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Ein faszinierender, unorthodoxer Blick auf Querdenkertum und alternative Wahrheiten
Worms, Anfang der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Peter Bender, ehemals Fliegerleutnant des Deutschen Heeres, macht sich als Gründer einer neuen Religionsgemeinschaft und mit der Proklamation der sogenannten Hohlwelt-Theorie einen Namen: Die Menschheit, so diese Theorie, lebe nicht auf, sondern in einer Kugel, außerhalb derselben existiere nichts. Benders Gemeinde bleibt überschaubar, dennoch wird er wegen der Verbreitung aufwieglerischer und gotteslästerlicher Flugschriften zu einer mehrmonatigen…mehr

Produktbeschreibung
Ein faszinierender, unorthodoxer Blick auf Querdenkertum und alternative Wahrheiten

Worms, Anfang der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Peter Bender, ehemals Fliegerleutnant des Deutschen Heeres, macht sich als Gründer einer neuen Religionsgemeinschaft und mit der Proklamation der sogenannten Hohlwelt-Theorie einen Namen: Die Menschheit, so diese Theorie, lebe nicht auf, sondern in einer Kugel, außerhalb derselben existiere nichts. Benders Gemeinde bleibt überschaubar, dennoch wird er wegen der Verbreitung aufwieglerischer und gotteslästerlicher Flugschriften zu einer mehrmonatigen Kerkerhaft verurteilt. Als sich nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten herumspricht, dass seine Frau Jüdin ist, wenden sich selbst seine engsten Gefolgsleute von ihm ab. Die Benders verarmen, die Repressionen gegen seine Frau werden bald unerträglich, bis die Familie 1942 verhaftet und deportiert wird. Nur der Sohn überlebt das Konzentrationslager.

In seinem lange erwarteten neuen Roman rekonstruiert Clemens J. Setz eine reale, so bewegende wie verstörende Lebens- und Familiengeschichte. Mehr noch ist Monde vor der Landung aber die Untersuchung der zerstörerischen Wahnwelt eines manischen Egozentrikers und die Veranschaulichung eines Querdenkertums avant la lettre: bestürzend aktuell, von unüberbietbarer sprachlicher und gedanklicher Originalität.
Autorenporträt
Clemens J. Setz wurde 1982 in Graz geboren, wo er Mathematik und Germanistik studierte. Heute lebt er mit seiner Frau und seiner Tochter als Übersetzer und freier Schriftsteller in Wien. 2011 wurde er für seinen Erzählband Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Sein Roman Indigo stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2012 und wurde mit dem Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft 2013 prämiert. 2014 erschien sein erster Gedichtband Die Vogelstraußtrompete. Für seinen Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre erhielt Setz den Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2015. Mit drei seiner Stücke war Setz bei den Mülheimer Theatertagen eingeladen. Zuletzt 2023 mit Der Triumph der Waldrebe in Europa. Zuletzt wurde er mit dem Georg-Büchner-Preis 2021 und dem Österreichischen Buchpreis 2023 geehrt.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Clemens J. Setz schenkt uns einen "monumentalen" Roman mit deutlichem Bezug zur Gegenwart, aber ohne den "diskurstheoretischen Überbau" des jüngsten Zeh-Romans, freut sich Rezensent Florian Eichel. Setz hat gründlich recherchiert, (sogar eine Rechercheagentur beauftragt, die gleiche wie Juli Zeh und Simon Urban, erfahren wir), seinen Roman mit Faksimiles der originalen Dokumente angereichert, um die Geschichte von Peter Bender zu erzählen, der seine Kameraden im Ersten Weltkrieg noch mit Anekdoten aus dem Weltall belustigte, sich bald aber in der Verschwörungstheorie der Hohlwelttheorie verirrte. Selbst den Holocaustdeportationen begegnet Bender zunächst noch mit "Humor" - bis er, als geisteskrank geltend, ebenso wie seine jüdische Frau Charlotte ins KZ deportiert und dort umgebracht wird. Dass Setz seinen Helden bei aller Lächerlichkeit durchaus würdevoll zeichnet, rechnet ihm Eichel hoch an. Vor allem aber verdankt er dem Roman die Erkenntnis, dass nicht zwingend von den "Irrenden" eine Gefahr ausgeht.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.02.2023

Wie steht Wahn zum Wahn?

