuzes. Claire ist sich dieses Luxus wohlbewusst, verdrängt ihn aber schnell und berichtet fortan mit einer verstörenden, an Naivität grenzenden Unbekümmertheit von Empfängen der alliierten Streitkräfte, auf denen gegessen, getrunken und getanzt wird. Es gibt Rigoletto und Jazz. Und die Liebe.
In dem Haus am Kurfürstendamm begegnet Claire dem russischstämmigen Fürsten Yvan Wiazemsky, dessen Familie während der Revolution fliehen musste und sich in Frankreich niedergelassen hat. Wiazemsky steht nun im Dienste der französischen Armee, und seinem Verhandlungsgeschick ist es zu verdanken, dass zahlreiche französische Gefangene die Heimreise antreten können. Claire wird mit "Wia" unvergessliche Spaziergänge durch das verschneite Berlin machen. Sie wird ausreiten, zwei Hunde in ihre Obhut nehmen, ein Kind zur Welt bringen. Wer daher schon immer einmal wissen wollte, wie es sich anfühlte, liebesblind zu taumeln durch ein "Chaos von Bäumen, Erde und Wurzeln" kurz nach dem Krieg, der lese dieses höchst interessante Buch.
LENA BOPP
Anne Wiazemsky: "Mein Berliner Kind". Roman. Aus dem Französischen von Grete Osterwald.
C.H. Beck Verlag, München 2010. 259 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main