Im Jahr 1962, als das nukleare Wettrüsten seinen Höhepunkt erreicht, als in Algier und Paris Bomben explodieren, bricht im Wirtschaftswunder-Deutschland der junge Mediziner Nikolaos Spyridakis in die Eifel auf. Es ist eine heikle Mission: Im Kreis Monschau sind die Pocken ausgebrochen, hochansteckend und lebensgefährlich. Mitten im Karneval droht nun Stillstand, Quarantäne. Der Rither-Chef will die Fabrik um jeden Preis offen halten, keine zwanzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist man weltweit gut im Geschäft.
Ganz andere Pläne hegt Vera Rither: Die Alleinerbin studiert in Paris, bewundert Simone de Beauvoir und trägt den Geist der Avantgarde nach Monschau. Dort begegnet sie Nikolaos, der als Betriebsarzt durch die tiefverschneite Eifel zur Patientenvisite gefahren wird, vor Ansteckung geschützt durch einen Stahlarbeiteranzug. So unterschiedlich die beiden auch sind, der kretische Arzt, der als Kind die Gräuel der deutschen Besatzung miterlebt hat, und die schwerreiche Vollwaise: Sie entdecken schnell, dass sie mehr verbindet als ihre Liebe zu Miles Davis. Doch die Krankheitsfälle häufen sich, und das Virus nimmt sich, was es kriegen kann.
Steffen Kopetzky erzählt von einer Liebe im Ausnahmezustand und von der jungen, vom rasanten Wirtschaftswachstum geprägten Bundesrepublik - und verwandelt die wahren Begebenheiten eines kaum bekannten Kapitels deutscher Geschichte in packende Literatur.
Ganz andere Pläne hegt Vera Rither: Die Alleinerbin studiert in Paris, bewundert Simone de Beauvoir und trägt den Geist der Avantgarde nach Monschau. Dort begegnet sie Nikolaos, der als Betriebsarzt durch die tiefverschneite Eifel zur Patientenvisite gefahren wird, vor Ansteckung geschützt durch einen Stahlarbeiteranzug. So unterschiedlich die beiden auch sind, der kretische Arzt, der als Kind die Gräuel der deutschen Besatzung miterlebt hat, und die schwerreiche Vollwaise: Sie entdecken schnell, dass sie mehr verbindet als ihre Liebe zu Miles Davis. Doch die Krankheitsfälle häufen sich, und das Virus nimmt sich, was es kriegen kann.
Steffen Kopetzky erzählt von einer Liebe im Ausnahmezustand und von der jungen, vom rasanten Wirtschaftswachstum geprägten Bundesrepublik - und verwandelt die wahren Begebenheiten eines kaum bekannten Kapitels deutscher Geschichte in packende Literatur.
Rezensent Hubert Winkels scheint angenehm verblüfft angesichts von Steffen Kopetzkys neuem Roman, dem laut Winkels das Kunststück gelingt, die Geschichte der Pockenvirusepidemie in Deutschland 1962 mit der NS-Zeit und ihren Folgen in der BRD auf unterhaltsame Weise zu verbinden. Nicht nur bändigt der Autor die Materialfülle, er schafft es auch, die unterschiedlichen Erzählstränge kunstfertig zu verknoten und zum Zünden zu bringen, stellt Winkels staunend fest. Das Resultat ist zum einen Spannung, zum anderen eine Art mythisch-romantische Aufladung historischer Ereignisse, wie Winkels uns erläutert. Für den Rezensenten gehobene Unterhaltung im besten Sinne.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.03.2021Mit den Pocken und Miles Davis in der Eifel
Der neue Roman von Steffen Kopetzky heißt "Monschau". Er findet dort eine Vorlage für die Corona-Pandemie.
Von Rose-Maria Gropp
Die Corona-Pandemie breitet sich seit November 2019 über die ganze Welt aus. Der erste Fall einer Infektion mit dem Covid-19-Virus in Deutschland wurde am 27. Januar 2020 gemeldet. Am 26. März 2020 veröffentlichte Steffen Kopetzky im "Spiegel" einen Artikel mit dem Titel "Die Attacke der gefährlichen Pocken". In dem bestens recherchierten Bericht geht es um den lokalen Ausbruch der Seuche Anfang des Jahres 1962 im Städtchen Monschau in der Eifel nahe der belgischen Grenze; die Maßnahmen, die dagegen, schließlich mit Erfolg, ergriffen wurden, sind ausführlich geschildert: Isolation der Verdachtsfälle, Quarantänen, Impfungen. Offensichtlich diente Kopetzky, wie unter einem Brennglas, die aktuelle Pandemie als Folie.