Psychologie des Phantastischen: "Monde vor der Landung", der neue Roman von Clemens J. Setz, erzählt von einem überzeugten Anhänger der Hohlerde-Theorie im "Dritten Reich".

Man spricht so leichtfertig davon, dass einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird, doch was Peter Bender für wahr hielt, ging in seinen Konsequenzen noch viel weiter. Als Anhänger der von dem Amerikaner John Cleves Symmes im frühen neunzehnten Jahrhundert begründeten Hohlerde-Theorie wollte der 1893 im rheinhessischen Bechtheim geborene Bender die Menschen nicht nur davon überzeugen, dass sie gar nicht auf der Außenseite der Erdkugel leben, sondern auf deren Innenseite. Er wollte ihnen auch die Vorstellung vom Himmel nehmen. Denn da man sich ja nicht auf, sondern in einer Kugel aufhält, ist man nicht vom Himmel umgeben, sondern dessen Wahrnehmung verdankt sich einer Art in der Hohlkugel schwebendem Miasma, das auch Sonne, Mond und Sterne enthält. Und läge es nicht im Weg - das ist doch einmal konsequentes Querdenken! -, dann könnten wir von Deutschland aus direkt hinüber nach Amerika auf dem gegenüberliegenden Erdschalensegment blicken.

So etwas können Menschen sich offenbar ausdenken, aber kann man sich solche Menschen ausdenken? Clemens J. Setz tut es in seinem heute erscheinenden neuen Roman "Monde vor der Landung", dem ersten seit der Zuerkennung des Büchnerpreises an den gerade vierzigjährigen österreichischen Schriftsteller. Wobei es diesen Peter Bender ebenso gegeben hat wie John Cleves Symmes, nur weiß man wenig über sie, weil sie denn doch nur von ein paar Dutzend Menschen ernst genommen wurden. Immerhin haben die dafür gesorgt, dass Zeugnisse des Wirkens und der Wirkung der Hohlerde-Propagandisten aufbewahrt wurden, und so gibt es in Florida das Archiv der ehemaligen Koresh-Gemeinde ("Koresh" nannte sich ein weiterer Hohlerde-Gläubiger), in dem auch Archivalien von und zu Peter Bender überlebt haben. Der ist ein Opfer der Nationalsozialisten geworden und 1944 im Konzentrationslager Mauthausen gestorben. Denn Wahn und Wahn gesellt sich nicht gern.

Außer in den Büchern von Setz, der ein großes Herz für Phantasten hat, ein kluges Hirn beim Überdenken von Phantastischem und eine sichere Hand bei der daraus resultierenden Ausgestaltung von Phantasien. Der Peter Bender des Romans ist eng an den Quellen orientiert (Setz gibt einige Dokumente im Buch als Abbildungen bei) und doch ganz eigene Schöpfung des Autors. Wir begleiten Benders Leben in drei Buchteilen mit insgesamt mehr als fünfzig meist sehr kurzen Kapiteln von 1920 an, als der überzeugte Hohlerdling in der französischen Besatzungszone erstmals mit dem Gesetz in Konflikt kommt. Und mit seinen Landsleuten, denn wie wäre es in einem nach dem Ersten Weltkrieg aller weltlichen Sicherheiten beraubten Deutschland auch akzeptabel gewesen, dass ein ehemaliger Kampfpilot die Existenz des Himmels, wie wir ihn zu kennen glauben und er ihn doch selbst durchflogen hat, nun auch noch infrage stellt? Bender muss zum ersten Mal in Haft.

