Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 4,99 €
Produktdetails
  • Verlag: Rowohlt, Reinbek
  • Seitenzahl: 285
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 446g
  • ISBN-13: 9783498016609
  • Artikelnr.: 25013955
  • Herstellerkennzeichnung
  • Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.1996

Kälter als der Mond
Neues über Wernher von Braun im Krieg / Von Günther Paul

Von Wernher von Braun, der den Flug von Menschen zum Mond ermöglicht hat, unter dessen Leitung aber auch die V2-Rakete entwickelt worden ist, die im Zweiten Weltkrieg als Terrorwaffe gegen London und andere Städte eingesetzt wurde, gibt es eine ganze Reihe von Biographien. Ihnen ist eines gemein: Sie gehen außerordentlich behutsam an die Peenemünder Zeit heran. Auch Wernher von Braun selbst und seine damalige Mannschaft, die "alten Peenemünder", haben sich später ungern über Aspekte geäußert, die über das rein Technische hinausgehen. Deshalb gab es auf die Frage, inwieweit die Raketentechniker in das nationalsozialistische Unrechtssystem verstrickt waren, nur unbefriedigende Antworten. Die Lücken versucht Rainer Eisfeld, der zum Kuratorium der Stiftung für die Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora gehört, in dem Buch "Mondsüchtig - Wernher von Braun und die Geburt der Raumfahrt aus dem Geist der Barbarei" zu schließen.

Um es vorweg zu nehmen - ganz hat der Autor wegen der mittlerweile verstrichenen Zeit sein Ziel nicht erreicht. Es ist ihm allerdings gelungen, die damalige Szene auszuleuchten und Schurken und Opportunisten zum Vorschein kommen zu lassen, die skrupellos die von den Nazis geschaffenen Verhältnisse für das Erreichen ihrer Ziele ausnutzten.

Es ist keineswegs so, daß es in Peenemünde kein Konzentrationslager gab, wie die Raketentechniker zu behaupten pflegen. Auch wurden ihnen die KZ-Häftlinge für die Produktion der V2 nicht alle von der SS aufgezwängt. Wernher von Braun war zwar im rechtlichen Sinne nicht für die grauenhaften Geschehnisse im Harzer Mittelwerk verantwortlich, in dem die V2 von Häftlingen des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora montiert wurde. Eine moralische Schuld aber hat er zweifellos auf sich geladen. Denn die Beschaffung der Häftlinge für die Arbeiten haben SS und Raketentechniker gemeinsam organisiert. Es existiert sogar noch ein Dokument aus der Zeit kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges, in dem Wernher von Braun die wegen fehlender Unterkünfte fast unmöglich erscheinende Evakuierung der Werke, in denen Fernkampfwaffen hergestellt wurden, "bei Anwendung härterer Maßnahmen" zumindest zum Teil für möglich hält. Dies ist nicht die Sprache eines weltfremden Ingenieurs, der mit Scheuklappen durchs Leben lief und von den Greueln der Nazizeit nichts mitbekommen hat.

Für den Autor war das reale Peenemünde wie jede derartige Organisation ein Mikrokosmos des Dritten Reiches, keineswegs eine Traumwelt unter der Kontrolle der Wissenschaften, zu der es später häufig verklärt wurde. Die Heeresversuchsanstalt war tief verstrickt in die Funktions- und Herrschaftsmechanismen der NS-Zeit. Unter den Ingenieuren befanden sich überzeugte Nazis wie Arthur Rudolph - zunächst technischer Direktor des Versuchsserienwerks Peenemünde, von 1943 an Betriebsdirektor des Mittelwerks -, der zu denjenigen gehörte, die einer Sammelexekution von Häftlingen im Mittelwerk freiwillig beiwohnten.

Wernher von Braun stuft der Autor wie den Kommandeur der Heeresversuchsanstalt, Walter Dornberger, als Opportunisten ein, national bis nationalistisch gesinnt, fixiert auf den Bau der Rakete, bereit zu fortwährenden Konzessionen an die "Umstände", mithin an das Regime. Wernher von Braun sei als Sohn Magnus von Brauns, der an der Seite des rechtskonservativen Politikers Papen gestanden habe, mit den Idealen Harmonie, Gemeinschaft und Ordnung aufgewachsen. Deshalb sei er im militärischen Umfeld besonders gut aufgehoben gewesen. Es erkläre zudem die Loyalität gegenüber den Projekten, an denen er gearbeitet habe - auch später in den Vereinigten Staaten. Der Opportunismus schließlich erkläre, warum er gerade 1937 - als er zum technischen Direktor des Werkes Ost der Versuchsstelle in Peenemünde, der späteren Heeresversuchsanstalt, ernannt worden war - der NSDAP und 1940 der SS beigetreten sei, die ihn zum Offizier befördert habe.