Nun erscheint mit "Monschau" sein Roman auf der Basis der damaligen Geschehnisse. Damit war er - das muss man ihm lassen - wirklich schnell. Weil die dürren Fakten für die 350 Seiten einer Fiktion naturgemäß nicht ausgereicht hätten, versieht er sie mit Nebenhandlungen und Seitensträngen und einer zarten Liebesgeschichte in Zeiten der Pocken. Einiges Personal entnimmt er der Realität, allen voran den 1962 mutig agierenden Dermatologen Günter Stüttgen. Auch der Stüttgen des Romans stellt sich der Krise gegen Widerstände nicht nur bornierter Lokalpolitiker praktisch im Alleingang; unterstützt von seinem jungen griechischen Assistenzarzt, der im Buch Nikos Spyridakis heißt und für die Dauer der Epidemie vor Ort stationiert wird. Das im Wirtschaftswunder-Deutschland vom Ausbruch der Pocken und dessen Folgen massiv bedrohte im nahen Lammersdorf ansässige Unternehmen zur Herstellung von Hochtemperaturöfen bekommt eine zentrale Rolle, als "die Rither-Werke", nun bereichert um die attraktive Alleinerbin Vera Rither, die zur Zeit der Handlung zufällig aus Paris, wo sie Journalismus studiert, angereist ist.
Von dieser Konstellation her erzählt Kopetzky seine Geschichte in satten Farben. Zumal er, der historisch bewanderte Autor, immer wieder geschichtliches und politisches Kolorit einfließen lässt, ein bisschen wie aus dem "Kulturfahrplan" für das Jahr 1962, von Adenauers Kalkül über Bombenanschläge in Frankreich bis zu Kennedys wenig friedlichen Absichten. Und hierzulande sind derweil alle gebannt vom ersten "Straßenfeger" im Fernsehen, dem Francis-Durbridge-Sechsteiler "Das Halstuch". Und fast alle scheinen Kettenraucher zu sein; "Peter Stuyvesant" ist die Marke der Wahl, selbst im "alten Käfer" von Stüttgen, der "Duft der großen weiten Welt", irgendwie symbolisch. Während der erbitterte Kampf der Ärzte gegen die Seuche läuft, die Furcht unter den Menschen in Monschau und Umgebung umgeht, gibt es immer wieder Exkurse in Landes- und Erdkunde: dass Monschau einst, gut eingedeutscht, beinah "Freudenberg" geheißen hätte oder dass die Maori aus Neuseeland auf der Insel Kreta, der Heimat von Spyridakis, die tapfersten Kämpfer gegen die deutschen Besatzer gewesen seien. Überhaupt ist der Zweite Weltkrieg noch omnipräsent, wie auch jene gefährlich Unverbesserlichen aus großer Zeit.
All die gutgemeinten - und auch gut geschriebenen - Nebenwege sollen der Evokation der Atmosphäre in den Nachkriegsjahren dienen, machen die Lektüre aber mitunter etwas disparat. Am Hauptweg, entlang der Ausbreitung der Pocken, gilt es festzuhalten; wobei sich doch eine Frage stellt: Wollte Kopetzky, ausgewiesen gewandter Stilist, einen Kolportageroman schreiben, was ja nicht die schlechteste Möglichkeit wäre? Dafür könnte einiges im Duktus von "Monschau" sprechen: die typenhaft karikierende Schilderung wichtigen Personals, wie eines semikorrupten Journalisten und eines verstrickten Managers der Rither-Werke; oder eine altfränkische Wortwahl wie "Lungenbrötchen", in der ironisch ein Jahrzehnte zurückliegender Sprachgebrauch aufersteht.
Oder ist Kopetzky die streckenweise Anmutung der Kolportage schlicht unterlaufen? Am schwierigsten zu entscheiden ist das bei der Liebesgeschichte, die sich zierlich zwischen dem als "schön" bezeichneten griechischen Arzt Nikos und der als "höhere Tochter" ausgewiesenen Unternehmenserbin Vera anbahnt. Vera, die auch ein Schicksal zu tragen hat, ist absolut parisienne, schwarzer Rollkragenpullover und schwarze Steghosen, die Frisur ein "erdbeerblonder Bob", Existentialistinnen-Look halt; das kann dann aus Nikos' scheuer Perspektive so klingen: "Er beugt den Kopf ein klein wenig vor, in die offene Tür. Da nahm er einen ganz eigenen, edlen Geruch wahr. Zigaretten, Hörsäle, Theaterfoyers und Bars. Parfüm war auch dabei. Eine fremde Welt. Das gefiel ihm. Und es gefiel ihm auch, wie sich das Klappern der Schreibmaschine anhörte, das sich perfekt an die Musik anschmiegte."
Das Tippen auf einer "Olympia" mit dem Cool Jazz eines Miles Davis zu synchronisieren ist nicht wirklich zwingend. Wie auch die Psychologie der Protagonisten nicht; eine Szene beim während der Seuche streng verbotenen Karneval, eine Art Klimax im Roman, nährt solche Zweifel zusätzlich. Doch im Ganzen funktioniert die Kombination von Seuchenbekämpfung, aufkeimenden Gefühlen und üblen Machenschaften Ewiggestriger durchaus - eben brandaktuell. Der Spuk in Monschau endete am 10. April 1962. Covid-19 ist noch längst nicht besiegt.
Steffen Kopetzky: "Monschau". Roman.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2021. 352 S., geb., 22,- [Euro].
Erscheint am 18. März.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der neue Roman von Steffen Kopetzky heißt "Monschau". Er findet dort eine Vorlage für die Corona-Pandemie.
