Monsieur Linh ist der Einzige, der weiß, dass er so heißt: Alle anderen, die seinen Namen kannten, sind tot. Nur er und seine kleine Enkelin, gerade ein paar Wochen alt, haben den Bombenangriff auf ihr Heimatdorf überlebt. Monsieur Linh flieht und gelangt nach langer Reise in eine kalte, verregnete Stadt, deren Namen er nicht aussprechen kann. In dem Flüchtlingswohnheim fühlt er sich einsam und verloren. Kraft geben ihm nur sein kleines Mädchen und der dicke Monsieur Bark, den er auf einem seiner Spaziergänge durch die fremde Stadt kennen gelernt hat. Der eine versteht die Sprache des anderen nicht, und so erzählen die beiden sich ohne Worte von Glück, Trauer, Sehnsucht und Hoffnung. Bis das Schicksal eines Tages das tragische Geheimnis von Monsieur Linh enthüllt.
Philippe Claudel erweist sich in seinem neuen Roman erneut als ein Meister der Auslassung und der überraschenden Wendungen. Eine ergreifende Geschichte, erzählt mit beeindruckender Raffinesse in einer bestechend einfachen Sprache.
Philippe Claudel erweist sich in seinem neuen Roman erneut als ein Meister der Auslassung und der überraschenden Wendungen. Eine ergreifende Geschichte, erzählt mit beeindruckender Raffinesse in einer bestechend einfachen Sprache.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.09.2006Gesang vom Kindchen
Der alte Mann und das Glück: Philippe Claudels Roman
Die Geschichte dieses Buchs ist so sorgfältig verschnürt wie das Bündel, das Monsieur Linh durch den Roman trägt. Kein Faden hängt heraus, alle Details sind um das Kleinkind gewickelt, das mit dem Flüchtling aus dem fernöstlichen Dorf über die Meere in die kalte, geruchlose französische Küstenstadt gelangt. Das ins Bündel gewickelte Mädchen plärrt nie, strampelt nie, bleibt immer ruhig und blickt nur schweigend mit manchmal weit offenen Augen in die Welt. Sie ist das für uns unhörbare, fast unsichtbare ein und alles ihres Großvaters, wie gemacht dafür, dem greisen Flüchtling nichts Fremdes in seine diskrete Beflissenheit des Überlebens zu strampeln.
Der vierundvierzigjährige Philippe Claudel ist mit dem inzwischen verfilmten Roman "Die grauen Seelen" berühmt geworden. Was dort aus der schweigsamen Spiegelperspektive einer jungen Frau und eines Greises während des Ersten Weltkriegs sich abspielte, ist hier zwischen dem alten Linh und der kleinen Sang diû in eine symbiotische Wortlosigkeit gesteigert. Claudel ist kein Autor der kraftvoll geschwungenen Handlungsabläufe. Er arbeitet vielmehr mit verhalten geschilderten Stimmungen und immer bedeutsamen Nebensächlichkeiten. Hier ist der Ton aber so gedämpft, daß diesem Buch der Gattungsbegriff "Erzählung" besser stünde als der des Romans. Keine Stelle franst aus, kein Handlungsfaden verliert sich. Jede Einzelheit ist um dieses Kleinkind gewickelt, das im französischen Originaltitel "La petite fille de Monsieur Linh", anders als im allegorisierenden deutschen Buchtitel, ausdrücklich im Mittelpunkt steht.
Von der Herkunft Monsieur Linhs wissen wir nur, daß in seinem Land Krieg herrscht und daß dieses erst ein paar Wochen alte Enkelkind das einzige ist, was ihm bleibt. Wenn er im französischen Flüchtlingsheim ihm Brotstücke vorkaut, scheint ungewiß, wer den anderen nährt: der Alte den Säugling mit Speise oder die Kleine ihn mit Hoffnung. Alles, was der weltunerfahrene Flüchtling an Befremdlichkeit, Sorge und Mühen auf sich nimmt, gilt dem Überleben dieses Kindes, in dem - über seinen Sohn und dessen Gattin, beide im Krieg getötet - indirekt er selbst überlebt. Wenn er auf der wochenlangen Überfahrt mit starrem Blick aufs Meer die Kleine an sich drückt, sie für den Spaziergang in der fremden Stadt in alle verfügbaren Kleidungsstücke wickelt, ihr zur Beruhigung das alte Lied vom immer zurückkehrenden Morgen vorsingt, scheint es, als presse er seine eigene verbleibende Überlebenskraft wie zur Selbstvergewisserung an dieses verhüllte andere Ich - fast wäre man versucht, ins Bündel zu schauen, ob da wirklich ein Säugling drinsteckt.
