Ahnenforschung beim Großen der deutschen LiteraturEs scheint kaum möglich: Der unumgängliche Koloss der deutschen Dichtung, dessen Leben, Schreiben und Wirken den Germanisten und Biografen seit beinahe 200 Jahren offen liegt, verfügt noch über schwarze Stellen in seiner Genealogie. Am 6. September 1657 wurde im thüringischen Dorf Kannawurf Friedrich Georg Göthe getauft. Der Sohn eines Hufschmieds blieb nicht in Thüringen und wurde, anders als vier seiner Brüder, auch nicht Schmied. Friedrich Georg lernte das Schneiderhandwerk und suchte sein Glück als wandernder Geselle. Er war neugierig und tüchtig. Die neueste Mode und die besten Stoffe fand er in der Seidenstadt Lyon. Damit die Franzosen sein "e" nicht verschluckten, setzte er einen Akzent darauf und nannte sich fortan Göthé. Er kam von Lyon über Paris nach Frankfurt am Main, wo er die Tochter eines Schneidermeisters heiratete und wurde zu einem der wohlhabendsten Bürger Frankfurts. Das vererbte Vermögen reichte auch für den Enkel Johann Wolfgang, der davon ein gutes Leben als Student führen konnte, von ihm, dem Seidenschneider und Aufsteiger Göthé, aber nicht abstammen wollte. Allen Enkelstolz übertrug er auf die Textor-, die mütterliche Linie. Die maßgeblichen Biographen machten die Verdunkelung der väterlichen Seite mit. In nachgetragener Gerechtigkeit beleuchtet das Autorentrio Boehncke, Sarkowicz und Seng einen großen Unbekannten seines Stammbaums und fördern schöne Geschichten aus dem Leben des umtriebigen Schneidermeisters Göthé ans Licht, dessen Gerissenheit seinem Urenkel den Weg zum Klassiker ebnete.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.09.2017Das Skelett in Goethes Schrank
Man muss schon so souverän sein wie die Kardashians, um zu den Niederungen des eigenen Lebens zu stehen. Goethe war es nicht. Er verschwieg seinen Großvater, der es als Damenschneider und Gastwirt zu etwas gebracht hatte.
Von Florian Balke
Sage mir, wie du über deine Familie redest, und ich sage dir, ob dir etwas an ihr peinlich ist. Beweisstück A: Goethe. So sparsame Worte hat der Dichter, ein Meister des wohlbedachten Ausplauderns, über seinen Großvater väterlicherseits verloren, dass man getrost davon ausgehen kann, er habe ihn der Nachwelt vorenthalten wollen.
Er hatte es den Lesern seiner Autobiographie ja schon in ihrem Titel mitgeteilt, dass sie neben Fetzen der Wirklichkeit auch ein gerüttelt Maß an Erfindung und Verschwiegenheit enthalten würde. "Aus meinem Leben - Dichtung und Wahrheit" hieß das Buch, in dem der Autor sich nach 1809 von Weimar aus an sein bewegtes Leben zurückerinnerte. Im ersten Teil, der 1811 erschien, macht Goethe, wenn es um Herkunft und Aufwachsen in Frankfurt geht, über die Verwandten seiner Mutter einige, über seinen Vater und dessen Vorfahren jedoch nur möglichst ausgewählte Angaben.
Schon Johann Caspar Goethe, der wohlhabende, trotz einer Italien-Reise unkünstlerisch gebliebene Bürger und Kaiserliche Rat, hat es schwer im Urteil des schreibenden Sohnes. Das gilt erst recht für Friedrich Georg Göthe, den Vater des Vaters, der aus kleinen Verhältnissen in Thüringen stammt, sich mit "ö"schreibt und sein Geld als erfolgreicher Damenschneider und Gastwirt verdient hat. Überaus erfolgreich: Als er sich 1686 in Frankfurt niederlässt, gehört er zur niedrigsten Steuerklasse, Jahrzehnte später besitzt er ein Vermögen von 15 000 Gulden und zählt zur höchsten.
Von diesem Mann, der mit nichts begonnen und etwas aus sich gemacht hat, stammt das Vermögen, das es Johann Caspar erlaubt, sich als wohlhabender, gutausgebildeter und kultivierter Rentier neu zu erfinden und Johann Wolfgang später die Sicherheit gibt, sich als Künstler noch radikaler von seiner Herkunft zu verabschieden.