Von Rose-Maria Gropp
Die Corona-Pandemie breitet sich seit November 2019 über die ganze Welt aus. Der erste Fall einer Infektion mit dem Covid-19-Virus in Deutschland wurde am 27. Januar 2020 gemeldet. Am 26. März 2020 veröffentlichte Steffen Kopetzky im "Spiegel" einen Artikel mit dem Titel "Die Attacke der gefährlichen Pocken". In dem bestens recherchierten Bericht geht es um den lokalen Ausbruch der Seuche Anfang des Jahres 1962 im Städtchen Monschau in der Eifel nahe der belgischen Grenze; die Maßnahmen, die dagegen, schließlich mit Erfolg, ergriffen wurden, sind ausführlich geschildert: Isolation der Verdachtsfälle, Quarantänen, Impfungen. Offensichtlich diente Kopetzky, wie unter einem Brennglas, die aktuelle Pandemie als Folie.
Nun erscheint mit "Monschau" sein Roman auf der Basis der damaligen Geschehnisse. Damit war er - das muss man ihm lassen - wirklich schnell. Weil die dürren Fakten für die 350 Seiten einer Fiktion naturgemäß nicht ausgereicht hätten, versieht er sie mit Nebenhandlungen und Seitensträngen und einer zarten Liebesgeschichte in Zeiten der Pocken. Einiges Personal entnimmt er der Realität, allen voran den 1962 mutig agierenden Dermatologen Günter Stüttgen. Auch der Stüttgen des Romans stellt sich der Krise gegen Widerstände nicht nur bornierter Lokalpolitiker praktisch im Alleingang; unterstützt von seinem jungen griechischen Assistenzarzt, der im Buch Nikos Spyridakis heißt und für die Dauer der Epidemie vor Ort stationiert wird. Das im Wirtschaftswunder-Deutschland vom Ausbruch der Pocken und dessen Folgen massiv bedrohte im nahen Lammersdorf ansässige Unternehmen zur Herstellung von Hochtemperaturöfen bekommt eine zentrale Rolle, als "die Rither-Werke", nun bereichert um die attraktive Alleinerbin Vera Rither, die zur Zeit der Handlung zufällig aus Paris, wo sie Journalismus studiert, angereist ist.
Von dieser Konstellation her erzählt Kopetzky seine Geschichte in satten Farben. Zumal er, der historisch bewanderte Autor, immer wieder geschichtliches und politisches Kolorit einfließen lässt, ein bisschen wie aus dem "Kulturfahrplan" für das Jahr 1962, von Adenauers Kalkül über Bombenanschläge in Frankreich bis zu Kennedys wenig friedlichen Absichten. Und hierzulande sind derweil alle gebannt vom ersten "Straßenfeger" im Fernsehen, dem Francis-Durbridge-Sechsteiler "Das Halstuch". Und fast alle scheinen Kettenraucher zu sein; "Peter Stuyvesant" ist die Marke der Wahl, selbst im "alten Käfer" von Stüttgen, der "Duft der großen weiten Welt", irgendwie symbolisch. Während der erbitterte Kampf der Ärzte gegen die Seuche läuft, die Furcht unter den Menschen in Monschau und Umgebung umgeht, gibt es immer wieder Exkurse in Landes- und Erdkunde: dass Monschau einst, gut eingedeutscht, beinah "Freudenberg" geheißen hätte oder dass die Maori aus Neuseeland auf der Insel Kreta, der Heimat von Spyridakis, die tapfersten Kämpfer gegen die deutschen Besatzer gewesen seien. Überhaupt ist der Zweite Weltkrieg noch omnipräsent, wie auch jene gefährlich Unverbesserlichen aus großer Zeit.
All die gutgemeinten - und auch gut geschriebenen - Nebenwege sollen der Evokation der Atmosphäre in den Nachkriegsjahren dienen, machen die Lektüre aber mitunter etwas disparat. Am Hauptweg, entlang der Ausbreitung der Pocken, gilt es festzuhalten; wobei sich doch eine Frage stellt: Wollte Kopetzky, ausgewiesen gewandter Stilist, einen Kolportageroman schreiben, was ja nicht die schlechteste Möglichkeit wäre? Dafür könnte einiges im Duktus von "Monschau" sprechen: die typenhaft karikierende Schilderung wichtigen Personals, wie eines semikorrupten Journalisten und eines verstrickten Managers der Rither-Werke; oder eine altfränkische Wortwahl wie "Lungenbrötchen", in der ironisch ein Jahrzehnte zurückliegender Sprachgebrauch aufersteht.
Oder ist Kopetzky die streckenweise Anmutung der Kolportage schlicht unterlaufen? Am schwierigsten zu entscheiden ist das bei der Liebesgeschichte, die sich zierlich zwischen dem als "schön" bezeichneten griechischen Arzt Nikos und der als "höhere Tochter" ausgewiesenen Unternehmenserbin Vera anbahnt. Vera, die auch ein Schicksal zu tragen hat, ist absolut parisienne, schwarzer Rollkragenpullover und schwarze Steghosen, die Frisur ein "erdbeerblonder Bob", Existentialistinnen-Look halt; das kann dann aus Nikos' scheuer Perspektive so klingen: "Er beugt den Kopf ein klein wenig vor, in die offene Tür. Da nahm er einen ganz eigenen, edlen Geruch wahr. Zigaretten, Hörsäle, Theaterfoyers und Bars. Parfüm war auch dabei. Eine fremde Welt. Das gefiel ihm. Und es gefiel ihm auch, wie sich das Klappern der Schreibmaschine anhörte, das sich perfekt an die Musik anschmiegte."