Weder die eigensüchtigen Mitbewohner im Flüchtlingsheim noch die Betreuer vom Hilfsdienst oder die Leute auf der Straße haben einen Blick für die Kleine, die wie die Ikone einer gesichtslosen Zukunft herumgetragen wird. Sie ist wunderschön, das wollen wir dem Monsieur Linh gern glauben, vor allem, wenn er ihr das von Monsieur Bark, einem Freund, geschenkte Kleidchen anzieht. Doch wie lebensfähig wird sie sein? Den redseligen Monsieur Bark hat der alte Linh auf einer Parkbank kennengelernt. Bark hat vor kurzem seine Frau verloren, raucht eine Zigarette nach der anderen und war als junger Mann im Land von Monsieur Linh auf der französischen Seite im Kriegseinsatz.
Diese neue Freundschaft zweier nicht füreinander gemachter Männer, die aus mangelnder Sprachkenntnis einander in der jeweils fremden Sprache als "Monsieur Guten Tag" ansprechen, bildet neben der Sorge ums Kleinkind den zweiten Ankerpunkt der Geschichte. Und wenn wir Monsieur Linh am Ende durch einen Verkehrsunfall aus den Augen verlieren, verschmilzt das Schicksal der Kleinen und des zigaretterauchenden Witwers zur höchst ungewissen Zukunftserwartung. Die ganz auf dieses Ziel hin gebündelte Bedeutsamkeit aller Einzelheiten des Buchs geht jedoch auf wie eine schlichte Parabelerzählung. Wie im Gleichnis führt die sanfte Durchsetzungskraft des Monsieur Linh durch Prüfungen und Zweifel. Irrt er dann aber, in Pantoffeln und Morgenrock dem Altersheim entronnen, durch Vorstadtquartiere, verlangt man nach narrativen Fremdkörpern, an denen die gleichnishafte Bedeutung sich riebe. Sie bleiben aus.
Einziger parasitärer Nebeneffekt, mit dem das Buch über seinen Erzählhorizont hinausschießt, ist die Schilderung der eiskalt organisierten Humanität, die fürsorglich die ankommenden Flüchtlinge registriert, mit dem Lebensnotwendigen ausstattet, sie in eine neue Zukunft einweist und ihnen jeden Grund zum Bangesein abnimmt. Erst wenn Monsieur Linh zerzaust und durchnäßt mit der kleinen Sang diû im Arm vor der Parkbank des Monsieur Bark erscheint, blitzt in seinem Auge ein Glücksmoment auf, der im bestürzten Gesicht von Monsieur Bark auf der anderen Straßenseite angesichts der nahenden Katastrophe sogleich wieder verblaßt. Der parabolische Schleier dieses Buchs, den die Übersetzerin Christiane Seiler mit dem silbernen Faden des Märchentons geschickt weiterwob, zerreißt an dieser Stelle und flattert ins offene Ende.
Philippe Claudel: "Monsieur Linh und die Gabe der Hoffnung". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Christiane Seiler. Kindler Verlag, Reinbek 2006. 127 S., geb., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der alte Mann und das Glück: Philippe Claudels Roman
Die Geschichte dieses Buchs ist so sorgfältig verschnürt wie das Bündel, das Monsieur Linh durch den Roman trägt. Kein Faden hängt heraus, alle Details sind um das Kleinkind gewickelt, das mit dem Flüchtling aus dem fernöstlichen Dorf über die Meere in die kalte, geruchlose französische Küstenstadt gelangt. Das ins Bündel gewickelte Mädchen plärrt nie, strampelt nie, bleibt immer ruhig und blickt nur schweigend mit manchmal weit offenen Augen in die Welt. Sie ist das für uns unhörbare, fast unsichtbare ein und alles ihres Großvaters, wie gemacht dafür, dem greisen Flüchtling nichts Fremdes in seine diskrete Beflissenheit des Überlebens zu strampeln.
Der vierundvierzigjährige Philippe Claudel ist mit dem inzwischen verfilmten Roman "Die grauen Seelen" berühmt geworden. Was dort aus der schweigsamen Spiegelperspektive einer jungen Frau und eines Greises während des Ersten Weltkriegs sich abspielte, ist hier zwischen dem alten Linh und der kleinen Sang diû in eine symbiotische Wortlosigkeit gesteigert. Claudel ist kein Autor der kraftvoll geschwungenen Handlungsabläufe. Er arbeitet vielmehr mit verhalten geschilderten Stimmungen und immer bedeutsamen Nebensächlichkeiten. Hier ist der Ton aber so gedämpft, daß diesem Buch der Gattungsbegriff "Erzählung" besser stünde als der des Romans. Keine Stelle franst aus, kein Handlungsfaden verliert sich. Jede Einzelheit ist um dieses Kleinkind gewickelt, das im französischen Originaltitel "La petite fille de Monsieur Linh", anders als im allegorisierenden deutschen Buchtitel, ausdrücklich im Mittelpunkt steht.