Daß sich Wernher von Braun darüber hinaus von den Nazis ferngehalten habe, läßt der Autor allerdings nicht gelten. Immerhin hätten Dornberger und von Braun gezielt um Gespräche mit Hitler ersucht, um ihm die Raketentechnik schmackhaft zu machen. Hitler hatte an der V2 (Vergeltungswaffe 2), die zunächst als A4 (Aggregat 4) bezeichnet wurde, kein sonderlich großes Interesse. Es war nämlich klar, daß sie nur einen geringen strategischen Wert besaß. Erst 1941 fing Dornberger an, zu betonen, daß ein Raketenbeschuß neben der materiellen Wirkung "größte moralische Erfolge" erzielen würde. Damit wurde den rücksichtslosen Terrorangriffen gegen Großstädte der Weg geebnet.

Aus Dokumenten erschließt sich, daß zu von Brauns Charakter - außer seinem bekannten Charme sowie seiner Überzeugungs- und Organisationsfähigkeit - eine technokratische Rigorosität und eine gefühlskalte Fixiertheit auf die Meisterung selbst- oder fremdgestellter Aufgaben gehörte, wodurch er nach Meinung des Autors blind für moralische Grundsätze wurde. Skrupel über die Anforderung und den Einsatz von KZ-Insassen empfand er offenbar nicht. Man war moralisch abgestumpft in Peenemünde, schreibt Eisfeld. So wurde der Weg zur Mondrakete, die von Braun nach eigenen Worten immer im Sinn hatte, mit Tausenden von Opfern unter den Häftlingen im Umfeld der V2-Produktion gepflastert.

Nach dem Zweiten Weltkrieg sind von Braun und die meisten "alten Peenemünder" einer gründlichen Entnazifizierung entgangen. Sie hatten sich in die Hände der Amerikaner begeben, die von ihrem Wissen profitieren wollten und sie in der Operation "Paperclip" in die Vereinigten Staaten holten. Dort zeichnete sich am Horizont bald eine kommunistische Gefahr aus dem Osten ab, die den Drang zur Verfolgung der Naziverbrechen erheblich dämpfte. Nach dem Koreakrieg schließlich wurden die Raketentechniker für die eigene Raketenentwicklung gebraucht.

So war Wernher von Braun wieder in seinem Element - und entwickelte augenblicklich neue Visionen, zu denen nicht nur die bemannte Mondfahrt gehörte. Seine damaligen Vorschläge zum Bau von Orbitalstationen, von denen aus man den Angriff feindlicher Raketen abwehren, aber auch schon die Errichtung der erforderlichen Test- und Startplätze des Gegners im Vorfeld verhindern könnte, gingen nach Meinung des Autors über Ronald Reagans spätere Star-Wars-Ideen ein gutes Stück hinaus.

Das außerordentlich interessante Buch Eisfelds ist nicht als persönlicher Angriff auf Wernher von Braun zu verstehen, der als "Opportunist" mit moralischer Schuld dargestellt wird. Dem Autor geht es vielmehr darum, zu zeigen, in welch schrecklichem Kontext die erste Großrakete der Welt gebaut wurde und daß es vollkommen unangebracht ist, darauf besonders stolz zu sein. Dabei führt er unter anderem Albert Speer an, der den Mechanismus offengelegt hat, der auch in der Heeresversuchsanstalt am Werk gewesen sein dürfte: "Wenn ich heute die Empfindungen ergründen möchte, die mich damals bewegten, so kommt es mir vor, als habe . . . das besessene Starren auf Produktions- und Ausstoß-Zahlen alle Erwägungen und Gefühle der Menschlichkeit zugedeckt. Ich sehe, daß der Anblick leidender Menschen nur meine Empfindungen, nicht aber meine Verhaltensweise beeinflußte."

Zu solch klaren Worten der nachträglichen Distanzierung ist Wernher von Braun nie fähig gewesen. Erst dieses Buch, das mit seiner Intensität außerordentlich nachdenklich stimmt, erlaubt es, die Geschehnisse in Peenemünde und im Mittelwerk historisch einzuordnen. Wie der Bau der großen Pyramiden in Ägypten hat auch der Flug von Menschen zum Mond eine Vorgeschichte, in der es dunkle Schatten gab.

Rainer Eisfeld: "Mondsüchtig". Wernher von Braun und die Geburt der Raumfahrt aus dem Geist der Barbarei. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1996. 286 S., Abb., geb., 42,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr