Zwei, die in den achtziger Jahren jung sind, stehen auf einer Lichtung in den Bergen von Tolfa nördlich von Rom. Horst hofft, hier im Herzen des Etruskerlands Artefakte auszugraben und sich mit dem Erlös die Freiheit zu erkaufen. Marius hat eine glänzende akademische Karriere vor sich und macht hier nur aus Lust am Spiel mit. Der Dritte im Bund, Alfred, ist an diesem heißen Augustmontag nur in einem Traum präsent, der aber für alle drei sehr reale Konsequenzen haben wird. So wie überhaupt jener Tag für sie und eine Reihe weiterer Protagonisten. Am Ende schließt sich der Kreis, auf dem sich die Geschichte durch die Monate eines Jahrs bewegt, an einem Mittwoch auf überraschende Art.Montag bis Mittwochführt an verschiedene Schauplätze, Rom, Zürich, eine kleine Stadt in Oberfranken, wobei Christina Viragh die Fäden menschlicher Beziehungen und Schicksale über Zeiten und Distanzen hinweg zu einem lebendigen Teppich verknüpft.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
In Christina Viraghs Roman begegnen uns die Figuren als "kleine Einpersonen-Start-ups", deren Leben offenbar einem "Businessplan" folgt, meint Rezensent Nils Kahlefendt. Da ist etwa Marius, der an seiner Dissertation schreibt, und Horst, ein Hippie, der ausgegrabene Artefakte vertickt: Der Roman spielt Anfang der Achtzigerjahre, die beiden Freunde treffen sich in den Bergen von Tolfa, resümiert der Kritiker. Die Handlung ohne Haupt- und Nebenschauplätze und das komplexe Figurengeflecht um die beiden Helden verlangen dem Leser einiges ab, räumt Kahlefendt ein. Viraghs Erzählton, der so scheint, als würde jede Szene gleichzeitig geschehen, beeindruckt ihn aber außerordentlich. Vor allem ist der Roman "ungeheuer sinnlich", meint der Rezensent: Die perfekte Lektüre für lange Herbst- und Winterabende.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.11.2023Weil jeder Atemzug zählt
Sinnlich und sezierend: Christina Viraghs Roman "Montag bis Mittwoch" folgt zwei Freunden und einem Hund durch die Zeiten.
Alles beginnt an einem Montag im August, Anfang der Achtzigerjahre des letzten Jahrhunderts, "alle noch am Leben" - und schon die ersten Halbsätze machen unmissverständlich klar, dass aus dieser Geschichte womöglich niemand unbeschadet herauskommen wird. Auf einer Lichtung in den Bergen von Tolfa, nordwestlich von Rom, begegnen wir einem vierblättrigen Kleeblatt. Da sind zunächst zwei Freunde, Anfang zwanzig: Marius, hochbegabter, aber etwas leichtsinniger Spross einer Schweizer Akademikerfamilie, arbeitet an der Gregoriana, der päpstlichen Universität, an seiner Dissertation über den "verborgenen Gott". Horst, der sich von den Italienern, der flüssigeren Aussprache wegen, gern Oreste nennen lässt, ist ein Hippie, wie er im Buche steht: sehr blond, notorisch klamm und unglücklich in Liebesdingen; er verkauft in römischen Bars Gras und gräbt hier, im alten Etruskerland, verbotenerweise nach "Verscherbelbarem" - nach Urnen, Dolchen, Fibeln. Zu diesen beiden gesellen sich, vorerst nur als Traumfigur anwesend, der Litauer Alfred Turidis - und Vel, ein verwilderter Hund.
In raffinierten Zeitsprüngen, die dem Leser einiges an Konzentration abverlangen, weitet sich die Geschichte. Sie greift nach Rom, Zürich und Oberfranken aus, wobei es keine Haupt- und Nebenschauplätze zu geben scheint; alles geschieht, während es Herbst, Winter und wieder Frühjahr wird, gleichzeitig. Nach und nach gruppiert sich ein ganzes Figurengeflecht um die Protagonisten, wobei es in Viraghs Prosa wie in einem Bienenstock zugeht: Zu Erzähl- und Figurenstimmen kommt, kursiv gesetzt, bald ein veritabler Bonsai-Briefroman - in den Schreiben, die Marius mit seiner Verlobten Margrit, einer Jurastudentin aus besten Zürcher Kreisen, wechselt, wird eine glänzende Zukunft imaginiert, Stanford-Professur und zwei Töchter inklusive: "Wir werden als Familie ein großer Erfolg sein."