In dieser Eigenschaft sind die Nachkommen dem Großvater nicht unähnlich. Am 6. September 1657 kommt Friedrich Georg im thüringischen Kannawurf zur Welt, er wächst in Artern auf, einem ebenso unbedeutenden Nachbarort. Von dort aus macht er sich als Jugendlicher auf Wanderschaft und tingelt als Geselle durch das Heilige Römische Reich. 1681 erreicht er die Seidenstadt Lyon, in der er bleibt, bis Ludwig XIV. vier Jahre später die Protestanten aus Frankreich vertreibt. Göthé mit Akzent nennt der Großvater sich, als er nach seiner Flucht am Main neu anfängt. Frankreich ist schließlich schon damals trotz der religiösen Intoleranz des Königs das gelobte Land der Damenmode. "Monsieur Göthé" heißt auch das Buch, das Joachim Seng, Leiter der Bibliothek des Frankfurter Goethehauses, zusammen mit zwei weiteren Autoren geschrieben hat und am Dienstag vorstellt. Er, Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz, allesamt geübte Literaturdetektive, sind den Spuren Friedrich Georgs, der 1730 in Frankfurt starb, noch einmal genauer nachgegangen.
Sie haben ein fast vergessenes Schwarzweißfoto wiedergefunden, das in den zwanziger Jahren gemacht wurde und ein seitdem verschollenes Ölbild zeigt, auf dem Friedrich Georg zu sehen sein könnte, von dem kein gesichertes Porträt existiert. Und haben den Prozess studiert, den Göthe gegen die in Frankfurt hochangesehene Familie Textor führt, der vielen unbezahlten Rechnungen wegen. Unter den staubigen Akten des Reichskammergerichts, zwischen denen der Enkel Johann Wolfgang später die Lust an der Juristerei verliert, liegen zu dessen Studienzeit noch die Papiere, denen er entnehmen kann, wie sein Großvater väterlicherseits gegen seinen Ururgroßvater mütterlicherseits vorging. Sein Geld bekam Göthe übrigens nicht. Die Sache blieb, wie so vieles am berüchtigt langsamen Wetzlarer Gericht, unerledigt liegen.
Was für eine Geschichte hätte der Enkel aus diesem Material formen können! Aber Goethe verzichtet. Vielleicht wollte er nicht, dass in Weimar bekannt wurde, der Großvater des Ministers habe in einer nicht allzu weit entfernten Schmiede gehaust. Oder es irritiert ihn, dass der Vorfahr ein halbes Jahrhundert vor seiner eigenen Geburt als Schneider der Textors ein Domestike der Familie seiner Mutter gewesen ist. Erzählenswert aber ist die Geschichte bis heute geblieben. Sowohl die, wie man um 1700 als Selfmademan lebt, als auch die, wie man nach 1800 als Dichter sein Leben neu zuschneidert.
Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz und Joachim Seng: "Monsieur Göthé - Goethes unbekannter Großvater". Die Andere Bibliothek, Berlin 2017. 479 Seiten, zahlreiche, zum Teil farbige Illustrationen. 42 Euro. Vorgestellt wird das Buch am Dienstag von 19 Uhr an im Frankfurter Goethehaus, Großer Hirschgraben 23-25.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Man muss schon so souverän sein wie die Kardashians, um zu den Niederungen des eigenen Lebens zu stehen. Goethe war es nicht. Er verschwieg seinen Großvater, der es als Damenschneider und Gastwirt zu etwas gebracht hatte.
Von Florian Balke
Sage mir, wie du über deine Familie redest, und ich sage dir, ob dir etwas an ihr peinlich ist. Beweisstück A: Goethe. So sparsame Worte hat der Dichter, ein Meister des wohlbedachten Ausplauderns, über seinen Großvater väterlicherseits verloren, dass man getrost davon ausgehen kann, er habe ihn der Nachwelt vorenthalten wollen.