Vierzehn Kapitel lang wechselt Setz erst einmal zwischen der erzählten Gegenwart seines Peter Bender und dessen Vergangenheit hin und her. Das Trauma des Kriegs (und eines Absturzes) wird zur Erklärung der Suche nach einem neuen Selbstverständnis, und mit der jüdischen Krankenschwester Charlotte Asch, die ihn im Lazarett gesund pflegt, tritt eine Frau in Benders Leben, die ihm sogar in seine Hohlerden-Gedankenwelt folgt. Dieses Vertrauen dankt ihr Bender nicht mit ehelicher Treue. Zwar deklariert er sich und Charlotte zum "Priesterpaar" der von ihm als Vernunftreligion proklamierten Lebensanschauung, doch sich selbst gestattet er Liebesmessdienerinnen. Dieser Mann ist ja auch vielfach überqualifiziert: "Weltkrieg. Pilot. Eisernes Kreuz. Vorsitzender des Arbeiter- und Soldatenrats. Schriftsteller. Bund rheinischer Dichter. Währungstheorie. Mathematik. Weltbildstudien. Priesterpaar. Stifter der Wormser Menschheitsreligion." Da bleibt den Damen nur das Staunen: "Es war beinahe ein Gedicht." Die derart für Überzeugung und Bett Gewonnenen werden dann in Benders Korrespondenz mit amerikanischen Gleichgesinnten zu frisch rekrutierten Gemeindemitgliedern aufgehübscht, sodass der Neid bei den Ursprungsvertretern der Hohlerde-Theorie groß ist.

Wäre die Geschichte des wahren Peter Bender und die Gegenwart eines von sich überzeugten Querdenkertums nicht so traurig, taugte der Stoff zum großen Schelmenroman. Doch das ist "Monde vor der Landung" nicht. Es ist - darin Raphaela Edelbauers gerade erschienenem "Die Inkommensurablen" ähnlich (F.A.Z. vom 3. Februar) - der Versuch einer Vergegenwärtigung des Historienromans durch die Überführung in eine Psychologie des Phantastischen. Was Edelbauer dabei stilistisch und formal für uns interessant zu machen versucht, geht Setz auf der inhaltlichen Ebene an. Der Erzählfokus auf Peter Bender entspricht einer Erzählperspektive aus diesem heraus (die jedoch ein paarmal aus Motivationen gebrochen wird, die außerhalb der Figur liegen - das ist eine Schwächung des Romans), und Zweifel an seiner Weltsicht ist somit nicht die Sache von "Monde vor der Landung". Das Buch nimmt seinen Protagonisten ernst, während es in Edelbauers Roman dank seiner personalen Dreierkonstellation ein Korrektiv zur Hauptfigur gibt.

Man mag gerade in der Verweigerung einer ironischen Haltung zu Peter Bender den kritischen Kommentar von Clemens J. Setz vermuten: Wer Irrwitz ohne Ironie referiert, hat Aussicht, dessen Vertreter mit den eigenen Waffen zu schlagen - sofern man den Anspruch einer "Vernunftreligion" glaubhaft findet. Doch Setz' Buch verharrt in staunendem Zeigegestus: Was für eine Figur ist dieser Peter Bender, was ein Wahn! Wir haben seit Daniel Kehlmanns "Vermessung der Welt" viele historisierende Romane gelesen. Die guten darunter waren die ironisch-mitteilsamen: die von Kehlmann selbst, die von Christine Wunnicke, auch der von Raphaela Edelbauer. "Monde vor der Landung" ist zu ernsthaft-mitfühlsam, um gut zu sein. ANDREAS PLATTHAUS

Clemens J. Setz:

"Monde vor der Landung". Roman.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 525 S., Abb., geb., 26,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.02.2023

