Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.09.2001Zwei Säulen nebeneinander
Otmar Issing über fehlende Gewißheiten in der Geldpolitik
Otmar Issing/Vitor Gaspar/Ignacio Angeloni/Oreste Tristani: Monetary Policy in the Euro Area. Cambridge University Press, Cambridge 2001. 199 Seiten, 64,95 Dollar.
Seit ihrem Start vor gut drei Jahren legt die Europäische Zentralbank (EZB) großen Wert darauf, der Öffentlichkeit ihre Strategie und deren Beweggründe darzulegen. Zu Recht wird die EZB deshalb als die transparenteste aller Notenbanken bezeichnet. Nun geht EZB-Chefvolkswirt Otmar Issing noch einen Schritt weiter. Zusammen mit drei hochgestellten Mitarbeitern aus der Forschungsabteilung der Notenbank hat er persönlich zur Feder gegriffen und die Geldpolitik der EZB in einem Buch erläutert. Es ist seit langer Zeit das erste Mal, daß der Gouverneur einer großen Notenbank so detailliert Einblick in seine Gedankenwelt gibt.
Wer sich einfache Antworten auf komplizierte Fragen erhofft, wird freilich enttäuscht. Im Gegenteil: Das Buch ist eine einzige Absage an den weitverbreiteten Irrglauben, daß es in den Wirtschaftswissenschaften, ähnlich wie in den Naturwissenschaften, gesetzmäßige Zusammenhänge gibt. Dementsprechend gibt es auch keine Regeln, an die sich die Geldpolitik mechanistisch halten könnte. Wie ein roter Faden zieht sich durch die Argumentation, daß Geldpolitik genuin Politik ist, also Entscheiden unter der Rahmenbedingung unvollständiger Information über Daten und Wirkungsmechanismen. Das Buch bietet keine leichte Lektüre, dürfte den volkswirtschaftlichen Laien bald ermüden. Für die Fachwelt aber wird es für lange Zeit zum Kanon gehören - nicht nur wegen der Prominenz der Verfasser, sondern weil es exemplarisch zeigt, wie sich wissenschaftliche Forschung in praktische Politik ummünzen läßt.
Mit Akribie leuchten die Verfasser alle Aspekte der Geldpolitik der EZB aus, von der Rolle der Geldmenge über die Konstruktion des Verbraucherpreis-Indexes, die Definition von Preisniveaustabilität bis hin zu den Komponenten der Strategie. Ein abschließendes Kapitel ist den ersten praktischen Erfahrungen der EZB gewidmet. Weil Issing - der vor seiner Aufgabe als Chefvolkswirt erst bei der Bundesbank und nun bei der EZB als Wirtschaftsprofessor in Würzburg tätig war - ein undogmatischer Wissenschaftler ist, gehen die Verfasser jede Fragestellung damit an, die vorhandenen Ansätze zu sichten. Kaum überraschend, widersprechen sich deren Ergebnisse häufig. So bleibt oft als Essenz, daß es nur in den wenigsten Fragen so etwas wie Gewißheit gibt.
Auf dieser Basis arbeiten die Verfasser heraus, daß die Formulierung einer Strategie dieser Ungewißheit Rechnung tragen mußte. So dargestellt, versinnbildlicht das Nebeneinander der zwei "Säulen" den Standpunkt der Verfasser, daß es keine einzige, unbestrittene Basis für geldpolitische Entscheidungen gibt. Die prominente Rolle, die sie der Geldmenge, der "ersten Säule", einräumen, begründen die Verfasser damit, daß der Einfluß der Geldmenge auf die Inflation zu den wenigen allgemein akzeptierten Gewißheiten zähle.
Als ihrem Architekten geht es Issing mit dem Buch wohl auch darum, der vielfach geübten Kritik an der "Zwei-Säulen-Strategie" entgegenzutreten. Denn das Erreichen der geldpolitischen Ziele wird schwieriger, wenn in der Öffentlichkeit der Eindruck vorherrscht, die zugrundeliegende Strategie sei diffus. Im vorliegenden Buch legen die Verfasser überzeugend dar, daß Geldpolitik weder auf eine Analyse der Geldmenge verzichten noch sich allein mit der Geldmengenanalyse begnügen kann. Daraus ergibt sich das Problem, daß die unterschiedlichen Indikatoren bisweilen gegensätzliche Signale liefern. Doch ist dann eben nicht die Zwei-Säulen-Strategie verwirrend, sondern vielmehr die Datenlage.
Wer diesem Plädoyer nicht folgen will, mag sich damit trösten, daß auch die Verfasser sie nur als Reflex auf "unser immer noch begrenztes Wissen über die Wirtschaft" betrachten. "Das einzige Element der Strategie, das ,in Stein gemeißelt ist' - weil durch den Gesetzgeber in einem internationalen Vertrag verankert -, . . . ist die Verpflichtung der EZB auf Preisniveaustabilität."