Wir Leser wissen, warum der Ton bald kühler wird. Marius beginnt in Rom eine Affäre nach der anderen, selbst Horsts verflossene Liebe Maddalena ist nicht vor seinen Nachstellungen sicher. Auch der Tollpatsch Horst, der vor seiner Familie wegläuft, weil die ihn mit der tumb-träumerischen Ellie verheiraten will, versucht zu schreiben. Role model ist leider seine Tante Viktoria Lamm, eine Autorin flacher, aber enorm erfolgreicher Bestseller mit Titeln wie "Der verlorene Dolch" - und immer gut für Lebensweisheiten à la "Echte Liebe ist emotionslos".
Die ungarisch-schweizerische Schriftstellerin und Übersetzerin Christina Viragh, die 2012 für die Übersetzung der "Parallelgeschichten" von Péter Nádas den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt und 2019 mit ihrem Roman "Eine dieser Nächte" den Schweizer Buchpreis gewann, ist Spezialistin für die Komposition von Erinnerungsvorgängen. Ihr konsequent realistisches Schreiben erfasst auch das, was scheinbar neben oder hinter der Geschichte herläuft, egal, ob es eine singende Amsel ist oder der zottelige Vierbeiner Vel, der zur Lichtung zurückkehrt, um ein Stück Panino zu erwischen. Dabei gräbt sich Viragh auch tief in die Zeitdimension: Wer gedankenlos in alten Etruskergräbern herumstochert, darf sich nicht wundern, wenn ihm plötzlich ein Phersu, ein etruskischer Totendämon, ins Gewissen redet: "Wenn ihr wüsstet, wie lange wir tot sind und wie kurz das Leben ist, wärt ihr einfach nur glücklich, glücklich über jeden Atemzug, jeden."
Viragh ist ziemlich nah am Heute, wenn sie über junge Menschen und deren irrwitzig hohe Ansprüche schreibt; kleine Einpersonen-Start-ups, die sich nicht den kleinsten Webfehler im Businessplan des Lebens verzeihen. Ellie hofft auf die Hochzeit mit Horst und tagträumt sich als "Journalistin des Jahres"; Horst, unterwegs zum Bestseller, muss häufiger als ihm lieb ist "extrapolieren", auch so ein running gag des Buchs. Marius weiß, dass seine Schwester Julia am Krebs sterben, dass Margrit, von einem Zufallsliebhaber schwanger, ihr Kind abtreiben wird. Und tut: nichts. "Wir weinen immer um uns selbst" könnte leitmotivisch über aller Leben stehen.
Enden wird das Buch, was das Schwere federleicht hext, mit einem kühnen Twist schließlich da, wo es begann: in den Bergen von Tolfa, an einem Augustmittwoch, jetzt allerdings Anfang der Zwanzigerjahre des 21. Jahrhunderts. Ein heftiger Zeitsprung also, und die Männer, denen wir jetzt begegnen, sind kahlköpfig und mit Knieproblemen geschlagen; mehr darf nicht verraten werden.
Bei alldem schreibt Viragh ungeheuer sinnlich. Wer lange dunkle Herbst- und Winterabende hinter sich lassen will, kann - Lektüre verleiht Flügel! - das sommerliche Sägen der Zikaden hören. Flughafer, Rispengras, Ehrenpreis, Schafgarbe und Wegerich duften wie eine Kreation von Lagerfeld; jeder Tag endet in einer römischen Bar mit Ventilator und grattachecca, Sirup auf geschabtem Eis.
Mit Christina Viragh können wir die ganze Spannweite zwischen Mikro- und Makrokosmos ausmessen: Womöglich sieht man diesen Marius dann vom Mond aus, "wie er auf dem blauen Planeten auf seiner sich allmählich der Sonne zuneigenden Nordhalbkugel in Bianconis Laden zur Pizzaschnitte ein Bier aus dem Kühler holt". NILS KAHLEFENDT
Christina Viragh:
"Montag bis Mittwoch". Roman.
Dörlemann Verlag, Zürich 2023. 414 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sinnlich und sezierend: Christina Viraghs Roman "Montag bis Mittwoch" folgt zwei Freunden und einem Hund durch die Zeiten.
