Mit einem Vorwort von Clemens J. SetzNach dem großen Erfolg der drei Einzelbände, die thamtisch jeweils auf ihr eigenes Thema ausgerichtet sind - Monster, medizinische Phänomene und die Moden der Zeit - versammelt dieser Band Nora Gomringers Trilogie der Unsichtbarkeiten und Oberflächen und bietet moderne Anthropologie im wahrsten Sinne: Menschenkunde. Nora Gomringer beleuchtet das Allzu-Menschliche in ihrem Schreiben, das sehr viel Witz, kluge Pointe und lakonische Schärfe enthält. Sie spielt mit der Oberfläche und liebt das Unsichtbare, zieht ihre Schlüsse, bewegt mit Texten, die trösten und wachrütteln. Sie spricht sich in den drei Bänden für radikalen Humanismus, für Poesie und Lebenshunger, für Zartheit und Zärtlichkeit aus. Monster - Morbus - Moden, diese Titel sind auch Zeugnis der gelungenen Zusammenarbeit zwischen Grafiker Reimar Limmer und Nora Gomringer bei Voland & Quist. Seit über 10 Jahren arbeiten sie zusammen und verbinden Wort und grafische Gestaltung. Die Aufmachung aller drei Bände kann nicht täuschen: Hier ist lyrische Realität geschaffen worden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.11.2019Die Maschen der Monster
Hören Sie sich die Dichterin doch erst einmal an: Nora Gomringer erweitert die Sammelausgabe ihrer letzten drei Lyrikbände um eine CD.
Von Angelika Overath
Jede Biographie kennt ihre Abgründe. Künstler aber sind in der seltsamen Lage, daraus zu schöpfen. Sie machen Dinge aus Angst, Gedichte zum Beispiel. Nora Gomringer, Jahrgang 1980, ist eine der heftigsten, buntesten und vielleicht widersprüchlichsten Autorinnen der Gegenwart. Die Tochter des bolivianisch-schweizerischen Vaters der Konkreten Poesie Eugen Gomringer (Jahrgang 1925) und der Germanistin Nortrud Gomringer ist Christin (sie sei von ihrer Mutter in einem lutheranischen Dorf katholisch erzogen worden, sie habe sogar ministriert) und leidenschaftliche Feministin. In ihrem Gedicht kann einem Medizinmann schon mal "vernäht / die Klitoris um den Hals" hängen. Die Klitoris der "Debütatin", die, "laut im Bett / kalt an der Hand", ein "gemachtes Wesen / sachtes Wesen", unter einem "Namen wie IKEA-Gestelle" erscheint. Und dann wieder hat sich Nora Gomringer gegen Vorwürfe gerade von Feministinnen gewehrt, die das - darf man sagen: lebensgläubige? - spanische Gedicht "Avenidas" ihres Vaters (mit den Alleen und den Blumen und den Frauen und dem Bewunderer) als sexistisch betrachteten und seine Entfernung von der Mauer der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin forderten. (Was mittlerweile geschah.) Auf Instagram erklärte Nora Gomringer, dass sie in einer "Guerillaaktion" das Gedicht nun auf ihren Reisen mitnehmen und auf kleinen Zetteln einfach überall hinkleben werde.
Nora Gomringer agiert in den Medien und auf Bühnen, sie arbeitet interdisziplinär mit Musikern und Bildenden Künstlern. Sie war lange in der Slam-Poetry-Szene führend aktiv; ihren Lyrikbänden liegen Audio-CDs bei, auf denen sie ihre Zeilen atempräzise präsentiert. Wer sie hauchen hört, zögern, fauchen, hart deklamieren, drohen oder auch in einen Satz hineinlachen, der erfährt, weil es unter die Haut geht, wie sehr Lyrik vom Singen kommt und mit dem Singenden lebt. Nora Gomringer ist das einzige gemeinsame Kind ihrer Eltern; sie hat sieben ältere Halbbrüder. Ihr Blick ist weiblich. Aber was kann ein weiblicher Blick nicht alles sein!
Die jetzt erschienene Trilogie "Monster, Morbus, Moden" ist eine zusammenfassende Neuausgabe von Lyrikbänden, die bereits 2013 ("Monster Poems"), 2015 ("Morbus") und 2017 ("Moden") erschienen sind. Wie die Erstausgaben enthält sie die Illustrationen von Reimar Limmer (Jahrgang 1974). Text- und Bildpräsentation ist also gleichgeblieben. Hin und wieder gibt es minimale Änderungen im Zeilenbruch, kleine Korrekturen bei Namen ("Fuji" statt "Fudji"), Varianten in der Groß- und Kleinschreibung. Erschien in den "Monster Poems" das Gruseldunkel der Illustrationsseite (rechts) manchmal auch auf der Seite des Textes (links), so sind die Textseiten nun alle weiß hinterlegt. Das dem Liebesgedicht "Seidenraupen" (für die Stickerin Daniela Hoferer) beigegebene Bild trägt deutlichere Fadenstrukturen, und die Motive (die Geier, das gehörnte Skelettwesen mit der Perücke) sind klarer zu erkennen. Es endet: "Es stach mich ihr Blick, mich darauf mit Geschick einzufädeln. / Kamel, mich, durch ihr Öhr."
Drei Texte sind neu: das Wulf Segebrecht gewidmete poetologische Gedicht "Ach-ach-Maschine" am Ende von "Monster Poems", das emanzipatorische Poem zur Monatsblutung "Monstruation" am Ende von "Morbus" und "Fuchsfee", das Gedicht der Frau, der Verführerin, als Schlussgedicht von "Moden" und damit am Ende der gesamten Trilogie. Wenn die Männer die "Fuchsfee", diesen "Nagezahn am Ehering", das "beheizte Frauenzimmer" dann "jaulend fragen: ,Sag, wie heißt du'", antwortet sie: ",Vulpecula'. / Denn so versteckt Latein mich vor den Hunden." In "Vulpecula", im Füchslein, im Sternbild des Fuchses (zwischen Schwan und Pfeil), im lateinischen Wortversteck, findet die gejagte Jägerin Deckung.
Ein Aspekt solchen Frauenblicks scheint das Hin- und Hergleiten zwischen Opfer und Täter. Schon im Eingangsgedicht der Trilogie, im ersten Gedicht der "Monster Poems", spricht ein Kind: "Ich bin das Mädchen / bin das Mädchen / das Mädchen bin ich / das du sortiertest / du sortiertest mich". Bis ihm nichts mehr blieb, nur noch ein verlassenes: "übrig bin ich". Und nun schlagen die Zeilen um: "wer ich jetzt bin / ich jetzt bin / wer? fragst du mich". Worauf das Ich der Gegenwart, die Frau, antwortet: "ich war das Mädchen / war das Mädchen". Aber die kleine Litanei "das Mädchen war ich / sortiert hast du mich" kippt auf einmal in eine andere Sprecher-Rolle: "so spricht das Monster". Und schlägt sofort noch einmal um: "das Monster bin ich". Mädchen und Monster diffundieren gespenstisch ineinander. Wer sortierte, wer zensierte wen? Ist Sich-nicht-wehren-(Können) auch monsterhaft?
Was ist ein Monster? In den Anmerkungen zur Originalausgabe der "Monster Poems" - Gomringer nennt sie "Verräter", weil in ihnen etwas verraten wird (in der Trilogie fehlen sie leider) - sagt die Autorin: "Manchmal geht es um unbestimmte Gefühle. Ängste und Traumata aus dem Alltagsleben, außerdem oszilliert der Begriff ,Monster'. Mich interessiert, wer oder was ein Monster ist oder auch sein kann, wie es zum Monster wird und inwieweit das Konzept ,monströs' auf alle Menschen zutrifft." Die "Fuchsfee" hat eine Vorläuferin in der "Jägerin". Mit Kuchen und Wein in ihrem roten Ford ist sie eine Variante des Rotkäppchens. Der Wolf macht seine Hose auf und sagt: "Fass hinein." Aus Angst um die Großmutter heiratet sie ihn. Aber am Ende kommt einer, der den beiden Frauen das Schießen beibringt. Der Wolf ist tot.
Immer wieder sind Kindheitsängste und Kinderlust eingefangen in Evokationen einst prägender Filme von "Dracula" zu "King Kong" oder "Mary Poppins", aber auch der monströse Alltagsblick von Eltern auf ihr Kind ("Im ersten Jahr soll es / möglichst / viel schlafen, viel werden. / Was in es gefüllt wird, / soll Spuren hinterlassen"). Und manchmal brechen Kinder "krachend auseinander / an den Stellen, / die wir vergessen einzuschmieren / mit Zeit und Geld". Der Raum der Gedichte macht dabei keinen Unterschied, ob es um einen Sehnsuchtsgiganten wie Richard Gere geht, um ungeheuerliche Figuren der Filmgeschichte oder um historische Personen. Gomringer lässt Sylvia Plath den Serienmöder Norman Bates aus Hitchcocks "Psycho" ehelichen oder überblendet Böcklins Toteninsel (in der Illustration die fünfte Version, der Kahn ist nun ein Motorboot aus James-Bond-Filmen) mit Hitler und Breivik. Dieses kalte Überschneiden, das sich immer wieder ins Märchenhafte, Filmische öffnet, findet in den Collagen von Reimar Limmer ein geschwisterliches Gegenüber. Die Sprach- und die Bild-Technik, die Disparates zusammenbringen, sind selbst monströs, frech, witzig, andachtslos - und umwerfend frisch. Hier reiben sich, dass es manchmal weh tut, Empathie und Artistik.