Das Tippen auf einer "Olympia" mit dem Cool Jazz eines Miles Davis zu synchronisieren ist nicht wirklich zwingend. Wie auch die Psychologie der Protagonisten nicht; eine Szene beim während der Seuche streng verbotenen Karneval, eine Art Klimax im Roman, nährt solche Zweifel zusätzlich. Doch im Ganzen funktioniert die Kombination von Seuchenbekämpfung, aufkeimenden Gefühlen und üblen Machenschaften Ewiggestriger durchaus - eben brandaktuell. Der Spuk in Monschau endete am 10. April 1962. Covid-19 ist noch längst nicht besiegt.
Steffen Kopetzky: "Monschau". Roman.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2021. 352 S., geb., 22,- [Euro].
Erscheint am 18. März.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Rezensent Jörg Magenau schwärmt für die Lebensfreude und Warmherzigkeit in Steffen Kopetzkys Roman. Und für die gekonnte, an erzählerischen Einfällen und Empathie mit den Figuren reiche Verquickung von Realgeschehen (Pockenepidemie in der Eifel 1962), zarter Liebesgeschichte und Abenteuerroman. Dass Kopetzky außerdem keine Angst vor Kolportage hat und alles schön nach Gut und Böse ordnet, scheint Magenau ausnahmsweise den Reiz der Lektüre noch zu erhöhen. Ach ja, wie der Autor das aktuelle Pandemie-Geschehen und seine gesellschaftlichen Effekte im historischen Brennglas zeigt, ist für den Rezensenten ein weiteres Schmankerl des an Schmankerln überreichen Romans.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.04.2021Heldentaten, zweite Runde
Steffen Kopetzkys „Monschau“ erzählt von einer Pocken-Epidemie in der Nachkriegszeit.
Warum schreibt der Mann so erfolgreich gehobene Unterhaltungsromane?
VON HUBERT WINKELS
Pest und Pocken, das klingt schauderhaft, „Variola“ hingegen wie ein südeuropäischer Mädchenname. Mit dem Kapitel „Variola“ beginnt Steffen Kopetzkys Roman „Monschau“, es ist der wissenschaftliche Name des Pockenvirus, das in Deutschland 1962 ein letztes Mal in größerem Stil aktiv wurde. In der Nordeifel, an der belgischen Grenze, rund um das idyllische Monschau eben. Von der Variola-Bekämpfung handelt der Roman, aber auch von den Nachwehen der NS-Zeit in der Bundesrepublik, im historischen Hintergrund steht die letzte Abwehrschlacht gegen die westlichen Alliierten im nahen Hürtgenwald. Eine Menge Material verarbeitet Kopetzky wie in allen seinen Romanen. Er hat das „Gespür für den richtigen Stoff“, wie es im Roman einmal heißt, und das ist für Journalisten bekanntlich mehr als die halbe Miete. Für Schriftsteller hingegen fangen hier die wichtigen Fragen erst an.
In seinem erfolgreichen vorangegangenen Roman „Propaganda“ von 2019 folgt der Ich-Erzähler John Glueck, ein deutschstämmiger Amerikaner, Ernest Hemingway durch halb Frankreich bis in die Eifeler Gegend, weil er dessen Blick auf die kriegerische Welt von 1944 begreifen und ihn dabei porträtieren will für ein deutsches kriegsmüdes Publikum, das von der US-Luftwaffe mit Information über die aussichtslose Lage versorgt wird. Der Brandy saufende Hemingway versagt, und es ist eine nur halb versteckte Pointe, dass der geplante Roman über die brutale Schlacht im Hürtgenwald erst viele Jahr später entsteht, „Propaganda“ heißt, und von einem weniger dionysischen, dafür zeitgeschichtlich informierten und weltethisch engagierten deutschen Schriftsteller namens Steffen Kopetzky verfasst wird.
Worin also besteht sein „Gespür für den richtigen Stoff“? Um im Bild zu bleiben: Der Autor verstrickt sich in viele Geschichten und Erfahrungen und trachtet nach einem Zusammenhang der Fäden, die noch nicht in einem festen Sinngewebe aufgegangen sind. Für die schönste Art, zu solchen Verbindungen zu kommen, sorgt der Zufall, das Zusammenschließen aller Erzählfäden in einem besonderen Augenblick. Man muss diesen Moment aber auch bemerken. Steffen Kopetzky hat erzählt, wie ihn der Stoff seines neuen Romans erwischt hat: Eine Lesung aus seinem vorigen Roman hatte ihn im Februar 2020 in die Eifel geführt. Auf dem Weg zum Bahnhof hörte er die Meldung über den ersten Corona-Toten in Europa. Zugleich sah er ein Hinweisschild auf den Ort Monschau und erinnerte sich an die Worte der Witwe seines „Propaganda“-Helden Günter Stüttgen, der Militärarzt habe nach dem Krieg eine weitere segensreiche Arbeit geleistet, bei der Pockenepidemie in Monschau.