Er hatte es den Lesern seiner Autobiographie ja schon in ihrem Titel mitgeteilt, dass sie neben Fetzen der Wirklichkeit auch ein gerüttelt Maß an Erfindung und Verschwiegenheit enthalten würde. "Aus meinem Leben - Dichtung und Wahrheit" hieß das Buch, in dem der Autor sich nach 1809 von Weimar aus an sein bewegtes Leben zurückerinnerte. Im ersten Teil, der 1811 erschien, macht Goethe, wenn es um Herkunft und Aufwachsen in Frankfurt geht, über die Verwandten seiner Mutter einige, über seinen Vater und dessen Vorfahren jedoch nur möglichst ausgewählte Angaben.
Schon Johann Caspar Goethe, der wohlhabende, trotz einer Italien-Reise unkünstlerisch gebliebene Bürger und Kaiserliche Rat, hat es schwer im Urteil des schreibenden Sohnes. Das gilt erst recht für Friedrich Georg Göthe, den Vater des Vaters, der aus kleinen Verhältnissen in Thüringen stammt, sich mit "ö"schreibt und sein Geld als erfolgreicher Damenschneider und Gastwirt verdient hat. Überaus erfolgreich: Als er sich 1686 in Frankfurt niederlässt, gehört er zur niedrigsten Steuerklasse, Jahrzehnte später besitzt er ein Vermögen von 15 000 Gulden und zählt zur höchsten.
Von diesem Mann, der mit nichts begonnen und etwas aus sich gemacht hat, stammt das Vermögen, das es Johann Caspar erlaubt, sich als wohlhabender, gutausgebildeter und kultivierter Rentier neu zu erfinden und Johann Wolfgang später die Sicherheit gibt, sich als Künstler noch radikaler von seiner Herkunft zu verabschieden.
In dieser Eigenschaft sind die Nachkommen dem Großvater nicht unähnlich. Am 6. September 1657 kommt Friedrich Georg im thüringischen Kannawurf zur Welt, er wächst in Artern auf, einem ebenso unbedeutenden Nachbarort. Von dort aus macht er sich als Jugendlicher auf Wanderschaft und tingelt als Geselle durch das Heilige Römische Reich. 1681 erreicht er die Seidenstadt Lyon, in der er bleibt, bis Ludwig XIV. vier Jahre später die Protestanten aus Frankreich vertreibt. Göthé mit Akzent nennt der Großvater sich, als er nach seiner Flucht am Main neu anfängt. Frankreich ist schließlich schon damals trotz der religiösen Intoleranz des Königs das gelobte Land der Damenmode. "Monsieur Göthé" heißt auch das Buch, das Joachim Seng, Leiter der Bibliothek des Frankfurter Goethehauses, zusammen mit zwei weiteren Autoren geschrieben hat und am Dienstag vorstellt. Er, Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz, allesamt geübte Literaturdetektive, sind den Spuren Friedrich Georgs, der 1730 in Frankfurt starb, noch einmal genauer nachgegangen.
Sie haben ein fast vergessenes Schwarzweißfoto wiedergefunden, das in den zwanziger Jahren gemacht wurde und ein seitdem verschollenes Ölbild zeigt, auf dem Friedrich Georg zu sehen sein könnte, von dem kein gesichertes Porträt existiert. Und haben den Prozess studiert, den Göthe gegen die in Frankfurt hochangesehene Familie Textor führt, der vielen unbezahlten Rechnungen wegen. Unter den staubigen Akten des Reichskammergerichts, zwischen denen der Enkel Johann Wolfgang später die Lust an der Juristerei verliert, liegen zu dessen Studienzeit noch die Papiere, denen er entnehmen kann, wie sein Großvater väterlicherseits gegen seinen Ururgroßvater mütterlicherseits vorging. Sein Geld bekam Göthe übrigens nicht. Die Sache blieb, wie so vieles am berüchtigt langsamen Wetzlarer Gericht, unerledigt liegen.
Was für eine Geschichte hätte der Enkel aus diesem Material formen können! Aber Goethe verzichtet. Vielleicht wollte er nicht, dass in Weimar bekannt wurde, der Großvater des Ministers habe in einer nicht allzu weit entfernten Schmiede gehaust. Oder es irritiert ihn, dass der Vorfahr ein halbes Jahrhundert vor seiner eigenen Geburt als Schneider der Textors ein Domestike der Familie seiner Mutter gewesen ist. Erzählenswert aber ist die Geschichte bis heute geblieben. Sowohl die, wie man um 1700 als Selfmademan lebt, als auch die, wie man nach 1800 als Dichter sein Leben neu zuschneidert.
Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz und Joachim Seng: "Monsieur Göthé - Goethes unbekannter Großvater". Die Andere Bibliothek, Berlin 2017. 479 Seiten, zahlreiche, zum Teil farbige Illustrationen. 42 Euro. Vorgestellt wird das Buch am Dienstag von 19 Uhr an im Frankfurter Goethehaus, Großer Hirschgraben 23-25.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.10.2017Aufstieg einer Familie
Geschäftserfolg und Bildung: Ein herrlich anschauliches, faktenreiches Geschichtsbuch zeigt, wie der kaum bekannte
Friedrich Georg Göthé die Grundlagen für die Laufbahn seines Enkels Johann Wolfgang Goethe schuf
VON GUSTAV SEIBT
Als er sich 1687 in Frankfurt am Main als Schneidermeister niederließ, versteuerte Goethes Großvater Friedrich Georg ein Vermögen von etwa 15 000 Euro. Bei seinem Tod im Jahr 1730 betrugen die Aktiva, also das reine Barvermögen samt Außenständen, etwa 4,5 Millionen Euro. Solche Umrechnungen sind natürlich nur vage Analogien, doch lassen sie die Proportionen erkennen. Dazu kamen Grundbesitz, ein wertvoller Weinkeller, allerlei kostbare „fahrende Habe“. Nicht eingerechnet ist das Vermögen von Friedrich Georgs zweiter Ehefrau Cornelia, verwitwete Schellhorn, die 1705 den an der Zeil gelegenen „Weidenhof“ in die Ehe eingebracht hatte und selbständige Eignerin blieb.
Der Gasthof war das vierte Haus am Platz in der Reichs- und Messestadt, die nicht nur bei Kaiserkrönungen von internationalem Publikum überlaufen war. Johann Caspar Goethe, der Vater des Dichters, startete als reicher Mann ins Leben. Da der Vater ihn studieren und promovieren ließ, konnte er in den obersten von fünf Ständen der Reichsstadt aufrücken. Sein Vater hatte fast ganz unten, im vierten Stand begonnen. Ein rapider Aufstieg in nur dreißig Jahren, gegründet auf geschäftlichen Erfolg, abgeschlossen durch Bildung.
Diese Geschichte war in den Umrissen seit Langem bekannt, obwohl Goethe selbst sie in seiner Autobiografie kaum andeutet. 1827 behauptete er gegenüber Eckermann, das Adelsdiplom, das ihm sein Herzog beim Kaiser in Wien beschafft hatte, um ihn hoffähig zu machen, sei ihm „nichts, gar nichts!“ gewesen: „Wir Frankfurter Patrizier hielten uns immer dem Adel gleich.“ Aber Goethe war kein Patrizier, nur der Vater seiner Mutter, der Schultheiß Textor, kann als solcher gelten. Frankfurt war eine ständisch vermauerte Stadt, da kam man als Damenschneider und Gastwirt nicht so leicht in die besten Kreise, selbst wenn man schwerreich war. Erst ein Bildungspatent eröffnete den Weg an die Spitze, aber noch immer nicht in die beiden Patriziergesellschaften Limpurg und Frauenstein.
Schneider und dann Gastwirt, das war Friedrich Georg, der Großvater von Vaterseite, der sich seit einem mehrjährigen Aufenthalt in der Seidenstadt Lyon elegant „Göthé“ schrieb. Die Göthes kamen aus Thüringen, Friedrich Georg wurde 1657 im bettelarmen Artern am Kyffhäuser als Sohn eines Hufschmieds geboren, nur 50 Kilometer von Weimar entfernt. Die latinisierende Version mit „oe“ setzte erst Goethes Vater, der studierte Jurist, endgültig durch. Verwandte des Weimarer Ministers lebten in Artern noch zu seinen Lebzeiten – der Weltberühmte kümmerte sich wenig um sie. All das blättert ein herrliches, mit Fakten und Anschauung prall gefülltes Geschichtsbuch auf, das als Biografie Göthés, des Großvaters, daherkommt, aber viel mehr ist: Geschichte des Goetheschen Familienvermögens, des Schneiderhandwerks im Alten Reich, der Handels- und Modebeziehungen zwischen Frankreich und Deutschland, der Verfassung Frankfurts, auch von Goethes durchaus liebevollem Verhältnis zum Handwerkerstand, dem er eine eigene Weltweisheit zuschrieb.