Alles beginnt an einem Montag im August, Anfang der Achtzigerjahre des letzten Jahrhunderts, "alle noch am Leben" - und schon die ersten Halbsätze machen unmissverständlich klar, dass aus dieser Geschichte womöglich niemand unbeschadet herauskommen wird. Auf einer Lichtung in den Bergen von Tolfa, nordwestlich von Rom, begegnen wir einem vierblättrigen Kleeblatt. Da sind zunächst zwei Freunde, Anfang zwanzig: Marius, hochbegabter, aber etwas leichtsinniger Spross einer Schweizer Akademikerfamilie, arbeitet an der Gregoriana, der päpstlichen Universität, an seiner Dissertation über den "verborgenen Gott". Horst, der sich von den Italienern, der flüssigeren Aussprache wegen, gern Oreste nennen lässt, ist ein Hippie, wie er im Buche steht: sehr blond, notorisch klamm und unglücklich in Liebesdingen; er verkauft in römischen Bars Gras und gräbt hier, im alten Etruskerland, verbotenerweise nach "Verscherbelbarem" - nach Urnen, Dolchen, Fibeln. Zu diesen beiden gesellen sich, vorerst nur als Traumfigur anwesend, der Litauer Alfred Turidis - und Vel, ein verwilderter Hund.
In raffinierten Zeitsprüngen, die dem Leser einiges an Konzentration abverlangen, weitet sich die Geschichte. Sie greift nach Rom, Zürich und Oberfranken aus, wobei es keine Haupt- und Nebenschauplätze zu geben scheint; alles geschieht, während es Herbst, Winter und wieder Frühjahr wird, gleichzeitig. Nach und nach gruppiert sich ein ganzes Figurengeflecht um die Protagonisten, wobei es in Viraghs Prosa wie in einem Bienenstock zugeht: Zu Erzähl- und Figurenstimmen kommt, kursiv gesetzt, bald ein veritabler Bonsai-Briefroman - in den Schreiben, die Marius mit seiner Verlobten Margrit, einer Jurastudentin aus besten Zürcher Kreisen, wechselt, wird eine glänzende Zukunft imaginiert, Stanford-Professur und zwei Töchter inklusive: "Wir werden als Familie ein großer Erfolg sein."
Wir Leser wissen, warum der Ton bald kühler wird. Marius beginnt in Rom eine Affäre nach der anderen, selbst Horsts verflossene Liebe Maddalena ist nicht vor seinen Nachstellungen sicher. Auch der Tollpatsch Horst, der vor seiner Familie wegläuft, weil die ihn mit der tumb-träumerischen Ellie verheiraten will, versucht zu schreiben. Role model ist leider seine Tante Viktoria Lamm, eine Autorin flacher, aber enorm erfolgreicher Bestseller mit Titeln wie "Der verlorene Dolch" - und immer gut für Lebensweisheiten à la "Echte Liebe ist emotionslos".
Die ungarisch-schweizerische Schriftstellerin und Übersetzerin Christina Viragh, die 2012 für die Übersetzung der "Parallelgeschichten" von Péter Nádas den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt und 2019 mit ihrem Roman "Eine dieser Nächte" den Schweizer Buchpreis gewann, ist Spezialistin für die Komposition von Erinnerungsvorgängen. Ihr konsequent realistisches Schreiben erfasst auch das, was scheinbar neben oder hinter der Geschichte herläuft, egal, ob es eine singende Amsel ist oder der zottelige Vierbeiner Vel, der zur Lichtung zurückkehrt, um ein Stück Panino zu erwischen. Dabei gräbt sich Viragh auch tief in die Zeitdimension: Wer gedankenlos in alten Etruskergräbern herumstochert, darf sich nicht wundern, wenn ihm plötzlich ein Phersu, ein etruskischer Totendämon, ins Gewissen redet: "Wenn ihr wüsstet, wie lange wir tot sind und wie kurz das Leben ist, wärt ihr einfach nur glücklich, glücklich über jeden Atemzug, jeden."