Jener Stüttgen, der es in „Propaganda“ fertig bringt inmitten der Schlachterei zwischen deutschen und amerikanischen Soldaten einen Waffenstillstand zu erzwingen, um die Verwundeten beider Seiten medizinisch zu versorgen, dieser humanistische Held reist in „Monschau“ von der Düsseldorfer medizinischen Akademie in die Eifel, um die Pocken zu bekämpfen. Er trifft auf einige Widerstände, vor allem des Geschäftsführers der größten Industriefirma vor Ort, Richard Seuss, der 1944 mit Durchhaltebefehlen eine Festung in der Normandie dem Untergang preisgegeben hatte. Dessen Adjutant Max Lembke, im Pockenjahr 1962 als sein Fahrer tätig, war in der Hürtgenwaldschlacht Baumschütze, ein Waldsniper, der anrückende Amis erschoss. Am Ende von „Monschau“ sitzt er wieder im Baum und will im Auftrag von Seuss den über-alles-guten Günter Stüttgen erschießen. Nicht wegen der Pockenbekämpfung, wofür es auch Gründe gäbe, sondern wegen seiner Befehlsverweigerung im Krieg, wegen seines Bestehens auf Einhaltung der Genfer Konvention.
Tatsächlich sind in „Monschau“ die Bezüge zum Weltkrieg und der frühen Bundesrepublik nicht weniger wichtig als die Pockengeschichte, die davon handelt, wie Stüttgen und sein griechischstämmiger Assistent Nikos Spyridakis das Virus bekämpfen. Die besondere Kunstfertigkeit besteht darin, die beiden Stoffgebiete wie selbstverständlich zu verknüpfen. Überdies erzeugt Kopetzky durch geschickte Handlungsführung, Plot points und Rückblenden Spannung, evoziert ohne Angst vor Kitsch starke Gefühle. Durch sehr indirekte mythisch-märchenhafte Überhöhungen lädt er realistische Ereignisse romantisch auf.
So ist die eigentliche Besitzerin der Hochtemperaturöfen produzierenden Monschauer Firma Riether, in deren Belegschaft der erste Pockenfall auftritt, eine moderne, in Paris studierende Frau namens Vera. Sie liest Simone de Beauvoir, liebt den Cool Jazz und nach einigem gemeinsamen Schallplattenhören auch den jungen Nikos, der inzwischen als Betriebsarzt in der Rieterschen Industriellenvilla lebt. Als kleines Mädchen hatte Vera Kinderlähmung und musste immer im Haus bleiben, wo sie die kleine Bärbel, Tochter der Zugehfrau, betüdeln durfte. Eben diese gute Bärbel ist nun das zweite Pockenopfer in strenger Quarantäne im Krankenhaus von Monschau, in dem nur Dr. Stüttgen hinein- und hinausdarf.
Vera aber, voller Liebe und Hilfsbereitschaft, dringt heimlich ein und wird ihrerseits als Dauerinsassin isoliert, in einer Art gläsernem Turmzimmer. Der arme Nikos, der noch ein Date mit ihr offen hat, schlägt ihr vor, mit elektrischen Lichtzeichen zu kommunizieren, er selbst will durch wildes Schwenken eines benzindurchtränkten Lappens antworten. Erst durch diesen archaischen Zeichenaustausch begreifen die beiden, dass sie sich begehren. Zwei Königskinder. Allein das Wasser ist viel zu tief, die Quarantäne zu strikt, um zueinander zu kommen. Der Einzige, der zu Vera darf, ist Stüttgen in einem Vollkörpergummianzug, um ihre Wunden zu sehen.
Nikos ist unterdessen als veritabler Ritter unterwegs, in einer zum Virenschutz umgearbeiteten Stahlkochermontur besucht er Infizierte in ihren Häusern. So wird das auktorial als Märchenmotiv vorgestellt: „Das Bild, das wir vor uns sehen, gleicht einem Raumfahrer oder Roboter aus einer Zeichentrickserie, der in ein absurd klein erscheinendes Haus hineingeht, oder einem Dämon, der in das Häuschen schlüpft, wie er seine Riesengestalt auch als Rauch in eine Flasche hineinzuzwängen vermochte.“
Welche Möglichkeiten böten dieses Motiv der Totalisolation oder des Industrie- und Taucheranzugs, um eine ganz andere Wahrnehmung der Szene von ihrem Protagonisten aus zu eröffnen. Man denke kurz an den Industrietaucher in Christian Petzolds Film „Undine“. Eine Verzerrung des Blicks, eine Anamorphose, eine Welt der Angst vor der Natur, der Bedrohung durch die Technik und der stilistischen Eindringlichkeit. Doch genau diesen Schritt verweigert Steffen Kopetzky vorsätzlich. Er will seinen unterhaltsamen Textkörper reinhalten von allen Viren und Technoexperimenten. Er will sie zwar poetisch umschreiben, sie nah an uns heranführen, doch einen sprachlichen Übergang, eine literarische Mutante, wie sie die Mittel der modernen Literatur (außer Hemingway) ermöglichen, will er partout nicht erschaffen.