Ein
unanständiges Buch
Clemens J. Setz’ Roman „Monde vor der Landung“ erzählt
lustvoll von zwei Menschen, die nicht ahnen,
dass sie im Konzentrationslager ermordet werden
VON NELE POLLATSCHEK
Ich weiß noch genau, wo ich war, als Clemens Setz den Büchner-Preis gewann. Auf Twitter. Dieser Tag im Juli 2021 ist wohl der einzige Tag, der mir von der Vogelseite bleiben wird, wie anderen Mondlandung und Mauerfall, denn an diesem einen Tag herrschte etwas, was man auf Twitter nie zuvor erlebt hatte: Einigkeit. Die Massen der (zugegeben kleinen) Literatur-Bubble jubelten, „das Feuilleton“ (wie man auf Twitter sagt) jubelte, die Twitter-Linken (wie man im Feuilleton sagt) jubelten, und alle, wirklich alle waren sich einig: Es hat den Richtigen getroffen.
Im Nachhinein ist alles daran merkwürdig, denn nicht nur ist sich Twitter nie einig, auch Menschen, die Literaturpreise wahrnehmen, sind sich in der Regel uneins – irgendwer motzt immer. Das, was da ausgezeichnet wurde, ist zu schwülstig, zu platt, zu abgehoben, zu kommerziell, zu unbekannt, zu männlich, zu weiß, zu sehr nach Diversitätskriterien ausgesucht. Nur Clemens Setz hat die herausragende Gabe, niemanden zu stören.
Vielleicht, weil er sich selbst an niemandem zu stören scheint. Vielleicht, wie er selbst einst im Interview mit dem SZ Magazin sagte, weil „Männer wie Frauen“ ihn „nicht als Teilnehmer im erwachsenen Spiel von Sex, Macht und Partnerschaft“ wahrnehmen und er deswegen nach anderen, sanfteren Maßstäben bewertet wird. Vielleicht, weil er sein Fähnchen mit keinem Wind dreht, weder so noch so, weil, so denkt man, es ihm gar nicht in den Sinn käme, irgendetwas anderes zu tun, als genau das, was ihn gerade interessiert. Vielleicht, weil er saugut schreibt. Clemens Setz kann in einem Welt-Interview erklären, dass er aus gesundheitlichen Gründen ausschließlich Fleisch isst, eine Aussage, die man sonst nur von Jordan Peterson kennt. Clemens Setz kann dem Serbien-Apologeten Peter Handke huldigen. Wenn Clemens Setz Chuck Norris verprügelt, entschuldigt sich Norris danach bei ihm.
All das ist die Vorrede, um zu sagen: Clemens Setz hat ein Buch geschrieben, welches bei jedem anderen Autor die Art von „Debatte“ erzeugen würde, deren bloße Erwähnung die Verlagsmitarbeiter noch Jahre später ihre Stirnen feucht durchwischen ließe (man denke an Takis Würgers „Stella“). Und er wird – Prognose – damit durchkommen. Er wird, nach einigem Grübeln und beachtlichem Unwohlsein, auch bei mir damit durchkommen, am Ende dieses Textes wird stehen, dass Setz ein geniales Buch geschrieben hat. Und die Frage ist nur, ob das aus guten Gründen dasteht. „Monde vor der Landung“ ist ein insofern typisches Setz-Buch, als dass es im richtigen Maße eigenartig ist. Es vereint die dem Setz-Liebhaber bekannten Elemente: Psychiatrie und Versehrtheit, Exzentrik und existenzielle Einsamkeit, Sex und Ziegen. Dazu jede Menge obsessiv recherchierter Eigenartigkeit – spätestens seit dem sehr beglückenden Sachbuch „Die Bienen und das Unsichtbare“ ist Setz zu einer Art Meta-Nerd avanciert, der Leser damit begeistert, dass er sich dafür begeistert, dass sich Menschen für Dinge begeistern (erst Plansprachen wie Esperanto, jetzt Hohlwelten). Das alles in den viel gelobten, leicht verrückten Setz-Sätzen. Die 528 Seiten sind gerade sperrig genug, um nicht unter Midcult-Verdacht zu stehen, entwickeln dann, vor allem gegen Ende, einen enormen Sog. Es ist, man kann es nicht anders sagen, ein Vergnügen, dieses Buch zu lesen.
