Ahnenforschung beim Großen der deutschen LiteraturEs scheint kaum möglich: Der unumgängliche Koloss der deutschen Dichtung, dessen Leben, Schreiben und Wirken den Germanisten und Biografen seit beinahe 200 Jahren offen liegt, verfügt noch über schwarze Stellen in seiner Genealogie. Am 6. September 1657 wurde im thüringischen Dorf Kannawurf Friedrich Georg Göthe getauft. Der Sohn eines Hufschmieds blieb nicht in Thüringen und wurde, anders als vier seiner Brüder, auch nicht Schmied. Friedrich Georg lernte das Schneiderhandwerk und suchte sein Glück als wandernder Geselle. Er war neugierig und tüchtig. Die neueste Mode und die besten Stoffe fand er in der Seidenstadt Lyon. Damit die Franzosen sein "e" nicht verschluckten, setzte er einen Akzent darauf und nannte sich fortan Göthé. Er kam von Lyon über Paris nach Frankfurt am Main, wo er die Tochter eines Schneidermeisters heiratete und wurde zu einem der wohlhabendsten Bürger Frankfurts. Das vererbte Vermögen reichte auch für den Enkel Johann Wolfgang, der davon ein gutes Leben als Student führen konnte, von ihm, dem Seidenschneider und Aufsteiger Göthé, aber nicht abstammen wollte. Allen Enkelstolz übertrug er auf die Textor-, die mütterliche Linie. Die maßgeblichen Biographen machten die Verdunkelung der väterlichen Seite mit. In nachgetragener Gerechtigkeit beleuchtet das Autorentrio Boehncke, Sarkowicz und Seng einen großen Unbekannten seines Stammbaums und fördern schöne Geschichten aus dem Leben des umtriebigen Schneidermeisters Göthé ans Licht, dessen Gerissenheit seinem Urenkel den Weg zum Klassiker ebnete.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.09.2017Das Skelett in Goethes Schrank
Man muss schon so souverän sein wie die Kardashians, um zu den Niederungen des eigenen Lebens zu stehen. Goethe war es nicht. Er verschwieg seinen Großvater, der es als Damenschneider und Gastwirt zu etwas gebracht hatte.
Von Florian Balke
Sage mir, wie du über deine Familie redest, und ich sage dir, ob dir etwas an ihr peinlich ist. Beweisstück A: Goethe. So sparsame Worte hat der Dichter, ein Meister des wohlbedachten Ausplauderns, über seinen Großvater väterlicherseits verloren, dass man getrost davon ausgehen kann, er habe ihn der Nachwelt vorenthalten wollen.
Er hatte es den Lesern seiner Autobiographie ja schon in ihrem Titel mitgeteilt, dass sie neben Fetzen der Wirklichkeit auch ein gerüttelt Maß an Erfindung und Verschwiegenheit enthalten würde. "Aus meinem Leben - Dichtung und Wahrheit" hieß das Buch, in dem der Autor sich nach 1809 von Weimar aus an sein bewegtes Leben zurückerinnerte. Im ersten Teil, der 1811 erschien, macht Goethe, wenn es um Herkunft und Aufwachsen in Frankfurt geht, über die Verwandten seiner Mutter einige, über seinen Vater und dessen Vorfahren jedoch nur möglichst ausgewählte Angaben.
Schon Johann Caspar Goethe, der wohlhabende, trotz einer Italien-Reise unkünstlerisch gebliebene Bürger und Kaiserliche Rat, hat es schwer im Urteil des schreibenden Sohnes. Das gilt erst recht für Friedrich Georg Göthe, den Vater des Vaters, der aus kleinen Verhältnissen in Thüringen stammt, sich mit "ö"schreibt und sein Geld als erfolgreicher Damenschneider und Gastwirt verdient hat. Überaus erfolgreich: Als er sich 1686 in Frankfurt niederlässt, gehört er zur niedrigsten Steuerklasse, Jahrzehnte später besitzt er ein Vermögen von 15 000 Gulden und zählt zur höchsten.
Von diesem Mann, der mit nichts begonnen und etwas aus sich gemacht hat, stammt das Vermögen, das es Johann Caspar erlaubt, sich als wohlhabender, gutausgebildeter und kultivierter Rentier neu zu erfinden und Johann Wolfgang später die Sicherheit gibt, sich als Künstler noch radikaler von seiner Herkunft zu verabschieden.