Und anders geht es nicht, denn von Friedrich Georg Göthé weiß man wenig, obwohl er für einen durchschnittlichen Menschen der frühen Neuzeit recht gut dokumentiert ist, unter anderem weil er bei seinem aufwendigen Begräbnis einen Nekrolog erhielt, der auch gedruckt wurde. Dazu kommen berufliche Quellen, Rechnungen, Prozessakten, das Testament, nicht zuletzt Frankfurter Bürgerakten. Daraus lässt sich, wenn man vergleichend das Typische heranzieht, ein exemplarischer Lebenslauf zusammenstellen. Historiker sind dankbar für solche Fallstudien, dafür nehmen sie auch Analogieschlüsse und Vermutungen in Kauf.
Göthés lebensentscheidende Station war der vermutlich vierjährige Aufenthalt in Lyon, den die religiöse Vertreibungspolitik Ludwigs XIV. 1685 beendete. Ihm verdankte Göthé das kulturelle und handwerkliche Kapital, das ihn seit 1687 einen ökonomischen Blitzstart in Frankfurt am Main hinlegen ließ. Sofort arbeitete der aus den Zentren des Luxus kommende Couturier für benachbarte Höfe wie den Hessen-Darmstädtischen. Bald musste er sich mit dem Magistrat anlegen, weil er die Obergrenze für Gesellen im streng reglementierten Zunftregime nicht einhalten konnte. Selbst hohe unbezahlte Rechnungen, ausgerechnet von der Familie Textor, in die sein Enkel später einheiratete, konnten ihn nicht aus der Bahn werfen – den jahrelangen Prozess dazu schildert das Buch minutiös.
Hat Goethe diese unpatrizische Seite seiner Familie, von der das Geld, aber nicht die Vornehmheit kam, verleugnet? Da sein Großvater 19 Jahre vor seiner Geburt starb, muss man das nicht unterstellen. Allerdings hat sich schon Goethes Vater eine eigene Welt aus Kunst und Wissenschaft errichtet, in dem großzügigen Haus, das er nach dem Tod seiner Mutter zu einem kleinen Stadtpalast umbaute. Der Hirschgraben wurde eine Art Buddenbrook-Haus, wo das Vermögen der Vorfahren behaglich verzehrt wurde – Johann Caspar Goethe hatte jährliche Zinseinnahmen, die die höchsten Gehälter der Stadt um ein Drittel überstiegen und konnte als „Privatier“ seine gesamte Energie auf ein einziges Projekt verlegen: die Erziehung seiner Kinder. Selten war eine Anstrengung so erfolgreich. Die Spannung von bürgerlichem Beruf und Selbstverwirklichung wurde später zum Thema der Wilhelm-Meister-Romane.
Das Buch der drei Autoren Boehncke, Sarkowicz und Seng glänzt durch Anschauung, die die Welt, in der Johann Wolfgang Goethe aufwuchs, in allen Details ausleuchtet. Sie war sehr anders als die heutige. An der Frankfurter Hauptwache, wenige Schritte von Goethes Elternhaus, fanden auch die öffentlichen Bestrafungen statt. Hier konnten Bürger sich aktiv beteiligen, nämlich beim Drehen des sogenannten Trillerhäuschens. Das war ein aufgehängter Käfig, in den vor allem Felddiebe gesperrt wurden. Jeder durfte den Käfig so lange „trillern“, also drehen, bis die Insassen sich übergeben mussten. Die Autoren sprechen von „Mitmachfolter“. Sie wurde erst 1779 abgeschafft, als Goethe in Weimar an seiner „Iphigenie“ schrieb.
Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz, Joachim Seng: Monsier Göthé. Goethes unbekannter Großvater. Die Andere Bibliothek, Berlin 2017. 478 S., 42 Euro.
Der große Goethe-
Forschers Ernst Beutler vermutete, dass dieses Porträt Friedrich Georg Göthé zeigt. Einen Beleg dafür gibt es nicht.