Nicht nur deshalb fällt seine Prosa in die Kategorie Gehobene Unterhaltung. Auch sein Umgang mit der Zeitgeschichte ist eher schematisch. Er arbeitet streng synchronistisch, als ob er einen Kulturatlas des jeweiligen Jahres ausschlachten würde. Das gilt für die Jahre 1944 und 1971 in „Propaganda“ wie für 1962 in „Monschau“. Anschläge der algerischen Befreiungsbewegung in Paris, die Folgen des Auschwitzprozess, des Mauerbaus, der schöne Kennedy, „Zwei kleine Italiener“ beim Grand Prix. Das Gegenstück zu dieser Form der Empirie ist der personalisierte geschichtsmoralische Universalismus, der von vornherein weiß, dass der Betrieb in Händen des alten Wehrmachtsoffiziers mit Zwangsarbeitern aufgebaut wurde, dass der gute Journalist von der Quick eben dieser verborgenen Schuld auf der Spur ist, dass die gute Erbin Vera neben ihrem Nicos nichts sehnlicher wünscht als ihre mächtige Firma in eine öffentliche Stiftung zu überführen, dass der große Heiler Dr. Stüttgen ein ums andere Mal den bösen Drachen von Natur und Geschichte besiegt.
Als Vorbereitung des Happyends lässt Kopetzky diesen Drachen nicht etwa grob erstechen, er filetiert ihn liebevoll, trägt seine Schuppen ab Stück für Stück. In „Propaganda“ reist der Erzähler John Glueck, der in Vietnam in ein Benzin- und Napalmbad gefallen ist, mit seinem schuppigen Gesamtkörper am Ende nach Deutschland, um sich vom berühmten Dermatologen Günter Stüttgen behandeln zu lassen. In „Monschau“ trägt besagter Dr. Stüttgen alle pockenentstellten Hautpartikel aus dem Gesicht der lieben Bärbel ab: „Es glückte, und alle Spuren von Variola wurden wie von Zauberhand von ihrer Haut getilgt. Bärbel Reue kehrte nach Hause zurück und führte fortan ein erfreulich gesundes Leben.“ - Ein Märchenende zweifellos.
Zuvor war Dr. Stüttgen übrigens noch beim Vortrag eines jungen Professors der Düsseldorfer Kunstakademie gewesen. „,Soziale Plastik‘ nannte der Mann seine Idee. In der Demokratie trage jeder Mensch nicht nur Verantwortung für die Gesellschaft, sondern er gestalte sie auch mit, wie der Bildhauer eine Skulptur.“ Alles Gute, Gott sei Dank, kommt aus dem Rheinland. Beuys und Stüttgen (übrigens auch der Name des langjährigen, dem Meister durchaus ähnelnden Beuys-Adlatus in der Akademie, Johannes Stüttgen), Heiler beide. Man kann nicht sagen, dass Steffen Kopetzky keinen rheinischen Humor habe, obwohl er aus Pfaffenhofen an der Ilm stammt. Es ist schon ein starkes Stück, was er da mit seinen beiden ineinander verzahnten Romanen vorgelegt hat. Wenn man ihn literaturgeschichtlich einordnen müsste: Auf der Skala historischer Abenteuerromane von Karl May über James Fenimore Cooper bis zu Joseph Conrad wäre er bei Cooper, nicht nur wegen seines exquisit tötenden letzten Irokesen im Eifeler Hürtgenwald 1944.
Auf einer Skala von Karl May über
Fenimore Cooper bis Joseph
Conrad: Wo steht da Kopetzky?
Rettung vor dem Virus: Schlangestehen für eine Pockenimpfung in Kulmbach, nachdem dort 1965 ein Fall aufgetaucht war.
Foto: AP
Steffen Kopetzky:
Monschau. Roman.
Rowohlt Berlin,
Berlin 2021. 352 Seiten,
22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Steffen Kopetzkys „Monschau“ erzählt von einer Pocken-Epidemie in der Nachkriegszeit.
Warum schreibt der Mann so erfolgreich gehobene Unterhaltungsromane?
VON HUBERT WINKELS
Pest und Pocken, das klingt schauderhaft, „Variola“ hingegen wie ein südeuropäischer Mädchenname. Mit dem Kapitel „Variola“ beginnt Steffen Kopetzkys Roman „Monschau“, es ist der wissenschaftliche Name des Pockenvirus, das in Deutschland 1962 ein letztes Mal in größerem Stil aktiv wurde. In der Nordeifel, an der belgischen Grenze, rund um das idyllische Monschau eben. Von der Variola-Bekämpfung handelt der Roman, aber auch von den Nachwehen der NS-Zeit in der Bundesrepublik, im historischen Hintergrund steht die letzte Abwehrschlacht gegen die westlichen Alliierten im nahen Hürtgenwald. Eine Menge Material verarbeitet Kopetzky wie in allen seinen Romanen. Er hat das „Gespür für den richtigen Stoff“, wie es im Roman einmal heißt, und das ist für Journalisten bekanntlich mehr als die halbe Miete. Für Schriftsteller hingegen fangen hier die wichtigen Fragen erst an.
In seinem erfolgreichen vorangegangenen Roman „Propaganda“ von 2019 folgt der Ich-Erzähler John Glueck, ein deutschstämmiger Amerikaner, Ernest Hemingway durch halb Frankreich bis in die Eifeler Gegend, weil er dessen Blick auf die kriegerische Welt von 1944 begreifen und ihn dabei porträtieren will für ein deutsches kriegsmüdes Publikum, das von der US-Luftwaffe mit Information über die aussichtslose Lage versorgt wird. Der Brandy saufende Hemingway versagt, und es ist eine nur halb versteckte Pointe, dass der geplante Roman über die brutale Schlacht im Hürtgenwald erst viele Jahr später entsteht, „Propaganda“ heißt, und von einem weniger dionysischen, dafür zeitgeschichtlich informierten und weltethisch engagierten deutschen Schriftsteller namens Steffen Kopetzky verfasst wird.