In dieser Eigenschaft sind die Nachkommen dem Großvater nicht unähnlich. Am 6. September 1657 kommt Friedrich Georg im thüringischen Kannawurf zur Welt, er wächst in Artern auf, einem ebenso unbedeutenden Nachbarort. Von dort aus macht er sich als Jugendlicher auf Wanderschaft und tingelt als Geselle durch das Heilige Römische Reich. 1681 erreicht er die Seidenstadt Lyon, in der er bleibt, bis Ludwig XIV. vier Jahre später die Protestanten aus Frankreich vertreibt. Göthé mit Akzent nennt der Großvater sich, als er nach seiner Flucht am Main neu anfängt. Frankreich ist schließlich schon damals trotz der religiösen Intoleranz des Königs das gelobte Land der Damenmode. "Monsieur Göthé" heißt auch das Buch, das Joachim Seng, Leiter der Bibliothek des Frankfurter Goethehauses, zusammen mit zwei weiteren Autoren geschrieben hat und am Dienstag vorstellt. Er, Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz, allesamt geübte Literaturdetektive, sind den Spuren Friedrich Georgs, der 1730 in Frankfurt starb, noch einmal genauer nachgegangen.
Sie haben ein fast vergessenes Schwarzweißfoto wiedergefunden, das in den zwanziger Jahren gemacht wurde und ein seitdem verschollenes Ölbild zeigt, auf dem Friedrich Georg zu sehen sein könnte, von dem kein gesichertes Porträt existiert. Und haben den Prozess studiert, den Göthe gegen die in Frankfurt hochangesehene Familie Textor führt, der vielen unbezahlten Rechnungen wegen. Unter den staubigen Akten des Reichskammergerichts, zwischen denen der Enkel Johann Wolfgang später die Lust an der Juristerei verliert, liegen zu dessen Studienzeit noch die Papiere, denen er entnehmen kann, wie sein Großvater väterlicherseits gegen seinen Ururgroßvater mütterlicherseits vorging. Sein Geld bekam Göthe übrigens nicht. Die Sache blieb, wie so vieles am berüchtigt langsamen Wetzlarer Gericht, unerledigt liegen.
Was für eine Geschichte hätte der Enkel aus diesem Material formen können! Aber Goethe verzichtet. Vielleicht wollte er nicht, dass in Weimar bekannt wurde, der Großvater des Ministers habe in einer nicht allzu weit entfernten Schmiede gehaust. Oder es irritiert ihn, dass der Vorfahr ein halbes Jahrhundert vor seiner eigenen Geburt als Schneider der Textors ein Domestike der Familie seiner Mutter gewesen ist. Erzählenswert aber ist die Geschichte bis heute geblieben. Sowohl die, wie man um 1700 als Selfmademan lebt, als auch die, wie man nach 1800 als Dichter sein Leben neu zuschneidert.
Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz und Joachim Seng: "Monsieur Göthé - Goethes unbekannter Großvater". Die Andere Bibliothek, Berlin 2017. 479 Seiten, zahlreiche, zum Teil farbige Illustrationen. 42 Euro. Vorgestellt wird das Buch am Dienstag von 19 Uhr an im Frankfurter Goethehaus, Großer Hirschgraben 23-25.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Man muss schon so souverän sein wie die Kardashians, um zu den Niederungen des eigenen Lebens zu stehen. Goethe war es nicht. Er verschwieg seinen Großvater, der es als Damenschneider und Gastwirt zu etwas gebracht hatte.
Von Florian Balke
Sage mir, wie du über deine Familie redest, und ich sage dir, ob dir etwas an ihr peinlich ist. Beweisstück A: Goethe. So sparsame Worte hat der Dichter, ein Meister des wohlbedachten Ausplauderns, über seinen Großvater väterlicherseits verloren, dass man getrost davon ausgehen kann, er habe ihn der Nachwelt vorenthalten wollen.
Er hatte es den Lesern seiner Autobiographie ja schon in ihrem Titel mitgeteilt, dass sie neben Fetzen der Wirklichkeit auch ein gerüttelt Maß an Erfindung und Verschwiegenheit enthalten würde. "Aus meinem Leben - Dichtung und Wahrheit" hieß das Buch, in dem der Autor sich nach 1809 von Weimar aus an sein bewegtes Leben zurückerinnerte. Im ersten Teil, der 1811 erschien, macht Goethe, wenn es um Herkunft und Aufwachsen in Frankfurt geht, über die Verwandten seiner Mutter einige, über seinen Vater und dessen Vorfahren jedoch nur möglichst ausgewählte Angaben.