Auch Krankheiten ("Morbus") und die Fegefeuer der Verführung ("Moden") haben ein Monster-Potential, das Gomringer kalkuliert ausschöpft und inszeniert. Zwischen Adipositas ("Nashi"), Lepra ("Unrein"), Tollwut ("Cave Canem") und Wahnsinn ("Haarmanns seltene Mädchen") stellt sie 27 menschennormale Ausnahmezustände vor, in einer bewundernswerten stilistischen Breite. Der "Herpeswalz" kommt im Dreivierteltakt, "Plumbum", die Depression, zeigt sich als lakonisches Sprachdunkel: "der schwarze Hund / das Kleid aus Blei / die Nacht im Gefieder". Im abschließenden Teil "Moden" feiert sie den knallroten Lippenstift ("Maybelline 306"), schlägt aus dem Zungenbrecher "Brautkleid bleibt Brautkleid und Blaukraut bleibt Blaukraut" den poetischen Funken für tuschelnde "Jungfern wie Baisers" oder "Pusteblumen".
Das Kranke, das Fragwürdige, das Monströse schlägt immer durch. Ungeheuerliche Taschen ("Clutch", "Poppins' tiefe Tasche") überfließen in fragwürdiger Fülle und verschlingen zugleich. Berührend ein Gedicht über eine frühe Begegnung mit der jüdischen Schriftstellerin Elfriede Gerstl in der Wiener Wohnung ihrer Verlegerin. "Mitten im Verzweifeln . . . traf ich Elfriede Gerstl. // Ich war so jung, dass mein Wort nicht von Bedeutung war." Nachtfaltergleich elegant erschien sie in der Küche "wie ein Traum aus Escadas großen Zeiten". Während die Verlegerin schnell sprach, sahen beide, die junge und die alte Dichterin, sich an. "Nie mehr hat eine nach ihr / mir auf die Stirn gesagt, dass ich lebenslang die Puppe gebe. / Das war die Masche dieser Dichterin."
Nora Gomringer: "Monster Morbus Moden".
Mit Illustrationen von Reimar Limmer. Verlag Voland & Quist, Dresden 2019. 176 S., geb., Abb., mit CD, 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hören Sie sich die Dichterin doch erst einmal an: Nora Gomringer erweitert die Sammelausgabe ihrer letzten drei Lyrikbände um eine CD.
Von Angelika Overath
Jede Biographie kennt ihre Abgründe. Künstler aber sind in der seltsamen Lage, daraus zu schöpfen. Sie machen Dinge aus Angst, Gedichte zum Beispiel. Nora Gomringer, Jahrgang 1980, ist eine der heftigsten, buntesten und vielleicht widersprüchlichsten Autorinnen der Gegenwart. Die Tochter des bolivianisch-schweizerischen Vaters der Konkreten Poesie Eugen Gomringer (Jahrgang 1925) und der Germanistin Nortrud Gomringer ist Christin (sie sei von ihrer Mutter in einem lutheranischen Dorf katholisch erzogen worden, sie habe sogar ministriert) und leidenschaftliche Feministin. In ihrem Gedicht kann einem Medizinmann schon mal "vernäht / die Klitoris um den Hals" hängen. Die Klitoris der "Debütatin", die, "laut im Bett / kalt an der Hand", ein "gemachtes Wesen / sachtes Wesen", unter einem "Namen wie IKEA-Gestelle" erscheint. Und dann wieder hat sich Nora Gomringer gegen Vorwürfe gerade von Feministinnen gewehrt, die das - darf man sagen: lebensgläubige? - spanische Gedicht "Avenidas" ihres Vaters (mit den Alleen und den Blumen und den Frauen und dem Bewunderer) als sexistisch betrachteten und seine Entfernung von der Mauer der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin forderten. (Was mittlerweile geschah.) Auf Instagram erklärte Nora Gomringer, dass sie in einer "Guerillaaktion" das Gedicht nun auf ihren Reisen mitnehmen und auf kleinen Zetteln einfach überall hinkleben werde.