Worin also besteht sein „Gespür für den richtigen Stoff“? Um im Bild zu bleiben: Der Autor verstrickt sich in viele Geschichten und Erfahrungen und trachtet nach einem Zusammenhang der Fäden, die noch nicht in einem festen Sinngewebe aufgegangen sind. Für die schönste Art, zu solchen Verbindungen zu kommen, sorgt der Zufall, das Zusammenschließen aller Erzählfäden in einem besonderen Augenblick. Man muss diesen Moment aber auch bemerken. Steffen Kopetzky hat erzählt, wie ihn der Stoff seines neuen Romans erwischt hat: Eine Lesung aus seinem vorigen Roman hatte ihn im Februar 2020 in die Eifel geführt. Auf dem Weg zum Bahnhof hörte er die Meldung über den ersten Corona-Toten in Europa. Zugleich sah er ein Hinweisschild auf den Ort Monschau und erinnerte sich an die Worte der Witwe seines „Propaganda“-Helden Günter Stüttgen, der Militärarzt habe nach dem Krieg eine weitere segensreiche Arbeit geleistet, bei der Pockenepidemie in Monschau.
Jener Stüttgen, der es in „Propaganda“ fertig bringt inmitten der Schlachterei zwischen deutschen und amerikanischen Soldaten einen Waffenstillstand zu erzwingen, um die Verwundeten beider Seiten medizinisch zu versorgen, dieser humanistische Held reist in „Monschau“ von der Düsseldorfer medizinischen Akademie in die Eifel, um die Pocken zu bekämpfen. Er trifft auf einige Widerstände, vor allem des Geschäftsführers der größten Industriefirma vor Ort, Richard Seuss, der 1944 mit Durchhaltebefehlen eine Festung in der Normandie dem Untergang preisgegeben hatte. Dessen Adjutant Max Lembke, im Pockenjahr 1962 als sein Fahrer tätig, war in der Hürtgenwaldschlacht Baumschütze, ein Waldsniper, der anrückende Amis erschoss. Am Ende von „Monschau“ sitzt er wieder im Baum und will im Auftrag von Seuss den über-alles-guten Günter Stüttgen erschießen. Nicht wegen der Pockenbekämpfung, wofür es auch Gründe gäbe, sondern wegen seiner Befehlsverweigerung im Krieg, wegen seines Bestehens auf Einhaltung der Genfer Konvention.
Tatsächlich sind in „Monschau“ die Bezüge zum Weltkrieg und der frühen Bundesrepublik nicht weniger wichtig als die Pockengeschichte, die davon handelt, wie Stüttgen und sein griechischstämmiger Assistent Nikos Spyridakis das Virus bekämpfen. Die besondere Kunstfertigkeit besteht darin, die beiden Stoffgebiete wie selbstverständlich zu verknüpfen. Überdies erzeugt Kopetzky durch geschickte Handlungsführung, Plot points und Rückblenden Spannung, evoziert ohne Angst vor Kitsch starke Gefühle. Durch sehr indirekte mythisch-märchenhafte Überhöhungen lädt er realistische Ereignisse romantisch auf.
So ist die eigentliche Besitzerin der Hochtemperaturöfen produzierenden Monschauer Firma Riether, in deren Belegschaft der erste Pockenfall auftritt, eine moderne, in Paris studierende Frau namens Vera. Sie liest Simone de Beauvoir, liebt den Cool Jazz und nach einigem gemeinsamen Schallplattenhören auch den jungen Nikos, der inzwischen als Betriebsarzt in der Rieterschen Industriellenvilla lebt. Als kleines Mädchen hatte Vera Kinderlähmung und musste immer im Haus bleiben, wo sie die kleine Bärbel, Tochter der Zugehfrau, betüdeln durfte. Eben diese gute Bärbel ist nun das zweite Pockenopfer in strenger Quarantäne im Krankenhaus von Monschau, in dem nur Dr. Stüttgen hinein- und hinausdarf.
Vera aber, voller Liebe und Hilfsbereitschaft, dringt heimlich ein und wird ihrerseits als Dauerinsassin isoliert, in einer Art gläsernem Turmzimmer. Der arme Nikos, der noch ein Date mit ihr offen hat, schlägt ihr vor, mit elektrischen Lichtzeichen zu kommunizieren, er selbst will durch wildes Schwenken eines benzindurchtränkten Lappens antworten. Erst durch diesen archaischen Zeichenaustausch begreifen die beiden, dass sie sich begehren. Zwei Königskinder. Allein das Wasser ist viel zu tief, die Quarantäne zu strikt, um zueinander zu kommen. Der Einzige, der zu Vera darf, ist Stüttgen in einem Vollkörpergummianzug, um ihre Wunden zu sehen.