Schon Johann Caspar Goethe, der wohlhabende, trotz einer Italien-Reise unkünstlerisch gebliebene Bürger und Kaiserliche Rat, hat es schwer im Urteil des schreibenden Sohnes. Das gilt erst recht für Friedrich Georg Göthe, den Vater des Vaters, der aus kleinen Verhältnissen in Thüringen stammt, sich mit "ö"schreibt und sein Geld als erfolgreicher Damenschneider und Gastwirt verdient hat. Überaus erfolgreich: Als er sich 1686 in Frankfurt niederlässt, gehört er zur niedrigsten Steuerklasse, Jahrzehnte später besitzt er ein Vermögen von 15 000 Gulden und zählt zur höchsten.
Von diesem Mann, der mit nichts begonnen und etwas aus sich gemacht hat, stammt das Vermögen, das es Johann Caspar erlaubt, sich als wohlhabender, gutausgebildeter und kultivierter Rentier neu zu erfinden und Johann Wolfgang später die Sicherheit gibt, sich als Künstler noch radikaler von seiner Herkunft zu verabschieden.
In dieser Eigenschaft sind die Nachkommen dem Großvater nicht unähnlich. Am 6. September 1657 kommt Friedrich Georg im thüringischen Kannawurf zur Welt, er wächst in Artern auf, einem ebenso unbedeutenden Nachbarort. Von dort aus macht er sich als Jugendlicher auf Wanderschaft und tingelt als Geselle durch das Heilige Römische Reich. 1681 erreicht er die Seidenstadt Lyon, in der er bleibt, bis Ludwig XIV. vier Jahre später die Protestanten aus Frankreich vertreibt. Göthé mit Akzent nennt der Großvater sich, als er nach seiner Flucht am Main neu anfängt. Frankreich ist schließlich schon damals trotz der religiösen Intoleranz des Königs das gelobte Land der Damenmode. "Monsieur Göthé" heißt auch das Buch, das Joachim Seng, Leiter der Bibliothek des Frankfurter Goethehauses, zusammen mit zwei weiteren Autoren geschrieben hat und am Dienstag vorstellt. Er, Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz, allesamt geübte Literaturdetektive, sind den Spuren Friedrich Georgs, der 1730 in Frankfurt starb, noch einmal genauer nachgegangen.
Sie haben ein fast vergessenes Schwarzweißfoto wiedergefunden, das in den zwanziger Jahren gemacht wurde und ein seitdem verschollenes Ölbild zeigt, auf dem Friedrich Georg zu sehen sein könnte, von dem kein gesichertes Porträt existiert. Und haben den Prozess studiert, den Göthe gegen die in Frankfurt hochangesehene Familie Textor führt, der vielen unbezahlten Rechnungen wegen. Unter den staubigen Akten des Reichskammergerichts, zwischen denen der Enkel Johann Wolfgang später die Lust an der Juristerei verliert, liegen zu dessen Studienzeit noch die Papiere, denen er entnehmen kann, wie sein Großvater väterlicherseits gegen seinen Ururgroßvater mütterlicherseits vorging. Sein Geld bekam Göthe übrigens nicht. Die Sache blieb, wie so vieles am berüchtigt langsamen Wetzlarer Gericht, unerledigt liegen.
Was für eine Geschichte hätte der Enkel aus diesem Material formen können! Aber Goethe verzichtet. Vielleicht wollte er nicht, dass in Weimar bekannt wurde, der Großvater des Ministers habe in einer nicht allzu weit entfernten Schmiede gehaust. Oder es irritiert ihn, dass der Vorfahr ein halbes Jahrhundert vor seiner eigenen Geburt als Schneider der Textors ein Domestike der Familie seiner Mutter gewesen ist. Erzählenswert aber ist die Geschichte bis heute geblieben. Sowohl die, wie man um 1700 als Selfmademan lebt, als auch die, wie man nach 1800 als Dichter sein Leben neu zuschneidert.
Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz und Joachim Seng: "Monsieur Göthé - Goethes unbekannter Großvater". Die Andere Bibliothek, Berlin 2017. 479 Seiten, zahlreiche, zum Teil farbige Illustrationen. 42 Euro. Vorgestellt wird das Buch am Dienstag von 19 Uhr an im Frankfurter Goethehaus, Großer Hirschgraben 23-25.
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