Und hier nähern wir uns dem Problem. Denn das, womit Setz den Leser 528 Seiten lang unterhält, ist eben nicht Science-Fiction, sondern eigentlich Biografie – eine durchliterarisierte, aber akribisch belegte, wahre Geschichte. Die Geschichte von Peter Bender, manisch egozentrischer, irgendwie genialer, gründlich danebenliegender Gründer einer Religionsgemeinschaft und Verfechter der sogenannten Hohlwelt-Theorie, seiner Frau Charlotte und seiner zwei Geliebten, Else und Hedwig. Die Geschichte beginnt in Worms 1920, da ist Bender schon Hohlwelt-Prediger, glaubt also, die Menschheit lebe nicht auf, sondern in einer Kugel. Zunächst wird sprunghaft erzählt, zurück in den Ersten Weltkrieg, ins Lazarett, wo er die Krankenschwester Charlotte kennenlernt, dazwischen Sexszenen mit der „anregend nach Ziege duftenden“ Else, Erklärungen zur „Quadratform der Geschlechter“ (eine Art Vierer-Polygamie), zeitweilig wird Bender wegen seiner Theorien inhaftiert, während Charlotte sich um Geld und Kinder kümmert.
Erst auf Seite 148 begreift man, dass Charlotte jüdisch ist – oder antisemitisch, ganz klar ist das erstmal nicht. Es ist 1917, und das „Priesterpaar“ befindet sich in Posen, bei einer polnischen Prozession wird eine Frau verprügelt, Charlotte fragt sich, was sich die Frau denn gedacht habe, „als Jüdin, mein Gott, an diesem Tag. Da laufe man denen quer durchs Weltbild“. Zwei Dekaden später macht auch Bender seiner mittlerweile eindeutig jüdischen – weil antisemitisch verfolgten – Frau Vorwürfe, sie verhalte sich unvorsichtig, sei im Grunde selber schuld.
Die letzten gut 150 Seiten, die, in denen Bender lange inhaftiert wird, die Ängste seiner Frau nicht ernst nimmt, Gefahren nicht erkennt, weil er nur die Hohlerde sehen kann, Hitlergrüße macht und die Quadratform der Geschlechter als Hakenkreuz zeichnet, diese letzten 150 Seiten, die mit dem Sog, sind im Grunde ein Will-they-won’t-they vergast werden. Und weil es so spannend ist, weil es teilweise enorm komisch ist – wenn Bender enthusiastisch einen Brief aus Amerika liest und Charlotte denkt, sie könnten doch noch in die rettende Emigration, nur um dann zu begreifen, dass es nur wieder Hohlwelt-Kram ist –, weil es in so zartschrägen Bildern passiert, weil Bender in seinem egoistischen Größenwahn liebevoll, aber eben doch vollumfänglich vorgeführt wird, ist man sich zunehmend sicher, dass sie schon irgendwie noch rauskommen. Kein anständiger Mensch, denkt man, würde die Geschichte zweier, die mit dem Feuer spielen, so lustvoll erzählen, wenn sie am Ende wirklich verbrennen.
Erst auf Seite 515 erfährt man, dass Bender in Mauthausen, Charlotte in Auschwitz ermordet wurde. Dreizehn Seiten später endet das Buch, und man muss sich erst mal gründlich waschen. Und natürlich ist das (here we go) genial. Weil es eben nach Jahrzehnten, in denen der Nationalsozialismus als Geschichte von moralisch dunkelgrauen Menschen, die zu Tätern werden, auf der einen und moralisch reinen (und dadurch eigentlich unmenschlichen) jüdischen Opfern auf der anderen Seite erzählt wurde, erleichternd ist, die Täter in den uninteressanten Rand zu verfrachten und von zweien zu erzählen, deren Lebensinhalt nicht „jüdisch“ oder „Opfer“ ist, sondern eben Hohlwelt, Sex, Geld, Egozentrik, Geniekult, Selbstüberschätzung. Natürlich ist es gut, eine Geschichte zu erzählen von Menschen, denen der Holocaust eben so passiert, obwohl sie wirklich anderes vorhatten. Natürlich ist es schlau, die Geschichte so zu erzählen, dass es fast ausschließlich um alles