Nora Gomringer agiert in den Medien und auf Bühnen, sie arbeitet interdisziplinär mit Musikern und Bildenden Künstlern. Sie war lange in der Slam-Poetry-Szene führend aktiv; ihren Lyrikbänden liegen Audio-CDs bei, auf denen sie ihre Zeilen atempräzise präsentiert. Wer sie hauchen hört, zögern, fauchen, hart deklamieren, drohen oder auch in einen Satz hineinlachen, der erfährt, weil es unter die Haut geht, wie sehr Lyrik vom Singen kommt und mit dem Singenden lebt. Nora Gomringer ist das einzige gemeinsame Kind ihrer Eltern; sie hat sieben ältere Halbbrüder. Ihr Blick ist weiblich. Aber was kann ein weiblicher Blick nicht alles sein!
Die jetzt erschienene Trilogie "Monster, Morbus, Moden" ist eine zusammenfassende Neuausgabe von Lyrikbänden, die bereits 2013 ("Monster Poems"), 2015 ("Morbus") und 2017 ("Moden") erschienen sind. Wie die Erstausgaben enthält sie die Illustrationen von Reimar Limmer (Jahrgang 1974). Text- und Bildpräsentation ist also gleichgeblieben. Hin und wieder gibt es minimale Änderungen im Zeilenbruch, kleine Korrekturen bei Namen ("Fuji" statt "Fudji"), Varianten in der Groß- und Kleinschreibung. Erschien in den "Monster Poems" das Gruseldunkel der Illustrationsseite (rechts) manchmal auch auf der Seite des Textes (links), so sind die Textseiten nun alle weiß hinterlegt. Das dem Liebesgedicht "Seidenraupen" (für die Stickerin Daniela Hoferer) beigegebene Bild trägt deutlichere Fadenstrukturen, und die Motive (die Geier, das gehörnte Skelettwesen mit der Perücke) sind klarer zu erkennen. Es endet: "Es stach mich ihr Blick, mich darauf mit Geschick einzufädeln. / Kamel, mich, durch ihr Öhr."
Drei Texte sind neu: das Wulf Segebrecht gewidmete poetologische Gedicht "Ach-ach-Maschine" am Ende von "Monster Poems", das emanzipatorische Poem zur Monatsblutung "Monstruation" am Ende von "Morbus" und "Fuchsfee", das Gedicht der Frau, der Verführerin, als Schlussgedicht von "Moden" und damit am Ende der gesamten Trilogie. Wenn die Männer die "Fuchsfee", diesen "Nagezahn am Ehering", das "beheizte Frauenzimmer" dann "jaulend fragen: ,Sag, wie heißt du'", antwortet sie: ",Vulpecula'. / Denn so versteckt Latein mich vor den Hunden." In "Vulpecula", im Füchslein, im Sternbild des Fuchses (zwischen Schwan und Pfeil), im lateinischen Wortversteck, findet die gejagte Jägerin Deckung.
Ein Aspekt solchen Frauenblicks scheint das Hin- und Hergleiten zwischen Opfer und Täter. Schon im Eingangsgedicht der Trilogie, im ersten Gedicht der "Monster Poems", spricht ein Kind: "Ich bin das Mädchen / bin das Mädchen / das Mädchen bin ich / das du sortiertest / du sortiertest mich". Bis ihm nichts mehr blieb, nur noch ein verlassenes: "übrig bin ich". Und nun schlagen die Zeilen um: "wer ich jetzt bin / ich jetzt bin / wer? fragst du mich". Worauf das Ich der Gegenwart, die Frau, antwortet: "ich war das Mädchen / war das Mädchen". Aber die kleine Litanei "das Mädchen war ich / sortiert hast du mich" kippt auf einmal in eine andere Sprecher-Rolle: "so spricht das Monster". Und schlägt sofort noch einmal um: "das Monster bin ich". Mädchen und Monster diffundieren gespenstisch ineinander. Wer sortierte, wer zensierte wen? Ist Sich-nicht-wehren-(Können) auch monsterhaft?
Was ist ein Monster? In den Anmerkungen zur Originalausgabe der "Monster Poems" - Gomringer nennt sie "Verräter", weil in ihnen etwas verraten wird (in der Trilogie fehlen sie leider) - sagt die Autorin: "Manchmal geht es um unbestimmte Gefühle. Ängste und Traumata aus dem Alltagsleben, außerdem oszilliert der Begriff ,Monster'. Mich interessiert, wer oder was ein Monster ist oder auch sein kann, wie es zum Monster wird und inwieweit das Konzept ,monströs' auf alle Menschen zutrifft." Die "Fuchsfee" hat eine Vorläuferin in der "Jägerin". Mit Kuchen und Wein in ihrem roten Ford ist sie eine Variante des Rotkäppchens. Der Wolf macht seine Hose auf und sagt: "Fass hinein." Aus Angst um die Großmutter heiratet sie ihn. Aber am Ende kommt einer, der den beiden Frauen das Schießen beibringt. Der Wolf ist tot.