Viragh ist ziemlich nah am Heute, wenn sie über junge Menschen und deren irrwitzig hohe Ansprüche schreibt; kleine Einpersonen-Start-ups, die sich nicht den kleinsten Webfehler im Businessplan des Lebens verzeihen. Ellie hofft auf die Hochzeit mit Horst und tagträumt sich als "Journalistin des Jahres"; Horst, unterwegs zum Bestseller, muss häufiger als ihm lieb ist "extrapolieren", auch so ein running gag des Buchs. Marius weiß, dass seine Schwester Julia am Krebs sterben, dass Margrit, von einem Zufallsliebhaber schwanger, ihr Kind abtreiben wird. Und tut: nichts. "Wir weinen immer um uns selbst" könnte leitmotivisch über aller Leben stehen.
Enden wird das Buch, was das Schwere federleicht hext, mit einem kühnen Twist schließlich da, wo es begann: in den Bergen von Tolfa, an einem Augustmittwoch, jetzt allerdings Anfang der Zwanzigerjahre des 21. Jahrhunderts. Ein heftiger Zeitsprung also, und die Männer, denen wir jetzt begegnen, sind kahlköpfig und mit Knieproblemen geschlagen; mehr darf nicht verraten werden.
Bei alldem schreibt Viragh ungeheuer sinnlich. Wer lange dunkle Herbst- und Winterabende hinter sich lassen will, kann - Lektüre verleiht Flügel! - das sommerliche Sägen der Zikaden hören. Flughafer, Rispengras, Ehrenpreis, Schafgarbe und Wegerich duften wie eine Kreation von Lagerfeld; jeder Tag endet in einer römischen Bar mit Ventilator und grattachecca, Sirup auf geschabtem Eis.
Mit Christina Viragh können wir die ganze Spannweite zwischen Mikro- und Makrokosmos ausmessen: Womöglich sieht man diesen Marius dann vom Mond aus, "wie er auf dem blauen Planeten auf seiner sich allmählich der Sonne zuneigenden Nordhalbkugel in Bianconis Laden zur Pizzaschnitte ein Bier aus dem Kühler holt". NILS KAHLEFENDT
Christina Viragh:
"Montag bis Mittwoch". Roman.
Dörlemann Verlag, Zürich 2023. 414 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Ein fulminantes Epos zwischen Komik und Tragik, voller Erzählungen, die einen allmählich mitreißen wie Treibsand (wovon eine Story handelt).«
Julian Schütt, 52 Beste Bücher, Radio SRF2
»Christina Viragh führt in ihrem neuen Roman Eine dieser Nächte vor, wie Erzählen die Zuhörer aktiviert und Gemeinschaft schafft ... Ein kunstvolles Geflecht.«
Martin Ebel, Süddeutsche Zeitung
»Im Frühling sind mit Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt von Peter Stamm und Eine dieser Nächte von Christina Viragh zwei starke Kandidaten erschienen, an denen eigentlich keine kundige Jury vorbeigehen kann.«
Martin Ebel, Tages-Anzeiger
»Christina Viragh hat einen komplexen, beeindruckenden Roman geschrieben, der von der Schwierigkeit, Zusammenhänge herzustellen, handelt und gleichzeitig alles andere als zusammenhanglos ist.«
Rainer Moritz, Neue Zürcher Zeitung
»Buch: super, Geschichte: super, Ende: super ... Absolut empfehlenswert. Christina Viragh hat einen Platz zwischen den Großen verdient.«
Onlineradio Feuilletöne
Julian Schütt, 52 Beste Bücher, Radio SRF2
»Christina Viragh führt in ihrem neuen Roman Eine dieser Nächte vor, wie Erzählen die Zuhörer aktiviert und Gemeinschaft schafft ... Ein kunstvolles Geflecht.«
Martin Ebel, Süddeutsche Zeitung
»Im Frühling sind mit Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt von Peter Stamm und Eine dieser Nächte von Christina Viragh zwei starke Kandidaten erschienen, an denen eigentlich keine kundige Jury vorbeigehen kann.«
Martin Ebel, Tages-Anzeiger
»Christina Viragh hat einen komplexen, beeindruckenden Roman geschrieben, der von der Schwierigkeit, Zusammenhänge herzustellen, handelt und gleichzeitig alles andere als zusammenhanglos ist.«
Rainer Moritz, Neue Zürcher Zeitung
»Buch: super, Geschichte: super, Ende: super ... Absolut empfehlenswert. Christina Viragh hat einen Platz zwischen den Großen verdient.«
Onlineradio Feuilletöne