BENEDIKT FEHR
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Otmar Issing über fehlende Gewißheiten in der Geldpolitik
Otmar Issing/Vitor Gaspar/Ignacio Angeloni/Oreste Tristani: Monetary Policy in the Euro Area. Cambridge University Press, Cambridge 2001. 199 Seiten, 64,95 Dollar.
Seit ihrem Start vor gut drei Jahren legt die Europäische Zentralbank (EZB) großen Wert darauf, der Öffentlichkeit ihre Strategie und deren Beweggründe darzulegen. Zu Recht wird die EZB deshalb als die transparenteste aller Notenbanken bezeichnet. Nun geht EZB-Chefvolkswirt Otmar Issing noch einen Schritt weiter. Zusammen mit drei hochgestellten Mitarbeitern aus der Forschungsabteilung der Notenbank hat er persönlich zur Feder gegriffen und die Geldpolitik der EZB in einem Buch erläutert. Es ist seit langer Zeit das erste Mal, daß der Gouverneur einer großen Notenbank so detailliert Einblick in seine Gedankenwelt gibt.
Wer sich einfache Antworten auf komplizierte Fragen erhofft, wird freilich enttäuscht. Im Gegenteil: Das Buch ist eine einzige Absage an den weitverbreiteten Irrglauben, daß es in den Wirtschaftswissenschaften, ähnlich wie in den Naturwissenschaften, gesetzmäßige Zusammenhänge gibt. Dementsprechend gibt es auch keine Regeln, an die sich die Geldpolitik mechanistisch halten könnte. Wie ein roter Faden zieht sich durch die Argumentation, daß Geldpolitik genuin Politik ist, also Entscheiden unter der Rahmenbedingung unvollständiger Information über Daten und Wirkungsmechanismen. Das Buch bietet keine leichte Lektüre, dürfte den volkswirtschaftlichen Laien bald ermüden. Für die Fachwelt aber wird es für lange Zeit zum Kanon gehören - nicht nur wegen der Prominenz der Verfasser, sondern weil es exemplarisch zeigt, wie sich wissenschaftliche Forschung in praktische Politik ummünzen läßt.
Mit Akribie leuchten die Verfasser alle Aspekte der Geldpolitik der EZB aus, von der Rolle der Geldmenge über die Konstruktion des Verbraucherpreis-Indexes, die Definition von Preisniveaustabilität bis hin zu den Komponenten der Strategie. Ein abschließendes Kapitel ist den ersten praktischen Erfahrungen der EZB gewidmet. Weil Issing - der vor seiner Aufgabe als Chefvolkswirt erst bei der Bundesbank und nun bei der EZB als Wirtschaftsprofessor in Würzburg tätig war - ein undogmatischer Wissenschaftler ist, gehen die Verfasser jede Fragestellung damit an, die vorhandenen Ansätze zu sichten. Kaum überraschend, widersprechen sich deren Ergebnisse häufig. So bleibt oft als Essenz, daß es nur in den wenigsten Fragen so etwas wie Gewißheit gibt.
Auf dieser Basis arbeiten die Verfasser heraus, daß die Formulierung einer Strategie dieser Ungewißheit Rechnung tragen mußte. So dargestellt, versinnbildlicht das Nebeneinander der zwei "Säulen" den Standpunkt der Verfasser, daß es keine einzige, unbestrittene Basis für geldpolitische Entscheidungen gibt. Die prominente Rolle, die sie der Geldmenge, der "ersten Säule", einräumen, begründen die Verfasser damit, daß der Einfluß der Geldmenge auf die Inflation zu den wenigen allgemein akzeptierten Gewißheiten zähle.
Als ihrem Architekten geht es Issing mit dem Buch wohl auch darum, der vielfach geübten Kritik an der "Zwei-Säulen-Strategie" entgegenzutreten. Denn das Erreichen der geldpolitischen Ziele wird schwieriger, wenn in der Öffentlichkeit der Eindruck vorherrscht, die zugrundeliegende Strategie sei diffus. Im vorliegenden Buch legen die Verfasser überzeugend dar, daß Geldpolitik weder auf eine Analyse der Geldmenge verzichten noch sich allein mit der Geldmengenanalyse begnügen kann. Daraus ergibt sich das Problem, daß die unterschiedlichen Indikatoren bisweilen gegensätzliche Signale liefern. Doch ist dann eben nicht die Zwei-Säulen-Strategie verwirrend, sondern vielmehr die Datenlage.
Wer diesem Plädoyer nicht folgen will, mag sich damit trösten, daß auch die Verfasser sie nur als Reflex auf "unser immer noch begrenztes Wissen über die Wirtschaft" betrachten. "Das einzige Element der Strategie, das ,in Stein gemeißelt ist' - weil durch den Gesetzgeber in einem internationalen Vertrag verankert -, . . . ist die Verpflichtung der EZB auf Preisniveaustabilität."
BENEDIKT FEHR
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'A first: the articulation of the goals and strategy of the European Central Bank, from inside. It is an important document, which will help markets interpret monetary policy actions, and make for a much sharper professional and public debate.' Olivier Blanchard, MIT