Immer wieder sind Kindheitsängste und Kinderlust eingefangen in Evokationen einst prägender Filme von "Dracula" zu "King Kong" oder "Mary Poppins", aber auch der monströse Alltagsblick von Eltern auf ihr Kind ("Im ersten Jahr soll es / möglichst / viel schlafen, viel werden. / Was in es gefüllt wird, / soll Spuren hinterlassen"). Und manchmal brechen Kinder "krachend auseinander / an den Stellen, / die wir vergessen einzuschmieren / mit Zeit und Geld". Der Raum der Gedichte macht dabei keinen Unterschied, ob es um einen Sehnsuchtsgiganten wie Richard Gere geht, um ungeheuerliche Figuren der Filmgeschichte oder um historische Personen. Gomringer lässt Sylvia Plath den Serienmöder Norman Bates aus Hitchcocks "Psycho" ehelichen oder überblendet Böcklins Toteninsel (in der Illustration die fünfte Version, der Kahn ist nun ein Motorboot aus James-Bond-Filmen) mit Hitler und Breivik. Dieses kalte Überschneiden, das sich immer wieder ins Märchenhafte, Filmische öffnet, findet in den Collagen von Reimar Limmer ein geschwisterliches Gegenüber. Die Sprach- und die Bild-Technik, die Disparates zusammenbringen, sind selbst monströs, frech, witzig, andachtslos - und umwerfend frisch. Hier reiben sich, dass es manchmal weh tut, Empathie und Artistik.
Auch Krankheiten ("Morbus") und die Fegefeuer der Verführung ("Moden") haben ein Monster-Potential, das Gomringer kalkuliert ausschöpft und inszeniert. Zwischen Adipositas ("Nashi"), Lepra ("Unrein"), Tollwut ("Cave Canem") und Wahnsinn ("Haarmanns seltene Mädchen") stellt sie 27 menschennormale Ausnahmezustände vor, in einer bewundernswerten stilistischen Breite. Der "Herpeswalz" kommt im Dreivierteltakt, "Plumbum", die Depression, zeigt sich als lakonisches Sprachdunkel: "der schwarze Hund / das Kleid aus Blei / die Nacht im Gefieder". Im abschließenden Teil "Moden" feiert sie den knallroten Lippenstift ("Maybelline 306"), schlägt aus dem Zungenbrecher "Brautkleid bleibt Brautkleid und Blaukraut bleibt Blaukraut" den poetischen Funken für tuschelnde "Jungfern wie Baisers" oder "Pusteblumen".
Das Kranke, das Fragwürdige, das Monströse schlägt immer durch. Ungeheuerliche Taschen ("Clutch", "Poppins' tiefe Tasche") überfließen in fragwürdiger Fülle und verschlingen zugleich. Berührend ein Gedicht über eine frühe Begegnung mit der jüdischen Schriftstellerin Elfriede Gerstl in der Wiener Wohnung ihrer Verlegerin. "Mitten im Verzweifeln . . . traf ich Elfriede Gerstl. // Ich war so jung, dass mein Wort nicht von Bedeutung war." Nachtfaltergleich elegant erschien sie in der Küche "wie ein Traum aus Escadas großen Zeiten". Während die Verlegerin schnell sprach, sahen beide, die junge und die alte Dichterin, sich an. "Nie mehr hat eine nach ihr / mir auf die Stirn gesagt, dass ich lebenslang die Puppe gebe. / Das war die Masche dieser Dichterin."
Nora Gomringer: "Monster Morbus Moden".
Mit Illustrationen von Reimar Limmer. Verlag Voland & Quist, Dresden 2019. 176 S., geb., Abb., mit CD, 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"... die Gedichte aus den drei Teilen [verbinden sich] zu einer großen Forschungsreise durch die Ängste unserer Gegenwart ..." Ralf Julke, Leipziger Internet Zeitung "Wer das Buch aufschlägt, die Texte liest, die Bilder betrachtet und die Vertonungen auf der beigelegten CD hört, erlebt Lyrik, wie sie heute ist: modern, vielfältig, kreativ." Saskia Balser, Aviva "Das Buch ist ein kleines Gesamtkunstwerk [...] Wenn man liest, schaut und der Stimme der Autorin zuhört, kann der Band »Monster, Morbus, Moden« seine volle Stärke und Wirkung entfalten und seine Qualitäten ausspielen." Herbert Fuchs, literaturkritik.de