Abb. aus dem bespr. Band
Der Vermutung des
Goethe-Forschers Ernst Beutler zufolge zeigt dieses Porträt Cornelia, die zweite Ehefrau
Friedrich Georg Göthés.
Abb. aus dem bespr Band
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Geschäftserfolg und Bildung: Ein herrlich anschauliches, faktenreiches Geschichtsbuch zeigt, wie der kaum bekannte
Friedrich Georg Göthé die Grundlagen für die Laufbahn seines Enkels Johann Wolfgang Goethe schuf
VON GUSTAV SEIBT
Als er sich 1687 in Frankfurt am Main als Schneidermeister niederließ, versteuerte Goethes Großvater Friedrich Georg ein Vermögen von etwa 15 000 Euro. Bei seinem Tod im Jahr 1730 betrugen die Aktiva, also das reine Barvermögen samt Außenständen, etwa 4,5 Millionen Euro. Solche Umrechnungen sind natürlich nur vage Analogien, doch lassen sie die Proportionen erkennen. Dazu kamen Grundbesitz, ein wertvoller Weinkeller, allerlei kostbare „fahrende Habe“. Nicht eingerechnet ist das Vermögen von Friedrich Georgs zweiter Ehefrau Cornelia, verwitwete Schellhorn, die 1705 den an der Zeil gelegenen „Weidenhof“ in die Ehe eingebracht hatte und selbständige Eignerin blieb.
Der Gasthof war das vierte Haus am Platz in der Reichs- und Messestadt, die nicht nur bei Kaiserkrönungen von internationalem Publikum überlaufen war. Johann Caspar Goethe, der Vater des Dichters, startete als reicher Mann ins Leben. Da der Vater ihn studieren und promovieren ließ, konnte er in den obersten von fünf Ständen der Reichsstadt aufrücken. Sein Vater hatte fast ganz unten, im vierten Stand begonnen. Ein rapider Aufstieg in nur dreißig Jahren, gegründet auf geschäftlichen Erfolg, abgeschlossen durch Bildung.
Diese Geschichte war in den Umrissen seit Langem bekannt, obwohl Goethe selbst sie in seiner Autobiografie kaum andeutet. 1827 behauptete er gegenüber Eckermann, das Adelsdiplom, das ihm sein Herzog beim Kaiser in Wien beschafft hatte, um ihn hoffähig zu machen, sei ihm „nichts, gar nichts!“ gewesen: „Wir Frankfurter Patrizier hielten uns immer dem Adel gleich.“ Aber Goethe war kein Patrizier, nur der Vater seiner Mutter, der Schultheiß Textor, kann als solcher gelten. Frankfurt war eine ständisch vermauerte Stadt, da kam man als Damenschneider und Gastwirt nicht so leicht in die besten Kreise, selbst wenn man schwerreich war. Erst ein Bildungspatent eröffnete den Weg an die Spitze, aber noch immer nicht in die beiden Patriziergesellschaften Limpurg und Frauenstein.
Schneider und dann Gastwirt, das war Friedrich Georg, der Großvater von Vaterseite, der sich seit einem mehrjährigen Aufenthalt in der Seidenstadt Lyon elegant „Göthé“ schrieb. Die Göthes kamen aus Thüringen, Friedrich Georg wurde 1657 im bettelarmen Artern am Kyffhäuser als Sohn eines Hufschmieds geboren, nur 50 Kilometer von Weimar entfernt. Die latinisierende Version mit „oe“ setzte erst Goethes Vater, der studierte Jurist, endgültig durch. Verwandte des Weimarer Ministers lebten in Artern noch zu seinen Lebzeiten – der Weltberühmte kümmerte sich wenig um sie. All das blättert ein herrliches, mit Fakten und Anschauung prall gefülltes Geschichtsbuch auf, das als Biografie Göthés, des Großvaters, daherkommt, aber viel mehr ist: Geschichte des Goetheschen Familienvermögens, des Schneiderhandwerks im Alten Reich, der Handels- und Modebeziehungen zwischen Frankreich und Deutschland, der Verfassung Frankfurts, auch von Goethes durchaus liebevollem Verhältnis zum Handwerkerstand, dem er eine eigene Weltweisheit zuschrieb.