andere geht – und man als Leser von der Vernichtung im Grunde überrascht wird, so wie die, die sie ereilte, sie sich eben auch lange nicht vorstellen konnten. Das ist genial ausgedacht, wäre es ausgedacht, bedeutete das Wort „Roman“, welches der Suhrkamp-Verlag aufs Cover druckt, so was wie „ist Fiktion“ und nicht „ist akribisch belegt, darf aber trotzdem als Roman für den Deutschen Buchpreis nominiert werden“. Nur leider ist es halt keine Fiktion, sondern literarisierte Recherche. Mit Fotos von Bender mit Ziege, montageartig eingefügten Brieffragmenten, Auszügen aus Charlottes Gedichten. Bei den skurrilsten Stellen – dass Bender die Quadratform wirklich als Hakenkreuz zeichnet, dass Charlotte ihre Gedichtsammlung „Mein Kampf um Peter“ nennt – hört man fast den begeisterten Autor: Ist alles wirklich passiert, kein Witz, schau da, ein Beleg, und hier, und das habe ich auch noch gefunden.
Und so hat man eine sehr ästhetische Freude dabei, zweien, die es wirklich gab, auf dem Weg zum Ermordetwerden zuzuschauen, sich über sie aufzuregen, über sie lustig zu machen, über sie zu erheben. Setz, der von Anfang an weiß, wie die wahre Geschichte endet, verführt einen, sie zu genießen, indem er – trotz aller Zeitsprünge – dem Leser die entscheidende Information bis zum Schluss vorenthält, lässt sich von den Nazis Spannung schenken und macht uns so zu Komplizen.
Am Ende muss man sich selbst daran erinnern, dass, auch wenn monomanisch-narzisstische-Theoretiker-Nerd-Genies oft wirklich schlecht für ihre Umwelt sind – und obwohl der Verlag im Klappentext vor der „zerstörerischen Wahnwelt eines manischen Egozentrikers“ warnt –, an der Sache mit dem Ermordetwerden schon irgendwie auch die Nazis schuld sind. Und dann weiß man tagelang nicht, was man jetzt damit anfangen soll, außer zu sagen, dass es eben ein genialer Roman wäre, wäre es nur einer. Und kann nur mit Abstrakta schließen. Damit, dass Romanautoren vielleicht besser die Finger von der Realität lassen sollten, oder wenigstens so tun, als dächten sie sich die Dinge aus, gerade wenn es um Menschen geht, denen die Selbstbestimmung und Menschenwürde so fundamental genommen wurde, bei denen man vielleicht besonders intensiv darüber nachdenken sollte, was ihnen, seligen Angedenkens, wohl recht wäre. Und dann denkt man, genau das, was dieses Buch zu illustrieren scheint: dass man sich sehr dafür begeistern kann, dass jemand genau das tut, für das er sich interessiert, ohne die Art des Interesses damit immer gutzuheißen. Vielleicht ist nicht alles, was genial ist, deshalb auch richtig.
Es wäre ein genialer Roman,
wäre es nur einer
Kein Teilnehmer im
erwachsenen Spiel: der Schriftsteller Clemens J. Setz.
Foto: dpa
Die wahrscheinlich bekannteste hohle Erde der Weltliteratur stammt von Jules Vernes: Hier das zentrale Meer aus seinem Roman „Die Reise zum Mittelpunkt der Erde“ in einer Buchillustra-
tion von 1864.

Foto: mauritius images / imageBROKER / alimdi / Arterra 
Clemens J. Setz: Monde
vor der Landung. Roman. Suhrkamp Verlag,
Berlin 2023.
528 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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»Die kulturell, historisch und sprachlich ausgesprochen sensible Erzählinstanz ergreift niemals Partei und legt kein Urteil nahe. Auf diese Weise können Leser:innen ihren eigenen Zugang in die komplexe Thematik entwickeln und das soziale Abtriften eines trotz allem einnehmenden Menschen 'von Innen' erleben.« Jury des Österreichischen Buchpreises 2023 20231010