Nikos ist unterdessen als veritabler Ritter unterwegs, in einer zum Virenschutz umgearbeiteten Stahlkochermontur besucht er Infizierte in ihren Häusern. So wird das auktorial als Märchenmotiv vorgestellt: „Das Bild, das wir vor uns sehen, gleicht einem Raumfahrer oder Roboter aus einer Zeichentrickserie, der in ein absurd klein erscheinendes Haus hineingeht, oder einem Dämon, der in das Häuschen schlüpft, wie er seine Riesengestalt auch als Rauch in eine Flasche hineinzuzwängen vermochte.“
Welche Möglichkeiten böten dieses Motiv der Totalisolation oder des Industrie- und Taucheranzugs, um eine ganz andere Wahrnehmung der Szene von ihrem Protagonisten aus zu eröffnen. Man denke kurz an den Industrietaucher in Christian Petzolds Film „Undine“. Eine Verzerrung des Blicks, eine Anamorphose, eine Welt der Angst vor der Natur, der Bedrohung durch die Technik und der stilistischen Eindringlichkeit. Doch genau diesen Schritt verweigert Steffen Kopetzky vorsätzlich. Er will seinen unterhaltsamen Textkörper reinhalten von allen Viren und Technoexperimenten. Er will sie zwar poetisch umschreiben, sie nah an uns heranführen, doch einen sprachlichen Übergang, eine literarische Mutante, wie sie die Mittel der modernen Literatur (außer Hemingway) ermöglichen, will er partout nicht erschaffen.
Nicht nur deshalb fällt seine Prosa in die Kategorie Gehobene Unterhaltung. Auch sein Umgang mit der Zeitgeschichte ist eher schematisch. Er arbeitet streng synchronistisch, als ob er einen Kulturatlas des jeweiligen Jahres ausschlachten würde. Das gilt für die Jahre 1944 und 1971 in „Propaganda“ wie für 1962 in „Monschau“. Anschläge der algerischen Befreiungsbewegung in Paris, die Folgen des Auschwitzprozess, des Mauerbaus, der schöne Kennedy, „Zwei kleine Italiener“ beim Grand Prix. Das Gegenstück zu dieser Form der Empirie ist der personalisierte geschichtsmoralische Universalismus, der von vornherein weiß, dass der Betrieb in Händen des alten Wehrmachtsoffiziers mit Zwangsarbeitern aufgebaut wurde, dass der gute Journalist von der Quick eben dieser verborgenen Schuld auf der Spur ist, dass die gute Erbin Vera neben ihrem Nicos nichts sehnlicher wünscht als ihre mächtige Firma in eine öffentliche Stiftung zu überführen, dass der große Heiler Dr. Stüttgen ein ums andere Mal den bösen Drachen von Natur und Geschichte besiegt.
Als Vorbereitung des Happyends lässt Kopetzky diesen Drachen nicht etwa grob erstechen, er filetiert ihn liebevoll, trägt seine Schuppen ab Stück für Stück. In „Propaganda“ reist der Erzähler John Glueck, der in Vietnam in ein Benzin- und Napalmbad gefallen ist, mit seinem schuppigen Gesamtkörper am Ende nach Deutschland, um sich vom berühmten Dermatologen Günter Stüttgen behandeln zu lassen. In „Monschau“ trägt besagter Dr. Stüttgen alle pockenentstellten Hautpartikel aus dem Gesicht der lieben Bärbel ab: „Es glückte, und alle Spuren von Variola wurden wie von Zauberhand von ihrer Haut getilgt. Bärbel Reue kehrte nach Hause zurück und führte fortan ein erfreulich gesundes Leben.“ - Ein Märchenende zweifellos.
Zuvor war Dr. Stüttgen übrigens noch beim Vortrag eines jungen Professors der Düsseldorfer Kunstakademie gewesen. „,Soziale Plastik‘ nannte der Mann seine Idee. In der Demokratie trage jeder Mensch nicht nur Verantwortung für die Gesellschaft, sondern er gestalte sie auch mit, wie der Bildhauer eine Skulptur.“ Alles Gute, Gott sei Dank, kommt aus dem Rheinland. Beuys und Stüttgen (übrigens auch der Name des langjährigen, dem Meister durchaus ähnelnden Beuys-Adlatus in der Akademie, Johannes Stüttgen), Heiler beide. Man kann nicht sagen, dass Steffen Kopetzky keinen rheinischen Humor habe, obwohl er aus Pfaffenhofen an der Ilm stammt. Es ist schon ein starkes Stück, was er da mit seinen beiden ineinander verzahnten Romanen vorgelegt hat. Wenn man ihn literaturgeschichtlich einordnen müsste: Auf der Skala historischer Abenteuerromane von Karl May über James Fenimore Cooper bis zu Joseph Conrad wäre er bei Cooper, nicht nur wegen seines exquisit tötenden letzten Irokesen im Eifeler Hürtgenwald 1944.
Auf einer Skala von Karl May über
Fenimore Cooper bis Joseph
Conrad: Wo steht da Kopetzky?
Rettung vor dem Virus: Schlangestehen für eine Pockenimpfung in Kulmbach, nachdem dort 1965 ein Fall aufgetaucht war.
Foto: AP
Steffen Kopetzky:
Monschau. Roman.
Rowohlt Berlin,
Berlin 2021. 352 Seiten,
22 Euro.
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In satten Farben erzählt ... Brandaktuell. Rose-Maria Gropp Frankfurter Allgemeine Zeitung 20210313