Von der Herkunft Monsieur Linhs wissen wir nur, daß in seinem Land Krieg herrscht und daß dieses erst ein paar Wochen alte Enkelkind das einzige ist, was ihm bleibt. Wenn er im französischen Flüchtlingsheim ihm Brotstücke vorkaut, scheint ungewiß, wer den anderen nährt: der Alte den Säugling mit Speise oder die Kleine ihn mit Hoffnung. Alles, was der weltunerfahrene Flüchtling an Befremdlichkeit, Sorge und Mühen auf sich nimmt, gilt dem Überleben dieses Kindes, in dem - über seinen Sohn und dessen Gattin, beide im Krieg getötet - indirekt er selbst überlebt. Wenn er auf der wochenlangen Überfahrt mit starrem Blick aufs Meer die Kleine an sich drückt, sie für den Spaziergang in der fremden Stadt in alle verfügbaren Kleidungsstücke wickelt, ihr zur Beruhigung das alte Lied vom immer zurückkehrenden Morgen vorsingt, scheint es, als presse er seine eigene verbleibende Überlebenskraft wie zur Selbstvergewisserung an dieses verhüllte andere Ich - fast wäre man versucht, ins Bündel zu schauen, ob da wirklich ein Säugling drinsteckt.
Weder die eigensüchtigen Mitbewohner im Flüchtlingsheim noch die Betreuer vom Hilfsdienst oder die Leute auf der Straße haben einen Blick für die Kleine, die wie die Ikone einer gesichtslosen Zukunft herumgetragen wird. Sie ist wunderschön, das wollen wir dem Monsieur Linh gern glauben, vor allem, wenn er ihr das von Monsieur Bark, einem Freund, geschenkte Kleidchen anzieht. Doch wie lebensfähig wird sie sein? Den redseligen Monsieur Bark hat der alte Linh auf einer Parkbank kennengelernt. Bark hat vor kurzem seine Frau verloren, raucht eine Zigarette nach der anderen und war als junger Mann im Land von Monsieur Linh auf der französischen Seite im Kriegseinsatz.
Diese neue Freundschaft zweier nicht füreinander gemachter Männer, die aus mangelnder Sprachkenntnis einander in der jeweils fremden Sprache als "Monsieur Guten Tag" ansprechen, bildet neben der Sorge ums Kleinkind den zweiten Ankerpunkt der Geschichte. Und wenn wir Monsieur Linh am Ende durch einen Verkehrsunfall aus den Augen verlieren, verschmilzt das Schicksal der Kleinen und des zigaretterauchenden Witwers zur höchst ungewissen Zukunftserwartung. Die ganz auf dieses Ziel hin gebündelte Bedeutsamkeit aller Einzelheiten des Buchs geht jedoch auf wie eine schlichte Parabelerzählung. Wie im Gleichnis führt die sanfte Durchsetzungskraft des Monsieur Linh durch Prüfungen und Zweifel. Irrt er dann aber, in Pantoffeln und Morgenrock dem Altersheim entronnen, durch Vorstadtquartiere, verlangt man nach narrativen Fremdkörpern, an denen die gleichnishafte Bedeutung sich riebe. Sie bleiben aus.
Einziger parasitärer Nebeneffekt, mit dem das Buch über seinen Erzählhorizont hinausschießt, ist die Schilderung der eiskalt organisierten Humanität, die fürsorglich die ankommenden Flüchtlinge registriert, mit dem Lebensnotwendigen ausstattet, sie in eine neue Zukunft einweist und ihnen jeden Grund zum Bangesein abnimmt. Erst wenn Monsieur Linh zerzaust und durchnäßt mit der kleinen Sang diû im Arm vor der Parkbank des Monsieur Bark erscheint, blitzt in seinem Auge ein Glücksmoment auf, der im bestürzten Gesicht von Monsieur Bark auf der anderen Straßenseite angesichts der nahenden Katastrophe sogleich wieder verblaßt. Der parabolische Schleier dieses Buchs, den die Übersetzerin Christiane Seiler mit dem silbernen Faden des Märchentons geschickt weiterwob, zerreißt an dieser Stelle und flattert ins offene Ende.
Philippe Claudel: "Monsieur Linh und die Gabe der Hoffnung". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Christiane Seiler. Kindler Verlag, Reinbek 2006. 127 S., geb., 14,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sehr rund, wenn nicht gar allzu rund, findet der Rezensent Joseph Hanimann diesen parabelhaften Roman, den er allerdings eher unter der Bezeichnung "Erzählung" verbuchen würde. Im Zentrum stehen Monsieur Linh aus dem fernen Osten und das Bündel, das er unter dem Arm trägt, das Mädchen Sang Diu. Sie haben, in der Fremde, einander und brauchen, im Flüchtlingsheim untergebracht, einander. Ja, der alte Mann ist auf das stets stille Wesen in seinen Armen vielleicht noch mehr angewiesen als das Mädchen auf ihn, meint der Rezensent. Das mache der deutsche Titel so überdeutlich wie es auch im Roman selbst sich darstellt. Es scheint nicht so, dass dem Rezensenten, der die Handlung recht ausführlich nacherzählt, das Buch nicht gefallen hat. Er vermisst nur die "narrativen Fremdkörper", die Ambivalenz und Spannung in eine Parabel brächten, die so eben allzu glatt aufgeht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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