Und anders geht es nicht, denn von Friedrich Georg Göthé weiß man wenig, obwohl er für einen durchschnittlichen Menschen der frühen Neuzeit recht gut dokumentiert ist, unter anderem weil er bei seinem aufwendigen Begräbnis einen Nekrolog erhielt, der auch gedruckt wurde. Dazu kommen berufliche Quellen, Rechnungen, Prozessakten, das Testament, nicht zuletzt Frankfurter Bürgerakten. Daraus lässt sich, wenn man vergleichend das Typische heranzieht, ein exemplarischer Lebenslauf zusammenstellen. Historiker sind dankbar für solche Fallstudien, dafür nehmen sie auch Analogieschlüsse und Vermutungen in Kauf.
Göthés lebensentscheidende Station war der vermutlich vierjährige Aufenthalt in Lyon, den die religiöse Vertreibungspolitik Ludwigs XIV. 1685 beendete. Ihm verdankte Göthé das kulturelle und handwerkliche Kapital, das ihn seit 1687 einen ökonomischen Blitzstart in Frankfurt am Main hinlegen ließ. Sofort arbeitete der aus den Zentren des Luxus kommende Couturier für benachbarte Höfe wie den Hessen-Darmstädtischen. Bald musste er sich mit dem Magistrat anlegen, weil er die Obergrenze für Gesellen im streng reglementierten Zunftregime nicht einhalten konnte. Selbst hohe unbezahlte Rechnungen, ausgerechnet von der Familie Textor, in die sein Enkel später einheiratete, konnten ihn nicht aus der Bahn werfen – den jahrelangen Prozess dazu schildert das Buch minutiös.
Hat Goethe diese unpatrizische Seite seiner Familie, von der das Geld, aber nicht die Vornehmheit kam, verleugnet? Da sein Großvater 19 Jahre vor seiner Geburt starb, muss man das nicht unterstellen. Allerdings hat sich schon Goethes Vater eine eigene Welt aus Kunst und Wissenschaft errichtet, in dem großzügigen Haus, das er nach dem Tod seiner Mutter zu einem kleinen Stadtpalast umbaute. Der Hirschgraben wurde eine Art Buddenbrook-Haus, wo das Vermögen der Vorfahren behaglich verzehrt wurde – Johann Caspar Goethe hatte jährliche Zinseinnahmen, die die höchsten Gehälter der Stadt um ein Drittel überstiegen und konnte als „Privatier“ seine gesamte Energie auf ein einziges Projekt verlegen: die Erziehung seiner Kinder. Selten war eine Anstrengung so erfolgreich. Die Spannung von bürgerlichem Beruf und Selbstverwirklichung wurde später zum Thema der Wilhelm-Meister-Romane.
Das Buch der drei Autoren Boehncke, Sarkowicz und Seng glänzt durch Anschauung, die die Welt, in der Johann Wolfgang Goethe aufwuchs, in allen Details ausleuchtet. Sie war sehr anders als die heutige. An der Frankfurter Hauptwache, wenige Schritte von Goethes Elternhaus, fanden auch die öffentlichen Bestrafungen statt. Hier konnten Bürger sich aktiv beteiligen, nämlich beim Drehen des sogenannten Trillerhäuschens. Das war ein aufgehängter Käfig, in den vor allem Felddiebe gesperrt wurden. Jeder durfte den Käfig so lange „trillern“, also drehen, bis die Insassen sich übergeben mussten. Die Autoren sprechen von „Mitmachfolter“. Sie wurde erst 1779 abgeschafft, als Goethe in Weimar an seiner „Iphigenie“ schrieb.
Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz, Joachim Seng: Monsier Göthé. Goethes unbekannter Großvater. Die Andere Bibliothek, Berlin 2017. 478 S., 42 Euro.
Der große Goethe-
Forschers Ernst Beutler vermutete, dass dieses Porträt Friedrich Georg Göthé zeigt. Einen Beleg dafür gibt es nicht.
Abb. aus dem bespr. Band
Der Vermutung des
Goethe-Forschers Ernst Beutler zufolge zeigt dieses Porträt Cornelia, die zweite Ehefrau
Friedrich Georg Göthés.
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